»ver.di? Brauchen wir nicht…«

Ein Gespräch mit Katharina Wesenick über Amazon

Rund ein Jahr nach den Skandalen um Leiharbeit und rechtsradikale Schlägertrupps, die im Auftrag von Amazon die Beschäftigten kontrolliert und schikaniert hatten, und rund ein halbes Jahr nach den letzten, Erfolg versprechenden Berichten über den Kampf um einen Tarifvertrag und entsprechende Organisierungsbemühungen beim weltgrößten Online-Versandhändler (s. express, Nr. 7-8/2013) scheint es ruhig geworden zu sein. Grund genug, bei Katharina Wesenick nachzufragen, wie es weiter gegangen ist. Sie ist  beim ver.di-Bundesvorstand nicht nur für die Betreuung von Edeka, sondern auch von Amazon zuständig.

 

Die ver.di-Aktionen rund um Amazon haben im Laufe des letzten Jahres für großes Aufsehen gesorgt. In weiten Teilen der Berichterstattung wurden die Aktionen und Forderungen mit Sympathie aufgenommen, während der Konzern den Eindruck vermittelte, den Konflikt aussitzen zu wollen. Zuletzt stieß die Ankündigung, das Weihnachtsgeschäft mit Streiks empfindlich zu beeinträchtigen, auf großes Interesse. Wie beurteilst Du die Wirksamkeit der Aktionen rund um die Feiertage? Hat Amazon seitdem ein Entgegenkommen gezeigt?

 

KW: Die Streiks in der Vorweihnachtszeit haben ein großes Echo erzeugt, erstmals ist ein dritter Standort, nämlich Graben in Bayern, in den Streik getreten, parallel flogen ver.di-Delegierte aus Bad Hersfeld und ein ver.di-Organizer nach Seattle zu der Welt-Firmenzentrale, um gemeinsam mit US-amerikanischen Schwestergewerkschaften das Unternehmen zu Verhandlungen aufzufordern. Dennoch weigert sich Amazon nach wie vor, mit ver.di ins Gespräch über einen Tarifvertrag zu kommen. Doch wir halten an unserer Forderung fest, da wir die Tarifbindung für unverzichtbar halten.

 

ver.di hat Amazon zum Schwerpunktunternehmen einer Organizing-Kampagne im Handel gemacht. Angesichts der vielen weißen Flecken im Handel würden uns die Gründe interessieren: Hat dies mit der für US-Konzerne typischen Tradition bzw. Politik des Union Busting zu tun, und gehst Du davon aus, dass die Strategie, Arbeits- und Entlohnungsbedingungen ohne Beteiligung von Gewerkschaften zu gestalten, nach Deutschland exportiert werden soll? Oder geht es eher um den wachsenden Einfluss der Online-Versandhändler auf die Arbeits- und Entlohnungsbedingungen in der Einzelhandelsbranche insgesamt? Welche Trends seht Ihr hier, und was begründet eine Schwerpunktkampagne mit bundesweiter Betreuung bei Amazon?

 

KW: Sowohl die anti-gewerkschaftliche Haltung Amazons als auch die Auswirkungen von Amazons Geschäftsmodells auf den gesamten Einzel-, Online- und Versandhandel sprechen eine deutliche Sprache. Es gilt, gemeinsam mit den Beschäftigten Standards für existenzsichernde und gesundheitserhaltende Arbeitsbedingungen zu setzen. Für uns ist es wichtig, dass Beschäftigte die Sicherheit eines Tarifvertrages haben, dazu zählen neben den existenzsichernden Arbeitsbedingungen zum Beispiel auch Urlaubs- und Weihnachtsgeld. Durch seine Verweigerungshaltung verwehrt Amazon den Beschäftigten die Sicherheit, die eine Tarifbindung mit sich bringt. Deshalb – und weil Amazon eine wesentliche Rolle in der Handelsbranche spielt – ist das Unternehmen bei uns ein Schwerpunkt.

 

Im September letzten Jahres hatte uns Mechthild Middeke, ver.di-Einzelhandelssekretärin und zuständig für die beiden Versandzentren in Bad Hersfeld, im Interview berichtet, dass die Organizing-Bemühungen in Hersfeld und in Leipzig nicht nur zu Tarifforderungen, sondern auch zu Mitgliederzuwächsen und Streiks in diesen drei Niederlassungen geführt hätten. Allerdings sind dies nur drei von acht Amazon-Niederlassungen in Deutschland, alle Niederlassungen sind selbständig - und die fünf Logistikzentren in Graben, Werne, Rheinberg, Pforzheim und Koblenz sind allesamt jüngeren Datums. Mehr als kollegiale Verbindungen zu VertreterInnen aus diesen Werken und erste Ansätze zu einem bundesweiten Austausch gab es im September noch nicht. Wie ist es denn an diesen Standorten weitergegangen? Ist es gelungen, weitere Mitglieder und vor allem Aktive zu gewinnen, und wie haben die dortigen Belegschaften auf die ver.di-Kampagne reagiert?

