Helke Sander über ihre Tomatenwurf-Rede als "Termin neben anderen", paternalistisches Wohlwollen, weibliches Zurücklachen und hartnäckige Missverständnisse.
"Genossen, wenn ihr zu dieser Diskussion, die inhaltlich geführt werden muß, nicht bereit seid, dann müssen wir allerdings feststellen, daß der SDS nichts weiter ist als ein aufgeblasener konterrevolutionärer Hefeteig." Dies ist wohl der bekannteste Satz der berühmten Rede von Helke Sander, gehalten 1968 auf der 23. Delegiertenkonferenz des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) in Frankfurt. Für den "Aktionsrat zur Befreiung der Frauen" sprach Sander dort und forderte eine feministische Neuausrichtung der SDS-Politik. Als die Genossen nach dieser Rede unbeirrt zur Tagesordnung übergehen wollten, warf Sigrid Rüger die geschichtsträchtigen Tomaten auf den SDS-Vorstand. Und die zweite Frauenbewegung nahm ihren Anfang.
an.schläge: In ihrem Film "Der subjektive Faktor" beschreiben Sie die Entwicklung, die zur Gründung des "Aktionsrat zur Befreiung der Frau" und damit zur zweiten Frauenbewegung geführt hat. Den stärksten Eindruck hat der Film bei mir durch seine Dokumentation der unglaublichen Ignoranz der "Genossen" hinterlassen. Anni, die Hauptfigur - der Sie ja stark autobiographische Züge verliehen haben - wird mit ihren feministischen Forderungen in einer Szene in die Küche geschickt, zu einer anderen Frau "die sich auch mit diesen Fragen beschäftigt Â…" Ein sich durchziehendes Motiv ist außerdem das Lachen der Männer als Reaktion auf feministische Kritik, eine Reaktion, die schließlich im schenkelklopfenden Hohn des männlichen Auditoriums bei Ihrer berühmten Tomatenwurf-SDS-Rede in Frankfurt kulminierte.
Waren die Typen wirklich dermaßen schlimm?
Helke Sander: Nein, als "schlimm" wurden die jungen Männer nicht empfunden. Eigentlich eher sogar als hilfsbereit: Anni wurde ja nicht abgelehnt und herausgeschmissen (was eher zum Standard gehörte), sondern zu einer anderen Frau in die Küche geschickt. Das war zwar anders, als vorgestellt, aber "besser als nichts".
Auch das gewisse Lächeln über die Aktivitäten der Frauen war für damalige Verhältnisse eher paternalistisch wohlwollend. So in dem Sinn, sieh mal, die Kleine macht auch was selbstständig. Und das Gelächter folgte ja auf ein Argument, über das sich Anni selber nicht ganz im Klaren war: "Ich werde sagen, Frauen sind eine Klasse". Das war nun allerdings für die Marx-geschulten SDS-Männer vollkommen unmöglich. Aber im SDS gab es, anders lautenden Gerüchten zufolge, keine Frauen, die Kaffee kochten und Flugblätter tippten. Was heute in dem Film viel mehr auffällt als damals, das war das normale allgemeine Verhalten. Es dauerte eine gewisse Zeit, bevor auch die Frauen einfach selbstbewusst zurücklachen konnten.
Würden Sie bitte noch mal die Geschichte vom "Schwänzeflugblatt" erzählen Â…?
Das war eine Aktion des seit einigen Wochen bestehenden Frankfurter Weiberrats und auf dem Weg des "Zurücklachens" schon einen Schritt weiter. Ich war nicht dabei und kann es nur vom Hörensagen schildern.
"Befreit die sozialistischen Eminenzen von ihren bürgerlichen Schwänzen." Mit Bildern eben dieser, verschiedenen Genossen namentlich zugeordneter Schwänze, die in der Karikatur wie Geweihtrophäen an die Wände genagelt waren. Das war auch insofern frech und neu, als es hier nicht nur um große Politik ging, sondern die Liebhaberqualitäten der Wortführer von den Frauen kollektiv ins Visier genommen wurden.
Das Flugblatt platzte in einen äußerst kontroversen "Strategie-Streit" über die Zukunft des SDS, an dem die Frauen auch teilgenommen hatten und war auch eine Reaktion darauf, was heute meist vergessen wird. Denn die in dem Flugblatt Genannten vertraten zum Teil sehr gegensätzliche Positionen. (Wenn ich es sehr vereinfacht ausdrücke, dann könnte man sagen, dass sich CDU-Roland Koch und SPD-Beck und viele andere in den Haaren lagen und plötzlich unter einem neuen Gesichtspunkt durch das Flugblatt vereint wurden).
Der Aktionsrat hat vor allem auf Frauen mit Kindern gesetzt, da "die Bereitschaft zur Solidarisierung und Politisierung" bei Müttern am größten sei, weil sie "den Druck am meisten spüren", argumentieren Sie in dieser Rede. Hat sich das bewahrheitet, waren in der Folge also wirklich vor allem Mütter als Aktivistinnen zu gewinnen?
