Wer sollte den nächsten Nobel-Friedenspreis bekommen?
Gewiß, die Anmeldefrist für den Laureaten, dessen Name am 10. Oktober verkündet wird, ist schon vorbei, und ich bin nicht einmal vorschlagsberechtigt. Immerhin, ich hätte gleich zwei Kandidaten
Wer sollte den nächsten Nobel-Friedenspreis bekommen? Gewiß, die Anmelde-frist für den Laureaten, dessen Name am 10. Oktober verkündet wird, ist schon vorbei, und ich bin nicht einmal vorschlagsberechtigt. Immerhin, ich hätte gleich zwei Kandidaten in petto, beides Frauen.
Die eine, die Inderin Arundhati Roy, ist bereits in OSSIETZKY 5/2000 vorge-stellt worden. Mit ihrem Bestseller "Der Gott der kleinen Dinge" hat sie etliche Tabus gebrochen. Für dieses erregend filigrane Buch kommt sie vielleicht in 20 Jahren auf die Liste des Stockholmer Literaturpreises. Mindestens ebenso viele Chancen sollte sie beim Osloer Friedenspreis haben, denn sie brachte - was kei-nem der abendländischen Wortgewaltigen in den letzten 20 Jahren gelang - nach Zündung der indischen Atombombe mit einem scharfen Essay im Zolaschen "JÂ’accuse"-Gestus Bewegung in die nationalistisch erstarrten südasiatischen Ge-sellschaften. Kraftvoll verdammte sie den nuklearen Wahn der Politiker in Neu Delhi und die Heuchelei der westlichen Atommächte.
In jüngster Zeit stellte sich Arundhati Roy - wie jetzt in ihrem neuen Band "Das Ende der Illusion" (Blessing-Verlag) nachzulesen - an die Seite der Akti-visten der "Rettet die Narmada"-Bewegung, die die Vernichtung der Lebens-grundlagen hunderttausender Bauern, Fischer und Adivasi (Ureinwohner) im Tal des mittelindischen Narmada-Flusses verhindern wollen. Den Elfenbeinturm hat sie endgültig verlassen, seit sie Solidaritätsmärsche in das Konfliktgebiet anführ-te, wo auch Siemens und die HypoVereinsbank auf Profit aus sind. Für Frau Roy sind auch Megastaudämme Massenvernichtungswaffen. Für die Intellektuellen dieser Welt, die angesichts der Globalisierung gelähmt dasitzen, könnte ein Os-loer Friedenspreis für die streitbare Inderin ein Signal setzen.
Während Arundhati Roy auch hierzulande schon eine gewisse Bekanntheit er-langt hat, kann man dies von Annika Spalde bisher nicht behaupten. Die 34jährige schwedische Krankenschwester - auf Fotos wirkt sie ebenso wie Arundhati Roy klein und zerbrechlich - ist eine der Aktivistinnen der internatio-nalen Pflugscharbewegung, die sich derzeit vor allem gegen Trident, das wohl gefährlichste Kernwaffensystem, richtet. Trident, das sind global operierende US-amerikanische und britische Atom-U-Boote, die mit bis zu 24 gleichnamigen Atomraketen bestückt sind, die wiederum jeweils bis zu 192 Kernsprengköpfe tragen können.
Entstanden ist die Pflugscharbewegung - initiiert von dem heute 76jährigen Vietnamkriegsgegner Phil Berrigan - Anfang der 80er Jahre in den USA. Die erste Aktion fand am 9. September 1980 statt, als die "Plougshares Eight" in ei-ne General Electric-Fabrik für die Herstellung von Kernsprengköpfen eindran-gen und mit gewöhnlichen Hämmern einige Sprengköpfe symbolisch "abrüste-ten". Wie ihre Gleichgesinnten bei allen nachfolgenden Aktionen warteten sie sodann geduldig auf die Polizei, ließen sich abführen, absolvierten einen Prozeß und verbüßten schließlich ziemlich hohe Haftstrafen. Bisher haben rund 70 Pflugscharaktionen in Australien, Deutschland, den Niederlanden, Schweden, Großbritannien und den USA stattgefunden. In Deutschland vor allem Anfang der 80er Jahre gegen die Stationierung der US-amerikanischen Mittelstreckenra-keten in Mutlangen und anderswo. Als "Väter" des schwedischen Zweigs der Pflugscharbewegung gelten Per Hernegren und Stellan Vinthagen. Hernegren, der in einer Göteborger Vorstadt lebende Soziologe und Publizist, war der erste Schwede, der sich 1984 mit einer Aktion gegen Atomwaffensilos in den USA einreihte. Verurteilt zu acht Jahren Gefängnis, wurde er nach eineinhalb Jahren Richtung Skandinavien abgeschoben. Vinthagen, Doktorand am Institut für Friedens- und Entwicklungsforschung in Göteborg, war erstmals 1983 in Mut-langen dabei.
