Allenthalben wird geradezu phrasenhaft von den diversen Umbrüchen gesprochen, die unsere moderne Gesellschaft herausfordern. Gemeint sind sowohl wirtschaftliche, kulturelle als auch geostrategische Bezugsebenen. Hier gelte es, koste es, was es wolle, mitzuhalten, sich anzupassen und vor allem stets nach vorn zu schauen. Reflektierende Nachdenklichkeit wird wenig geschätzt, wenn nicht gleich als rückständig denunziert. Apologet, weil Nutznießer der neuen gesellschaftlichen Verhältnisse, ist jene mobile „neue Mittelschicht“, von der der Soziologe Andreas Reckwitz in seiner Gesellschaftsanalyse spricht und die mehr und mehr Macht und damit Deutungshoheit der eher bodenständigen „alten Mittelschicht“ entreißt. Besonders deutlich wird hierzulande der Dominanzwechsel in den sich selbst als solche verstehenden Leitmedien. Beharrlich werden hier die als modern geltenden ökonomischen, kulturellen und geostrategischen Tendenzen präferiert. Die Darstellung unterschiedlicher Positionen, aus denen sich der Rezipient eine eigene Meinung bilden kann, ist dabei zugunsten des Repetierens immer wieder gleicher Sichtweisen weitgehend aufgegeben worden.
Die fast achtzigjährige Monika Maron verortet ihre aktuelle Erzählung „Artur Lanz“ genau in jenem sich an dieser Stelle auftuenden Vakuum des Denkens. Sie benutzt dabei die Romanform. Damit hat sie ein Vehikel aus der Garage geholt, das schon zu DDR-Zeiten geholfen hat, Themen, die die Publizistik nicht gern wahrnahm, an die Öffentlichkeit zu bringen.
Die sich in einem ähnlichen Alter wie die Autorin befindliche Ich-Erzählerin Charlotte Winter ist eine ziemlich entspannte Frau, die angesichts offensichtlicher Altersweisheit nicht polemisch eifert, sondern in erster Linie Fragen stellt. Was wird aufgegeben, um dem Neuen gerecht zu werden? Handelt es sich hierbei um Elemente, die dem Gang der Zeit natürlichen Tribut zollen müssen, oder stehen eventuell gar zentrale Grundkonstruktionen für eine demokratisch organisierte Zivilgesellschaft zur Debatte? Dabei sind nicht nur die Worte der Frau von Bedeutung, sondern ihre ganze Persönlichkeit erscheint als eine Art Widerhaken, der nicht nur am glatten Zeitgeist reißt, sondern ebenso am Kokon des selbstgefälligen Einverständnisses einer Bürgergesellschaft, die in saturierter Belanglosigkeit aus den zentralen Diskursen der Gegenwart längst ausgestiegen ist. Charlotte Winter provoziert bereits dann, wenn sie sich etwa unverdrossen den klassischen Ritualen einer Tabakkultur hingibt, die inzwischen ohne irgendeinen Anflug von Zweifel von der zunehmend an klinischer Sauberkeit von Chipfabriken orientierten Öffentlichkeit deutlich negativ stigmatisiert wird.
Charlotte Winter trifft innerhalb der leichtfüßigen Erzählung auf den sich in einer Lebenskrise befindlichen fünfzigjährigen Artur Lanz, der zum unmittelbaren Adressaten ihrer Fragen wird. Ausgangspunkt für ein zunehmend tiefer gehendes Gespräch ist die Verwunderung des Mannes über sich selbst, weil er in ungewohnter Weise für einen Moment über sich hinausgewachsen war, als er selbstlos seinen Hund aus einer lebensbedrohlichen Situation gerettet hatte. War das ein heldenhaftes Verhalten? Immerhin entspräche das der Vision seiner Mutter, als diese den Vornamen ihres Sohnes von König Artus entlehnte. Artur und Lancelot in einem, das sollte dem Sprössling gegeben sein. Doch wie sollte der Heranwachsende mit solcher Bürde in einer Zeit umgehen, in der alles Heldische parallel zur Dekonstruktion des klassischen Bildes vom Manne mehr und mehr in Misskredit geriet?