Vom Beginn des Aktionsrats im Januar 1968 bis zu der "Tomantenrede" im September, die die vielen anderen Gruppen auslöste, stand in Berlin die Kinderfrage im Vordergrund. Und zwar als Versuch, die Stellung der Frauen generell auch theoretisch zu klären. Wo profitieren sie vom Patriarchat (ein neues Wort), wo und in welcher Weise werden sie unterdrückt. Das änderte sich durch den ungeheuren Zustrom nun viel jüngerer Frauen, vor allem Studentinnen, für die andere Interessen Priorität hatten. Ein Problem war, dass ständig so viele neue Frauen dazu kamen und die ursprüngliche Konzentration auf eine Frage auch organisatorisch nicht mehr durchzuhalten war. Das führte dann ja auch zu vielen Gruppenbildungen und z. T. dann später auch zu Spaltungen. Die wurden vordergründig erst wieder aufgehoben durch die Abtreibungskampagne von Alice Schwarzer, weil es da ein praktisches Projekt gab, auf das sich alle verständigen konnten und was die theoretischen Auseinandersetzungen für eine gewisse Zeit in den Hintergrund drängte. Die Kampagne stützte sich anfangs ja auf die schon bestehenden Gruppen, was sich auch in den bundesweiten Veranstaltungen zeigte.
Wie kam es zur Gründung der Kinderläden? Sie legen ja Wert auf die Unterscheidung zwischen den verschiedenen Gründungsmotivationen in Frankfurt und Berlin.
Zur Entstehung der Kinderläden sind mehrere Versionen im Umlauf. Die einen sehen sie in Frankfurt, andere in Berlin. Tatsächlich entstand in beiden Städten nahezu gleichzeitig eine neue Form der Kindergärten, deren Initiatorinnen anfänglich nichts voneinander wussten. Es lagen ihnen jedoch vollkommen unterschiedliche Konzepte zugrunde.
In Frankfurt baute Monika Seifert 1967 einen singulären Kindergarten auf, der für diese Gruppe modellhaft neue Erziehungsziele formulierte. Angesichts der Faschismuserfahrungen sollten die Kinder lernen, falschen Autoritäten zu widerstehen und innere Selbstständigkeit aufzubauen. Darum verstand sich dieses Modell im psychoanalytischen Sinn als "antiautoritär" und es muss vor dem Hintergrund der damals üblichen öffentlichen Erziehung gesehen werden.
Das Berliner Konzept vom Januar 1968 ging von der Situation der Frauen aus. Die Kinderläden waren zunächst als vorübergehende Selbsthilfe unter Frauen gedacht, um sich gegenseitig zu entlasten. Im zweiten Schritt wollten diese Frauen die öffentliche Erziehung in ihrem Sinne verändern. Parallel zu diesem Anliegen und aus ihm heraus entwickelte sich in Berlin der "Aktionsrat zur Befreiung der Frauen" und der Beginn der neuen deutschen Frauenbewegung.
Der Name Kinderladen entstand in Berlin und bezog sich auf die damals vielen leer stehenden und billigen Tante-Emmaläden, die wegen der neuen Supermärkte aufgegeben und für die neuen Kindergärten genutzt wurden.
Der Bedarf war riesig, das Berliner Modell der Selbsthilfe ungeheuer attraktiv und die Neugründungen so zahlreich - sie gingen bald in die Hunderte - dass schon nach einigen Monaten die wenigsten neu und dann schon meist unabhängig voneinander entstehenden Laden-Initiativen überhaupt noch irgendeine Ahnung von den damit verbundenen ursprünglichen Ideen hatten und unter einem Kinderladen in jeder Stadt eben hauptsächlich ein Kindergarten in Eigeninitiative verstanden wurde, in dem sich je nach Zusammensetzung der Mütter und Väter auch Ideen beider Konzepte wieder finden konnten.
Sie beschreiben, dass die Männer mit dem "Zentralrat der Kinderläden" die Sache gleich wieder an sich gerissen haben. Außerdem sei das Gegenteil des Gewünschten eingetreten: Die Frauen haben sich beim Aufbau der Kinderläden völlig verausgabt, statt sich mehr freie Zeit zu erkämpfen. Wie beurteilen Sie das heute: War es trotzdem wichtig, sich so auf den Bereich der Erziehung zu konzentrieren?