 

KW: Wir treiben die Vernetzung voran, auf Betriebsversammlungen sprechen beispielsweise aktive ver.di-Mitglieder aus den Streikstandorten zu der Belegschaft an den neueren Standorten. Außerdem bauen wir die Kommunikationsnetzwerke mit den aktiven ver.di-Mitgliedern aus und verstärken den europaweiten Austausch. So waren wir Mitte März mit einer Delegation aus Bad Hersfeld bei einem Streik der französischen Gewerkschaft CGT bei Amazon in Chalon, haben gemeinsam vor dem Tor demonstriert und Strategien ausgetauscht.

 

ver.di fordert von Amazon u.a. den Abschluss eines Einzelhandels-Tarifvertrags – statt des bisherigen, deutlich niedrigeren Amazon-»Vergütungssystems«. Amazon dagegen wäre dagegen lediglich bereit, den Logistiktarif zu akzeptieren, der zwar über den bisherigen Löhnen, aber unter denen des Einzelhandels liegt. Die Taktik des Unternehmens bestand bislang darin, den Beschäftigten ›Bonbons‹ hinzuschmeißen wie etwa eine einmalige Weihnachtsgeldzahlung. Amazon versucht damit zu deeskalieren, die Beschäftigten und die Öffentlichkeit zu beruhigen und insgesamt den Eindruck zu vermitteln, es könne den Konflikt aussitzen. Gelingt diese Taktik? Und ist das maximale Eskalationsniveau seitens der Beschäftigten erreicht? Oder versucht Ihr weiterhin, die betriebliche Mitgliederbasis zu vergrößern und den Druck zu erhöhen?

 

KW: Die Aussage, Amazon akzeptiere den Logistiktarifvertrag, ist falsch. Lediglich die Löhne lehnen sich an einen Logistiktarifvertrag an, von einer Tarifbindung kann keine Rede sein. Amazon lehnt Verhandlungen mit uns zu einem Tarifvertrag ab. Unsere Aufgabe ist es in der Tat, kontinuierliche betriebliche Aufbauarbeit zu leisten. Amazon erwartet von den Beschäftigten eine hohe Flexibilität, dafür können die Beschäftigten die Sicherheit und Stabilität eines Tarifvertrages erwarten – und deshalb fordern wir nach wie vor die Tarifbindung.

 

Es gab Berichte darüber, dass sich Teile der Belegschaften offensiv gegen die »Einmischung« von ver.di und gegen die Streikmaßnahmen stellen. So kursierte offenbar auch eine von rund 1 000 Personen unterzeichnete Liste, die sich gegen ver.di positioniert, darüber hinaus gab es einen Boykottaufruf gegen die Rede einer ver.di-Gewerkschaftssekretärin. Was ist da dran, wer trägt diese Aktivitäten, wie verbreitet ist der anti-gewerkschaftliche Widerstand? Und wie geht ver.di bzw. gehen die bereits organisierten Beschäftigten damit um?

 

KW: Wir haben Hinweise darauf, dass Amazon in der Streikwoche vor Weihnachten die Unterschriftenkampagne gegen die Außendarstellung ihres Unternehmens mit unterstützt hat. Allerdings liegen uns diese Unterschriften bis heute nicht vor. Und ein Großteil derjenigen, die vermutlich unterschrieben haben, ist nicht mehr im Unternehmen, weil die Befristungsquote an vielen Standorten bei rund 50 Prozent liegt. Dass in der Belegschaft keine hundertprozentige Einigkeit über die Frage der Intensität und Strategie von Arbeitskonflikten vorliegt, ist normal. Und es ist auch verständlich, dass Menschen auf die indirekten Drohungen von Amazon, Standorte zu verlagern, mit Sorge reagieren. Wichtig ist hier: Bange machen gilt nicht, wir sind nicht gegen Amazon, sondern für ein Amazon mit existenzsichernden Tarifverträgen.

 

Es ist bekannt, dass Amazon prekäre Beschäftigungsverhältnisse bevorzugt. Nach Skandalen um den Einsatz und die Unterbringung von LeiharbeiterInnen, die von einer rechtsradikalen Sicherheitsfirma im Subunternehmer-Auftrag von Amazon kontrolliert und überwacht wurden, hat Amazon die Zahl der LeiharbeiterInnen reduziert. Allerdings arbeitet das Unternehmen nach wie vor mit dem Instrument der befristeten Beschäftigungsverhältnisse, z.T. auch mit der Anwerbung von Saisonarbeitskräften. Unter den Bedingungen eines befristeten Jobs ist es schwer, sich offensiv und öffentlich zu wehren, z.B. zu streiken. Inwiefern setzt Ihr auch auf innerbetriebliche Strategien (»Inplant Strategies«) unterhalb eines Vollstreiks, die die Beteiligungshürde für befristet und prekär Beschäftigte herabsetzen – also z.B. »Dienst nach Vorschrift«, Leistung dimmen, genau arbeiten etc.?

