Wer sind die Guten?

Die ambivalente Rolle von NGOs im europäischen Migrationsregime

Nichtregierungsorganisationen (NGOs) genießen in der Öffentlichkeit gemeinhin einen guten Ruf. Tatsächlich ist ihre Rolle zwiespältig: Sie sind Teil des „erweiterten Staates". Dies beweist ein Blick auf das europäische Migrationsregime.

Rio de Janeiro, Juni 1992: Während des 'Erdgipfels', der Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung, betraten NGOs zum ersten Mal mit Macht das politische Bewusstsein der Welt. Mit sich brachten sie Hoffnung auf progressive Reformen und mehr Demokratie in der Weltpolitik. Der Spiegel schrieb über die "Die Macht der Mutigen"[1] und die Zeit nannte sie: „Die neue Internationale"[2]. Optimistisch wurden NGOs als Element einer neuen „Global Governance" präsentiert, welche nun, nach dem „Fall des Kommunismus", die drängenden Probleme der Menschheit lösen sollte. Heute, knapp zwei Jahrzehnte später, ist der Optimismus verschwunden. Inmitten immer schärferer globaler Ungleichheit und der nicht-endenden „Kriege gegen den Terror" ist deutlich geworden, wie sehr NGOs von Regierungsgeldern abhängen und wie sehr ihr politischer und strategischer Horizont oft begrenzt ist.

Gleichwohl, NGOs werden noch immer als ‚die Guten' gesehen, und sehen sich auch selber so: Als unermüdliche Kämpfer_innen für die Schwachen, als jene, die inmitten schwieriger Umstände alles Menschenmögliche tun. "Mit Zorn und Zärtlichkeit an der Seite der Armen", so wirbt die katholische NGO „Miserior" im Winter 2010 um Spenden. „Ich verändere die Welt" betitelte das Kinderhilfswerk die Spendenkampagne zu seinem 50-jährigen Bestehen. Umfragen belegen: NGOs sind die Institutionen, denen am meisten vertraut wird: 57 Prozent der Menschen in der Europäischen Union (EU) vertrauen ihnen, verglichen mit 39 Prozent hinsichtlich der Regierungen.[3] NGOs gelten eben nicht als Teil des Staates, als „Nicht-Regierung" und damit als unabhängig und moralisch kompromisslos.

Aber natürlich ist alles nicht so einfach. Die wahre Geschichte, oder eher jene, die erzählt werden sollte, handelt von der extrem ambivalenten Integration von NGOs in die gegenwärtige Transformation kapitalistischer und staatlicher Herrschaftsordnungen.  Eine dieser Geschichten betrifft eine besonders brutale Sektion von 'Global Governance': Die Beteiligung von NGOs am europäischen Migrations- und Grenzregime. Heute verwaltet die EU ein kontinentgroßes Gebiet von Bewegungsfreiheit für EU-Bürger_innen (Schengen). Sie bewegt sich stetig, wenn auch langsam in Richtung einer gemeinsamen Regulation von Arbeitsmigration (Blue Card) und Flüchtlingsschutz (neues Europäischen Unterstützungsbüro für Asylfragen). Und sie betreibt eine kaum kontrollierte Agentur für Grenzkontrollen und Abschiebungen: Frontex, der Kerberos der „Festung Europa", der wie der mehrköpfige Höllenhund den Zugang nach Europa bewacht.[4]

In vielen Formen und Farben

NGOs sind auf allen Ebenen der Festung Europa aktiv, vor und hinter ihren äußert flexiblen Toren. Doch der Begriff NGOs umfasst äußerst heterogene Akteur_innen: Von kleinen Initiativen mit nur wenigen Freiwilligen, wie etwa das Berliner Büro für medizinische Flüchtlingshilfe bis zu transnationalen NGO-Konzernen wie Amnesty International oder dem Roten Kreuz. Ihre Unterschiede lassen sich durch Fragen herausarbeiten: Wer finanziert sie und welche Abhängigkeiten ergeben sich daraus? Wie ist ihr materielles und politisches Verhältnis zum Staat? Welche „Zielgruppe" haben sie, etwa anerkannte Flüchtlinge oder illegalisierte Arbeiter_innen? Schließlich: Auf welchen Ebenen sind sie aktiv - von lokal bis global?