Das Missverständnis besteht bis heute. Die Frauen im Aktionsrat haben sich nicht auf den Bereich Erziehung konzentriert, sondern versuchten herauszufinden, wie sie als Bürgerinnen, als Frauen, ihren gesellschaftlichen Status selber definieren können. Die Kinderläden waren gewissermaßen eine Voraussetzung, um sich selber die Plattform zu schaffen, die Zeit zu schaffen, über die eigene Lage nachzudenken. Frausein hieß damals zumindest automatisch noch, wie auch heute noch in den meisten Teilen der Welt: Frauen mit Kindern. Es ging also darum, die eigene Lage innerhalb auch der anderen Theorien zu positionieren. Daher gab es auch die heftigen Kämpfe um den Begriff des "Nebenwiderspruchs", der eine alte Tradition in der sozialistischen Theorie hatte. Es ging also in erster Linie um eine neue Gesellschaftstheorie.
Mit der Zeit - und durch die jünger werdende Frauenbewegung sowie die eher praktische Projektbezogenheit nach 71 - gerieten diese Ansprüche aber zunehmend ins Hintertreffen.
In einem Band von Ute Kätzel über die 68erinnen betonen Sie in Ihrem Beitrag immer wieder, dass Sie sich gar nicht als Opfer empfunden haben, sondern sich im Gegenteil eher über Ihre neu entdeckte Stärke gefreut haben. Und Sie schreiben, dass Ihnen dieses Opfer-Image im Nachhinein übergestülpt wurde.
Mir persönlich wurde dieses Opfer-Image nicht übergestülpt. Ich habe nur auszudrücken versucht, dass es so viele Aktivitäten gab und es ein solches Erlebnis war, mit Frauen zusammen nicht nur "was zu machen" sondern zusammen zu denken, dass viele neue Energien freisetzte. So eine gewisse Weinerlichkeit setzte später erst ein, wobei dies allerdings auch medial bedingt war. Das beschrieb sich einfach gut in der Presse.
Im selben Beitrag schreiben Sie auch, dass die im Aktions- oder Weiberrat organisierten Frauen zum Teil nicht mal wussten, dass es bereits eine Frauenbewegung gegeben hatte. Wie erklären Sie sich, dass es trotzdem zu dieser beispiellosen Solidarisierung und Aktivierung von Frauen kommen konnte?
Vermutlich hatte sich der Druck langsam aufgestaut. Und jede fügte irgendein neues Detail hinzu, was aber alle eher beflügelte, weil es neue Horizonte eröffnete.
Eine ganz grundsätzliche Frage zum Verhältnis der 68er- und der Frauenbewegung: Wäre eine zweite Frauenbewegung ohne den SDS möglich gewesen?
Der SDS bzw. die ganze Studentenbewegung war insofern eine wichtige Voraussetzung - neben der Musik, der Literatur usw., was ja vorausging - weil die Leute spürten, dass dumpfe Verhältnisse abzuschütteln sind. Und die Frauen bezogen das eben auch auf sich.
Sie kritisieren auch einiges: dass die Frauengruppen oft gerade auch der Entlastung von Männern dienten, die so von den Problemen der Frauen verschont blieben, zum Beispiel. Sie kritisieren den Kollektivgedanken, weil Sie sich nicht damit abfinden wollten, dass Ihre eigene Arbeit anonymisiert wurde. Und sie kritisieren nicht zuletzt die strikten Organisationen vor allem in den K-Gruppen und die Suche nach "einfachen Lösungen", an die Sie schon damals nicht geglaubt haben. Was wären Ihre Alternativen gewesen? Oder was waren diese Alternativen später?
Na ja, als die K-Gruppen, die Esoterik und die RAF eine Rolle zu spielen begannen und als Reaktion auf diverse Forderungen in der 218-Kampagne, gründeten wir "Brot und Rosen".
Aber mein Ziel war es nie, eine Funktionärin der Frauenbewegung zu werden. Ich wollte in erster Linie meinen Beruf ausüben, was damals schwer genug war.
War die Tomatenwurf-Rede für Sie selbst auch der feministische Meilenstein, als der er heute wahrgenommen wird? Oder waren spätere Ereignisse in feministischer Hinsicht für Sie vielleicht viel wichtiger?
Für mich war das zunächst ein Termin neben anderen und auch ein misslungener Versuch, mich von zuviel Druck zu befreien. Wie schon in vielen anderen Veröffentlichungen gesagt: wir wollten theoretische Hilfe vom SDS (siehe Gesellschaftstheorien), bzw. mit dem SDS die Mängel der sozialistischen Theorien in Bezug auf die Frauen diskutieren und wollten gleichzeitig, dass sie sich unserer Praxis anschlossen. Das verstand bloß keiner, was vor dem Hintergrund der "lachenden und schenkelklopfenden Männer" vielleicht verständlich ist. Es war einfach unvorstellbar, dass Frauengruppen dem SDS sagen konnten, er solle der Politik vom Aktionsrat folgen. Der Aktionsrat wollte ja keine Frauenpolitik machen sondern Gesellschaftspolitik, in der Frauen alle Bereiche der Gesellschaft zumindest gleichberechtigt mitdefinieren.
Dieser Artikel erschien in: an.schläge, das feministische Magazin,
www.anschlaege.at