Annika Spalde wurde über die Grenzen Schwedens hinaus bekannt, als sie im September 1998 gemeinsam mit Ann-Britt Sternfeldt und Stellan Vinthagen - die drei bilden die Pflugschargruppe "Brot statt Bomben" - in die britische Ma-rinewerft Barrow eindrang und dort ebenso symbolisch eines der inzwischen vier britischen Trident-U-Boote "abrüstete". Die Drei hatten Tee und Kakao bei sich, um die Wachleute zu begrüßen, und Brot, um zu zeigen, was die Welt an-stelle von Kernwaffen braucht. Wie üblich ließen sie sich geduldig abführen und ergriffen nach mehrmonatiger Haft im Prozeß die Chance, vor einem größeren Publikum ihre Anti-Kernwaffen-Philosophie auszubreiten. "Mir wurde klar", er-läuterte Annika Spalde dem Preston Crown Court, "daß die nukleare Gefahr nicht mit dem Ende des Kalten Krieges vorbei ist, sondern daß sogar neue Arten von Kernwaffen entwickelt werden und daß die Kernwaffenstaaten, darunter Großbritannien, diese Waffen nicht aufgeben werden." Auf die Frage, warum sie ihre Gruppe "Brot statt Bomben" nannte, sagte sie: "Weil wir besorgt darüber sind, daß die Kernwaffen heute hauptsächlich gegen die armen Länder gerichtet sind, und weil sie helfen, eine Weltordnung zu festigen, in der die armen Länder immer ärmer und die reichen immer reicher werden. Also weil es ein Verbre-chen ist, riesige Beträge für Massenvernichtungswaffen auszugeben in einer Welt, in der jeden Tag 30 000 Kinder verhungern." Annika Spalde kennt die Dritte Welt recht genau, mehrere Jahre hat sie in Paraguay gelebt und karitative Arbeit geleistet.
Die Richter zeigten dennoch kein Verständnis dafür, daß die Pflugscharakti-visten "zerstören müssen, um nukleare Abrüstung zu erreichen". Annika darauf: "Die meisten Menschen in der Welt und in Britannien wollen keine Kernwaffen. Aber das scheint ein Gebiet zu sein, auf dem unsere Demokratie nicht funktio-niert." In den vergangenen Jahren habe die Friedensbewegung mit jeder nur möglichen friedlichen Methode versucht, gegen Kernwaffen vorzugehen. Sie habe zum Beispiel zusammen mit anderen den Internationalen Gerichtshof in Den Haag dazu veranlaßt, den Status von Kernwaffen (nicht nur deren Einsatz, sondern auch die Herstellung und Lagerung) zu beurteilen - mit dem Ergebnis, daß sie für völkerrechtswidrig erklärt wurden. Aber die Kernwaffenstaaten hät-ten diese Entscheidung ignoriert. "In dieser Situation hatten wir einfachen Men-schen die Verantwortung, diese Waffen abzurüsten. Und nach englischem Recht darf man in Maßen Gewalt anwenden, um Verbrechen zu verhindern."
Die Verwirrung unter den Richtern war so groß, daß sie sich zunächst nicht auf eine Verurteilung einigen konnten. Erst in einem zweiten Verfahren wurden die Drei am 21. Oktober 1999 der "Konspiration zur kriminellen Verschwörung" schuldig befunden. Da sie schon sechs Monate Haft hinter sich hatten, wurden sie sogleich freigelassen. Und am gleichen Tag diese Sensation: Das schottische Amtsgericht Grennock entschied unter Vorsitz der Richterin Margaret Gimblett in einem ähnlichen Verfahren gegen mehrere britische Pflugschar-Aktivistinnen, die Angeklagten hätten im Sinne des Haager Urteils gehandelt und das Recht zur Abwendung einer großen Gefahr auf ihrer Seite gehabt. Sie wurden freigespro-chen (s. OSSIETZKY 1/2000: "Vier Frauen versenken eine Flotte") - eine große Ermutigung für Annika und ihre Mitstreiter.