Auf Basis dieser Kriterien (Finanzierungsbasis, Verhältnis zum Staat, Zielgruppe und Ebene) lassen sich drei Haupttypen von NGOs unterscheiden: Die erste Gruppe umfasst lokal arbeitende NGOs kleiner bis mittlerer Größe, die in direktem Kontakt mit Migrant_innen stehen und diese professionell-paternalistisch als Kund_innen und vikitimisierte Hilfsempfänger_innen behandeln. Sie beraten, unterrichten und bieten medizinische Hilfe an, teils auch innerhalb von staatlichen Lagern und Gefängnissen. Einige NGOs haben selbst die Verantwortung für den Betrieb solcher Lager übernommen, etwa die „Arbeiterwohlfahrt" für das Abschiebelager „Motardstraße" in Berlin-Spandau. Diese NGOs akzeptieren die vorherrschenden Konzepte staatlicher Migrationskontrolle. Sie begreifen sich als operative Dienstleister_innen für Staaten und internationale Organisationen.

Der zweite NGO-Typ umfasst aktivistisch orientierte Basisorganisationen. Mit den professionalisierten NGOs der ersten Gruppe haben sie oft die Form der Angebote (Beratung, Bildung, direkte Hilfe) und den Fokus auf die lokale Ebene gemeinsam. Im Gegensatz zu ihnen lehnen sie es jedoch ab, die Beziehung zu den unterstützten Menschen als eine zwischen Dienstleister_innen und Kund_innen oder Helfer_innen und Opfern zu begreifen. Stattdessen bemühen sie sich um Selbstermächtigung von Migrant_innen. Solche NGOs haben oft enge Beziehungen zu sozialen Bewegungen und engagieren sich mit öffentlichen Kampagnen gegen Abschiebegefängnisse und die individuelle Abschiebungen. Beispiele sind die Flüchtlingsräte in Deutschland, das „Kein Mensch ist illegal"-Netzwerk, die Recherche-NGO Statewatch oder einige Mitglieder der transnationalen Netzwerke „Platform for International Cooperation on Undocumented Migrants" und „Migrant Rights Intenational".

Die dritte Kategorie umfasst die großen hochprofessionellen NGOs, die auf europäischer und globaler Ebene aktiv sind, und sich mit Lobbyarbeit und aufwendigen Recherchen und Kampagnen für die (Menschen-)Rechte von Flüchtlingen und Migrant_innen hervortun. Beispiele sind Amnesty International, Human Rights Watch, das European Council on Refugees and Exiles (ECRE) oder die International Catholic Migration Commission. Diese Akteure sind selbst 'global player' und konzentrieren sich auf die Zusammenarbeit mit und die kritische Begleitung von nationalen und internationalen Staatsapparaten.

Profis oder Aktivist_innen?

Die Unterschiede zwischen dem ersten und dem zweiten Typ kann ein Vergleich zwischen den professionellen tschechischen NGOs und der österreichischen NGO „Maiz. Autonomes Zentrum von & für Migrantinnen" verdeutlichen. Beide sind vor allem auf lokaler Ebene aktiv und bieten Beratung, Bildung und Kulturprogramme an. Auch ihre Finanzierungsbasis - durch nationale Ministerien und EU-Programme - ist ähnlich. Doch es gibt auch fundamentale Unterschiede.

In vielen tschechischen NGOs - etwa dem „Centre for Integration of Foreigners", dem „Counselling Centre for Refugees", der „Organization for Aid to Refugees" und der „Society of Citizens Assisting Migrants" - herrscht eine professionalisierte Mentalität und es gibt starke interne Hierarchien. Migrant_innen werden in eine Objektrolle als Kund_innen und Hilfsempfänger_innen versetzt und kaum als gleichberechtigte Mitstreiter_innen akzeptiert. Entsprechend beschäftigen tschechische NGOs fast ausschließlich Vertreter_innen der weißen, tschechischen Mittelschicht. Ihre Denkmuster und politischen Begriffe haben sich jenen der Staatsapparate angeglichen. Migration wird als ein fast technisches Problem gesehen, das Politiker_innen und NGO-Spezialist_innen betrifft - nicht als politische Angelegenheit und Gegenstand öffentlicher Debatte.