 

KW: Wie sollen Menschen ihre Zukunft planen, eine neue Wohnung mieten oder einen Kredit bei der Bank bekommen, ohne festen Arbeitsvertrag in der Tasche? Wer befristet beschäftigt ist, lebt in ständiger Angst um den Arbeitsplatz. Hinzu kommt, dass befristet Beschäftigte es seltener wagen, für ihre begründeten Forderungen zu streiken, da sie fürchten müssen, ihre berufliche Existenz zu verlieren. Damit wird deutlich, welche zum Teil dramatischen Auswirkungen die Befristungspraxis von Amazon auf die Beschäftigten hat. Das ist nicht länger hinnehmbar. Doch aus strategischen Gründen kann ich diese Frage zum jetzigen Zeitpunkt nicht genauer beantworten und bitte um Verständnis.

 

Das Image von Amazon hat deutlichen Schaden genommen, seit öffentlich über die Arbeitsbedingungen diskutiert wird. Könnten die ver.di-Belange nicht auch mit einer Boykottkampagne unterstützt werden? Wir haben z.B. erfahren, dass es eine Reihe von KundInnen gab, die ihr Recht auf Rücksendung nach Prüfung wahrgenommen haben: Sie haben bestellte Artikel ausgiebig begutachtet und nach Prüfung dann entschieden, vom System der Gratis-Retoure Gebrauch zu machen. Der Extra-Profit, den Amazon mit diesem Bonbon gegenüber anderen Versendern erwirtschaften will, kann so ziemlich schnell dahin schmelzen, Retouren sind teuer, Neuverpackungen oder ggf. Abschreibungen ebenfalls. Könnte ver.di solche Fälle von subtilem KundInnen-Boykott nicht breiter publizieren? Andere Kampagnen haben mit entsprechenden Solidaritätserklärungen von Prominenten gearbeitet. Gibt es Vorbereitungen in diese Richtung? Und inwiefern gibt es Zusammenarbeit mit anderen sozialen Bewegungen und/oder Kirchen? Attac z.B. kritisiert Amazon neben anderen Unternehmen als Beispiel für Steuerflucht… Lässt sich das nutzen für eine Unterstützung der Belegschafts-Forderungen?

 

KW: Wir lehnen einen Amazon-Boykott ganz klar ab. Kooperationen mit der organisierten Zivilgesellschaft sind oft ein gutes Mittel zur Unterstützung, ihr Einsatz muss sich jedoch unserer Erfahrung nach immer an der jeweiligen Situation und dem Willen der gewerkschaftlichen Basis ausrichten, damit er wirklich produktiv und unterstützend wirken kann.

 

Nachdem Amazon Betriebsräte lange für überflüssig hielt, gibt es seit letztem Jahr in allen acht Niederlassungen Betriebsräte. Akzeptiert Amazon deren Arbeit, und wie geht das Management mit den Interessenvertretungen um? Und: Jetzt im Frühjahr sind Betriebsratswahlen. Traust Du Dir eine Prognose zum Ausgang der kommenden Betriebsratswahlen zu?

 

KW: Völlig richtig: Zunächst hat Amazon die Betriebsräte bekämpft, dann haben sie die Strategie geändert und versuchen nun, die Betriebsräte gegen ver.di in Stellung zu bringen. Die neueste Botschaft von Amazon lautet dementsprechend: Wir arbeiten vorzüglich mit dem Betriebsrat zusammen und brauchen deshalb ver.di nicht. Für eine Prognose über den Ausgang der Wahlen ist es zu früh.

 

Du hast auch in anderen Bereichen des Einzelhandels, vor allem bei Edeka, Erfahrungen gesammelt mit gewerkschaftsfeindlichen Arbeitgebern einerseits und mit der Filialisierung, also der Strategie, selbständige Niederlassungen zu gründen, die eine kollektive, unternehmensweite Organisierung erschweren, andererseits. Ist die Strategie der Gegenseite bei Amazon typisch für nicht gewerkschaftlich organisierte Einzelhändler, oder gibt es hier Alleinstellungsmerkmale?

 

KW: Amazon erhält an vielen Standorten Subventionen für seine Ansiedlung, zahlt aber auf der anderen Seite kaum Steuern und verweigert an allen Standorten die Tarifbindung. Edeka hat zumindest in den sogenannten regiegeführten Unternehmen Betriebsräte und wendet die Tarifverträge an bis auf die Regionalgesellschaft Hessenring, die sich komplett der Tarifbindung entzieht. In den ausgegliederten, sogenannten »privatisierten« Märkten, in denen inzwischen circa 150 000 Menschen arbeiten, gibt es nur sehr wenige Betriebsräte und kaum Tarifbindung. Hier wird die kollektive Interessensvertretung stark erschwert und die Zersplitterung der Belegschaft genutzt, um einseitig die Arbeitsbedingungen festlegen zu können.

 

Vielen Dank für das Gespräch.