Daß auch die Bundesregierung diese Lücke klar erkannt hat, ergibt sich aus der Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs im Bundesministerium der Justiz, Alfred Hartenbach, vom 22. März 2006 auf eine entsprechende Anfrage des Abgeordneten Rolf Mützenich (SPD). Im Hinblick auf das völkerrechtlich normierte Gewaltverbot vertritt die Bundesregierung nämlich die Auffassung, daß »die UN-Charta ein ... Gewaltverbot, aber keine Verpflichtung der UN-Mitgliedstaaten [enthält], Verstöße dagegen im innerstaatlichen Recht unter Strafe zu stellen. Der Tatbestand des Verbrechens der Aggression wurde bisher völkerrechtlich nicht definiert. Die Mitgliedstaaten haben daher keine Verpflichtung der Umsetzung in innerstaatliches Recht.« Auf die insistierende Nachfrage, ob denn die Bundesregierung angesichts dieser Sachlage die Notwendigkeit sehe, den § 80 StGB zu präzisieren, fällt die Antwort des Staatssekretärs Hartenbach, gelinde gesagt, lakonisch aus: »Nein.« Woraus denn zu folgern ist, daß die Bundesregierung an ihrer seit dem Sündenfall des sogenannten Kosovo-Krieges im Jahre 1999 geübten Praxis des Völkerrechts- und Verfassungsbruchs in Gestalt der Beteiligung an multinational geführten Angriffskriegen sowie der Unterstützung solcher schwerster Verbrechen augenscheinlich unbeirrt festzuhalten gedenkt. Angesichts dessen muß es naiv erscheinen, auf einen eigeninitiativen Sinneswandel der politischen Klasse dieser Republik zu hoffen. Remedur verspricht allein eine breite Mobilisierung der Öffentlichkeit für eine Novellierung der bislang völlig unzureichend gefaßten strafgesetzlichen Bestimmungen. Nur so kann allfälliger deutscher Beteiligung an Angriffskriegen und der weiteren Militarisierung der deutschen (und europäischen) Außenpolitik ein Riegel vorgeschoben werden.
Erste Überlegungen und Vorschläge für eine legislatorische Therapie sind in den Reihen der Bundestagsfraktion Die Linke diskutiert worden. Die Absicht bestand darin, sicherzustellen, daß künftig nicht nur die Vorbereitung eines Angriffskrieges, sondern auch dessen Auslösung, Durchführung oder Unterstützung einen Straftatbestand darstellen würden. Mit der Bundestagsdrucksache 16/6379 hat die Fraktion dann im Herbst 2007 einen Gesetzentwurf für die Änderung des Strafgesetzbuches vorgelegt. § 80 Abs. 1 sollte folgenden Wortlaut erhalten: »Wer einen Angriffskrieg oder die Beteiligung an einem Angriffskrieg (Artikel 26 Abs. 1 des GG) vorbereitet, auslöst oder durchführt, wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe oder mit Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren bestraft.« Abgesehen von dem a priori zu erwartenden Ergebnis, das darin bestand, daß die übrigen im Bundestag vertretenen Fraktionen diesen Gesetzentwurf schon allein deshalb ablehnten, weil er von der Linkspartei stammte, blieb er auch inhaltlich defizitär. Denn der schon in den Regelungen des Art. 26 GG und des bestehenden § 80 StGB enthaltene Schwachpunkt - was eigentlich ist überhaupt ein strafbarer Angriffskrieg? - wurde auch mit jener zur Abstimmung gestellten Neufassung nicht beseitigt.
Wie also müßte eine Strafrechtsnorm beschaffen sein, die den aus Art. 26 Abs. 1 Satz 2 resultierenden verbindlichen Verfassungsauftrag erfüllt? Zuallererst darf nicht mehr lediglich der Angriffskrieg strafrechtlich inkriminiert sein, sondern entsprechend der grundgesetzlichen Vorgabe müssen sämtliche friedensstörenden Handlungen einer strafrechtlichen Sanktionierung zugänglich gemacht werden. Dementsprechend müßte der erste Absatz einer den Friedensverrat betreffenden novellierten Strafrechtsnorm folgendermaßen lauten:
StGB § 80 Störung des Staaten- und Völkerfriedens
(1) Wer vorsätzlich eine Handlung vornimmt, die gegen die in Kapitel I Artikel 1 und Artikel 2 ihrer Satzung kodifizierten Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen verstößt und dadurch eine Gefahr für den Weltfrieden und die internationale Sicherheit herbeiführt, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren oder mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft.
Hervorzuheben ist, daß diese Regelung nicht nur friedensstörende Handlungen inkriminiert, die das Verhältnis von Staaten als Völkerrechtssubjekten im internationalen System betreffen, sondern darüber hinaus auch die Möglichkeit eröffnet, Handlungen zu bestrafen, durch die beispielsweise soziale, soziokulturelle oder auch ethnisch-religiös fundierte Konfliktlagen innerhalb von Staaten in friedensstörender Weise von außen politisch instrumentalisiert werden.