Im Gegensatz dazu besteht Maiz nur aus Migrantinnen, die mit dem Ziel arbeiten, andere Migrantinnen - und manchmal auch Männer - zu stärken und zu unterstützen. Maiz unterstreicht die eigene Offenheit gegenüber den Erfahrungen und Positionen der Menschen mit denen sie arbeiten. Diese werden nicht als Objekte, sondern als Subjekte betrachtet, die das politische und kulturelle Leben beeinflussen wollen und können.  Maiz setzt sich offen für eine Politisierung der Themen Migration und Integration ein. Die Organisation unterstützt ein 'Recht auf Migration' und stellt Verbindungen zum breiteren Kampf für soziale Gerechtigkeit her.

Legalistische Kritik und unpolitischer Humanismus

Ein Beispiel für den dritten Typ von NGOs im europäischen Migrationskontrollregime ist das ECRE. ECRE besteht aus 69 Mitgliedsorganisationen aus 30 europäischen Ländern. Es vereint viele der etablierten, professionalisierten NGOs des ersten Typs, die in der Flüchtlingshilfe aktiv sind. Die primäre Aufgabe von ECRE besteht darin, auf politische und juristische Initiativen von Regierungen und EU mit Recherchen, Kritik und eigenen Vorschlägen zu reagieren. Doch ECRE zahlt einen hohen Preis dafür, sich so eng an die Rationalität nationalstaatlicher und europäischer Staatsapparate anzupassen. Ein Beispiel dafür sind die von ECRE angewandten Taktiken im Konflikt über die EU-Grenzschutzagentur Frontex. ECRE's Hauptkritikpunkt an Frontex ist der Vorwurf, die von der Agentur koordinierten gemeinsamen Operationen würden gegen europäisches und internationalen Recht verstoßen, da sie Asylsuchenden den Zugang zu den europäischen Asylsystemen verwehren. In Bezug auf Frontex-Operationen außerhalb der EU wird festgestellt: "ECRE  questions  the  role  of  FRONTEX  beyond  the EU's  external  borders,  in  terms  of  whether it can  legally be  involved  in  these kinds of operations but also whether it can do so with guarantees that its actions remain in full compliance with relevant European Community (EC) law".[5]

ECREs Kritik an Frontex geht kaum über das unpolitische humanitäre Klagen über den „Tod auf See" und legalistische Argumente hinaus. Problematisiert wird fast ausschließlich unzureichende parlamentarische Kontrolle und die Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Genfer Flüchtlingskonvention. Solche NGO-Kritik beschränkt sich freiwillig auf unpolitischen Humanismus und juristische Argumente. Damit ist sie nicht nur leicht abzuwehren, sondern geht auch an den eigentlichen Problemen vorbei: Spontanes Unbehagen gegenüber Frontex entsteht ja nicht wegen juristischen Feinheiten. Die Agentur provoziert intuitive Ablehnung, weil sie die militärische Abschirmung der Grenzen perfektioniert, und so noch mehr Menschen in den Tod und Verzweiflung treibt; weil sie gewaltsame Abschiebungen noch effizienter machen möchte.

Das Ziel der NGO-Kritik scheint es zu sein, Frontex an die parlamentarische und völkerrechtliche Kandare zu legen. Eine solche leidenschaftliche Forderung begrenzter Umbauten läuft jedoch Gefahr, die Fundamente der Festung noch zu verstärken. Zwar kann Recht mitunter ein emanzipatorisches Instrument sein - doch werden die politischen Zwecke von Frontex nicht grundlegend und unmissverständlich in Frage gestellt, verbleibt legalistische Kritik oberflächlich und letztlich wirkungslos oder sogar affirmativ.[6] Denn ähnlich wie ECRE hinterfragen die meisten NGOs nicht ernsthaft die strukturellen Ursprünge, die ‚Migration‘ als ‚Problem‘ erst hervorbringen. Sie riskieren es, zu quasi-staatlichen Handlanger_innen zu werden, um Probleme zu lösen, deren macht- und herrschaftsbestimmte strukturelle und diskursive Ursprünge sie nicht wahrnehmen oder gar nicht interessieren.