Inzwischen hat Annika Spalde ihr Aktionsfeld auf die USA ausgedehnt. Nachdem die beiden US-amerikanischen Pflugschärler Bonnie Urfer und Mi-chael Strong von der Gruppe "Silence Trident" am 24. Juni mit Sägen dem ge-heimen Kommunikationssystem Extreme Low Frequency (ELF) für die Trident-U-Boote am Clam Lake im Bundessstaat Wisconsin zu Leibe gerückt waren - sie brachten drei Antennenmasten zu Fall und unterbrachen damit für einige Zeit die Verbindung zu den getauchten Trident -, setzte die Schwedin zusammen mit der Amerikanerin Kate Berrigan nach. Sie drangen mit einer Anklageschrift, in der sie das Trident-ELF-System ungeschminkt als Verbrechen gegen die Menschlichkeit qualifizierten, in die Anlage ein und wurden ebenso wie zuvor Urfer und Strong von der Ashland County Polizei hinter Gitter gebracht. Wäh-rend die beiden unmittelbaren Abrüster weiter sitzen, wurden Spalde und Berri-gan nach einem Tag freigelassen - mußten sich aber am 1. August wegen "uner-laubten Eindringens" vor Gericht verantworten.
Annika Spalde hat ohnehin in den USA zu tun, sie ist dort gerade für einige Wochen karitativ in einem kirchlichen Obdachlosenasyl tätig. Obwohl die USA-Gerichte weit härter als britische oder gar schwedische Behörden gegen Pflug-schärler vorgehen, hegte sie die Hoffnung, zusammen mit ihren amerikanischen Mitstreitern aufklärend wirken zu können. Denn auch in Wisconsin hatte die Vernunft schon einmal eine Bresche in die betonköpfige Verteidigung der Kernwaffen geschlagen. Wie die Jury im schottischen Grennock erkannte 1996 die Jury von Ashland County in einem ähnlichen Fall - Pflugschraktivisten hat-ten damals ebenfalls Antennenmasten abgesägt - auf Freispruch. Experten hat-ten in einer Anhörung überzeugend nachgewiesen, daß das ELF-Trident-System ausschließlich für nukleare Erstschläge gedacht ist, also keinen Verteidigungs-zweck erfüllt.
In dem Verfahren am 1. August konnte Annika Spalde ausführlich ihre Be-gründung für die Aktion gegen das Tridentsystem vortragen. Wohl um interna-tionales Aufsehen zu vermeiden, schöpfte der Richter von Ashland County das mögliche Strafmaß - bis zu zwei Monate Haft - nicht aus und verurteilte sie zu einer Geldstrafe. Die Schwedin weigerte sich zu zahlen. Auch die Drohung, sie 60 Tage hinter Gitter zu bringen, konnte sie nicht umstimmen. Resigniert ließ der Richter laut einem Bericht der Stockholmer Zeitung Expressen durchblik-ken: "Wir werden Sie nicht jagen". Die nächste Nachricht über Annika Spalde wird vermutlich wieder aus einer der Marinebasen in Schottland kommen. Sie ist nämlich die Verantwortliche des schwedischen Teils der gegen die britischen Kernwaffen-U-Boote gerichteten Kampagne "Trident zu Pflugscharen".
Anders als die deutschen Gegner der Atomwaffen oder des Kriegs gegen Ju-goslawien werden Annika Spalde und ihre Freunde in Schweden weithin mit Hochachtung behandelt. Annika hat mehrfach Vorträge über ihren Kampf gehal-ten, darunter vor Gymnasiallehrern, einer Sozialhochschule und Gesundheits-verwaltungen.
Friedensnobelpreise für Arundhati Roy und Annika Spalde? Beide haben be-reits mancherlei Anerkennung gefunden. Arundhati erhielt für ihren Romanerst-ling den renommierten Londoner Booker-Preis, den Betrag stiftete sie sogleich der Narmada-Bewegung. Auch Annika ist nicht ohne Auszeichnung geblieben. Sie erhielt zusammen mit Ann-Britt, Stellan und einer weiteren Pflugschargrup-pe den Ickevaldspris (Preis für Gewaltfreiheit) der schwedischen Friedensorga-nisation Kristna Freds und den Friedenspreis von Grön Ungdom (Grüne Ju-gend). Weltweite Wirkung aber hätte es, wenn beide gemeinsam - eine Anti-Kernwaffen-Streiterin aus dem Süden und eine aus dem Norden - zu gleichen Teilen mit dem Friedensnobelpreis geehrt würden.
OSSIETZKY; unter Mitarbeit von Daniela Dahn, Dietrich Kittner und Peter Turrini herausgegeben von Rolf Gössner, Arno Klönne, Otto Köhler, Rein-hard Kühnl und Eckart Spoo, kommt alle zwei Wochen aus dem Haus der Demokratie und Menschenrechte, Berlin. Einzelheft 4.50 Mark, Jahresabo (25 Hefte) 100 Mark. OSSIETZKY_Abo-Service: Vordere Schöneworth 21, 30167 Hannover, Fon 0511-702526, Fax 0511-704483, e-mail inter-druck.berger@t-online.de