Im nächsten Schritt gilt es, den Komplex der friedensstörenden Handlungen im Sinne des verfassungsrechtlich normierten Bestimmtheitsgebotes (Art. 103 GG Abs. 2) so konkret und zugleich so umfassend wie möglich zu umschreiben. Demgemäß wäre der Absatz 2 des novellierten § 80 StGB wie folgt zu formulieren:
(2) Zu den friedensstörenden Handlungen im Sinne dieser Regelung zählen insbesondere:
1. Handlungen, die der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen aufgrund seiner aus Artikel 39 der Satzung der Vereinten Nationen resultierenden Kompetenzen als Bedrohung oder Bruch des Friedens oder als Angriffshandlung qualifiziert hat,
2. jegliche Androhung oder Anwendung militärischer Gewalt, die nicht im Rahmen und nach den Regeln der Satzung der Vereinten Nationen (Kapitel VII Artikel 42 und Artikel 51, erfolgt,
3. sämtliche Handlungen, die den Tatbestand der Aggression gemäß der Entschließung 3314 (XXIX) der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 14. Dezember 1974 erfüllen,
4. sämtliche Handlungen, welche die im Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs vom 1. Juli 2002 inkriminierten Tatbestände (Völkermord, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Aggressionsverbrechen) erfüllen,
5. sämtliche Handlungen, welche durch das deutsche Völkerstrafgesetzbuch unter Strafe gestellt sind, sowie
6. sämtliche Handlungen, welche durch die Fortentwicklung des Völkerrechts zukünftig als friedensstörende Handlungen inkriminiert werden, ab dem rechtskräftigen Inkrafttreten der entsprechenden völkerrechtlichen Vereinbarungen.
Im dritten Schritt ist die Spannbreite der friedensstörenden Handlung zu definieren. Dementsprechend müßte es im neuen § 80 Absatz 3 StGB heißen:
(3) Als friedensstörende Handlung im Sinne dieser Regelung gilt nicht nur deren Auslösung und Durchführung, sondern auch deren Vorbereitung, Unterstützung oder Förderung sowie die Beteiligung an einer solchen Handlung.
Schließlich bleibt noch der mögliche Täterkreis abzugrenzen, der den vorstehend dargelegten Tatbestand zu erfüllen vermag. Hierbei ist zu berücksichtigen, daß - beginnend mit dem Nürnberger Strafgerichtshof und seinen Festlegungen über den »Verhaltenskodex zu politisch-militärischen Aspekten der Sicherheit«, der auf dem Budapester KSZE-Gipfel 1994 unterschrieben wurde (Ossietzky 16/2008), und das Römische Statut (Ossietzky 3/2009) bis hin zum deutschen Völkerstrafgesetzbuch (Ossietzky 4/2009) - nach und nach die individuelle Zurechenbarkeit völkerrechtlicher Delikte verfestigt wurde. Wer glaubhaft machen kann, bloß auf Befehl gehandelt zu haben, hat nicht deswegen als unschuldig zu gelten, und dann können auch nicht ausschließlich staatliche, politische, wirtschaftliche und militärische Führungspersonen wegen friedensstörender Handlungen juristisch belangt werden. Daher wäre Absatz 4 des geänderten § 80 StGB wie folgt zu fassen
(4) Der vorliegenden Regelung unterliegen sämtliche Bewohner/-innen des Bundesgebietes entsprechend ihres jeweiligen Tatbeitrages und ihrer individuellen Verantwortlichkeit, die durch ein ordentliches Gericht festzustellen sind.
Hätte die von der politischen Klasse dieser Republik phasenweise ins Werk gesetzte Politik des Angriffskrieges die Novellierung der strafgesetzlichen Friedensverratsnorm gemäß dem hier dargelegtem Muster zur Folge, so fände sich jene Erkenntnis bestätigt, die Immanuel Kant in seinem Traktat zum »Ewigen Frieden« schon 1795 gewonnen hatte, nämlich: »Das moralisch Böse hat die von seiner Natur unabtrennliche Eigenschaft, daß es in seinen Absichten (vornehmlich gegen andere Gleichgesinnte) sich selbst zuwider und zerstörend ist und so dem (moralischen) Prinzip des Guten, wenngleich durch langsame Fortschritte Platz macht.« Lakonisch merkte der große Rechtsgelehrte aus Königsberg hierzu noch an: »Fiat iustitia, pereat mundus ... Die Welt wird keineswegs dadurch untergehen, daß der bösen Menschen weniger wird.«
An dieser Stelle endet Jürgen Roses Artikelserie zur Ächtung des Angriffskriegs, die in Ossietzky 1/08 begann. Der Autor, Oberstleutnant der Bundeswehr, ist aus disziplinarrechtlichen Gründen gezwungen, darauf hinzuweisen, daß er in diesem Beitrag nur seine persönlichen Auffassungen darlegt - wie auch alle anderen Ossietzky-Autoren. In Kürze erscheint im Verlag Ossietzky Jürgen Roses Buch »Ernstfall Angriffskrieg - Frieden schaffen mit aller Gewalt?« mit einem Vorwort von Prof. Dr. Werner Ruf.