NGOs als Teil des Staates

NGOs nehmen eine ganze Reihe entscheidender Funktionen im europäischen Migrationskontrollregime wahr. In der Tat ist es schwer vorstellbar, wie das Regime funktionieren würde, ohne ihre unzähligen lokalen Hilfsprojekte, ohne ihren vielgepriesenen direkten und flexiblen Zugang zu den Migrant_innen, ohne ihr Expertenwissen bei Anhörungen der Europäischen Kommission, ohne ihre Rolle als „Quellen von Legitimität". Das Verständnis von NGOs als den nationalen und internationalen Staatsapparaten distanzierte, ihnen sogar oppositionell gegenüber stehende Akteur_innen, muss aufgegeben werden. Stattdessen müssen NGOs als fester Bestandteil der gegenwärtigen Transformation der Form politischer Herrschaft im kapitalistischen Weltsystem begriffen werden. Die intensivierte Überwachung, Kontrolle und Regulation der Mobilität von Arbeiter_innen und Flüchtlingen ist dabei nur ein Feld unter vielen, in denen NGOs als Teil eines internationalisierten integralen bzw. erweiterten Staates (Antonio Gramsci) wirken.[7]

Mit Gramsci gesprochen, bietet die Verschiebung wichtiger Funktionen staatlicher   Migrationskontrolle aus dem ‚harten Kern' des Staates in die ‚Zivilgesellschaft' des erweiterten Staates jedoch auch Chancen. Zivilgesellschaft war für Gramsci alles andere als eine diffuse progressive Kraft. Es war für ihn ein politisches Kampffeld, zugänglicher etwa als die repressiven Staatsapparate von Polizei und Armee. Die Integration von NGOs in die gegenwärtige Form staatlicher Herrschaft hat auch den Staat abhängig von ihnen gemacht. Dies bietet möglicherweise Ansatzpunkte für emanzipatorische Einmischungen. Dafür sind allerdings eine ehrliche Selbstreflexion von NGOs und ihren Mitarbeiter_innen sowie eine kritische Beschäftigung von Wissenschaftler_innen und Aktivist_innen mit ihnen notwendig. Neben Regierungsinstitutionen wie Frontex müssen NGOs als mögliches Ziel der Aktionen von sozialen Bewegungen in Betracht gezogen werden.

 

 

Weiterführende Literatur:

Ulrich Brand / Alex Demirovic / Christoph Görg / Joachim Hirsch (Hrsg.), Nichtregierungsorganisationen in der Transformation des Staates, 2001.

Fabian Georgi, Handlanger und Störenfriede. NGOs und internationale Organisationen in der Migrationskontrolle, in: Komitee für Grundrechte und Demokratie (Hrsg.): Jahrbuch 2009. Jenseits der Menschenrechte. Die europäische Flüchtlings- und Migrationspolitik, 2009, 76-87.

Helen Schwenken, Rechtlos, aber nicht ohne Stimme: Politische Mobilisierungen um irreguläre Migration in die Europäische Union, 2006.



 

[1] Die Macht der Mutigen, Spiegel special 11/1995.

[2] Martin Merz / Christian Wernicke, Die neue Internationale, Die Zeit v. 25.08.1995,
http://www.zeit.de/1995/35/Die_neue_Internationale (Stand aller Links 21.03.2010).

[3] Edelmann Trust Barometer 2009, www.edelman.com/trust/2009/.

[4] Vgl. zu diesem Bild den Blog 'frontexwatch. keepin` an eye on the Kerberos of the EU border regime', http://frontex.antira.info/.

[5] Euopean Council on Refugess and Exiles, Defending Refugees' Access to Protection in Europe, 2007, 3, www.ecre.org/resources/policy_papers/988.

[6] Vgl. für eine ausführlichere Version dieses Arguments: Fabian Georgi / Bernd Kasparek, Jenseits von Staat und Nation. Warum Frontex abzuschaffen ist, in: Informationsstelle Militarisierung e.V. (Hrsg.), Frontex - Widersprüche im erweiterten Grenzraum, 2009 (www.imi-online.de/download/frontex2009-web.pdf ), 39-42.

[7] Dazu: Sonja Buckel / Andreas Fischer-Lescano (Hrsg.), Hegemonie gepanzert mit Zwang. Zivilgesellschaft und Politik im Staatsverständnis Antonio Gramscis, 2007.