Während Charlotte Winter über Literaturrecherchen und Gespräche sowohl das historische Heldenmotiv als auch Konsequenzen einer postheldischen Gesellschaft hinterfragt, sucht Artur Lanz seine neue Heldenidentität unter anderem durch das Erlernen der israelischen Selbstverteidigungssportart Krav Maga zu unterfüttern. Beide kommen zu der Erkenntnis, dass es nicht das Kriegerische sein kann, worüber die Brücke von den Heldensagen in unsere Zeit geschlagen werden kann. Wohl aber das, was mit Ehre, Ritterlichkeit und solidarischer Freundschaft zu tun hat. Ein entsprechender Beleg soll sich bald im Leben von Artur Lanz finden lassen. Sein Freund und Kollege Gerald Hauschildt, mit dem er in einem Institut arbeitet, das sich mit der Verfeinerung von Rotorblättern für Windkraftanlagen beschäftigt, gerät dort in einen Shitstorm. Über Facebook hatte er seinen Zweifel zum Ausdruck gebracht, dass Windkraftanlagen in angestrebter Absolutheit das deutsche Energieproblem lösen könnten. (Mitnichten ist er als „Klimawandelskeptiker“ aufgetreten, wie zahlreiche Rezensenten des Buches absichtsvoll unterstellen.) Das stoische Orientieren auf solche Techniken unter Ausblendung von jeglichen ingenieurtechnischen Einwänden und hinsichtlich der völligen Ignoranz gegenüber großflächiger Landschaftszerstörung lässt Hauschildt vor dem Marsch in ein „grünes Reich“ warnen. Angeführt durch eine Kollegin, die in der Gewissheit, sie stehe voll und ganz auf der Seite des Guten, keinerlei Toleranz gegenüber Andersdenkenden zeigt, wird ein Tribunal mit dem Ziel, Hauschildt aus dem Institut zu verbannen, angezettelt.
Jedem, der solcherlei Rituale noch aus DDR-Zeiten kennt – Es gelten keinerlei Argumente, sondern allein die pauschalisierende Frage: dafür oder dagegen – dem läuft beim Lesen ein kalter Schauer über den Rücken. Und für die, denen der historische Vergleich hinsichtlich solcher inquisitorischen Sitzungen fehlt, „wie sie aussahen, die Schweigenden oder Eifrigen, die Ängstlichen und die Ehrgeizigen“ und vor allem die ohnmächtigen Opfer, für die macht das Entsprechende Monika Maron über Charlotte Winters Freundin Lady deutlich. Diese hatte sich einst an der sozialistischen Humboldt-Universität als einzige für eine Kommilitonin eingesetzt, die in einem ähnlichen Tribunal wegen des öffentlichen Abspielens von Biermann-Liedern ausgestoßen werden sollte. Artur Lanz begreift, was ihm die erfahrene Frau und deren Freundin sagen wollen. Er beweist Heldentum im Alltag und steht seinem Freund bei. Nicht weil er dessen Thesen in jeglicher Hinsicht teilt, sondern weil er versteht, welch zerstörerisches Potenzial totalitäres Denken und Handeln sowohl für den Einzelnen als auch für ein demokratisches Gemeinwesen hat.
An die Kraft des Letzteren glaubt entgegen mancher Kritikermeinung Monika Maron offenbar ziemlich fest. Sie lässt ihre Helden nicht in irgendeinem Bergwerk verschwinden, sondern sie finden eine neue Aufgabe im europäischen Kernforschungsinstitut CERN in der Nähe von Genf.
Monika Maron: Artur Lanz, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2020, 220 Seiten, 20,00 Euro.