"Wir sollten offensiv um soziale Grundrechte kämpfen."

Interview: Lohnnebenkosten

in (10.05.2004)

Tendenz: Die drängenste Frage vornweg: Sind die "Lohnnebenkosten" in Deutschland tatsächlich Schuld an den ihr angelasteten Problemen?

Mag Wompel: Auf gar keinen Fall. Dazu reicht ein Blick in die Statistik: Dank der Zurückhaltung der Gewerkschaften sind die Lohngesamtkosten seit Jahren viel schwächer als die Produktivität gestiegen. Was die sog. Lohnnebenkosten angeht, ist die Sozialquote (Anteil sozialer Sicherung am BIP, Anm. d. Red.) in den letzten 25 Jahren weitgehend gleich geblieben - trotz Alterung und Arbeitslosigkeit. Im internationalen Vergleich sind die Sozialbeiträge geringer als z.B. in Belgien und Frankreich - dort sind die Arbeitgeberanteile sogar höher! Damit ist der Finanzierungsanteil der Unternehmer an den Sozialleistungen immer geringer geworden und das wahre Kriterium für die "Wettbewerbsfähigkeit", die Lohnstückkosten (Kosten je Produkteinheit, Anm. d. Red.), in Deutschland EU-unterdurchschnittlich gestiegen - daher sind wir Exportmeister - und Lohndumper.

Welche Strategie wird mit der Debatte um die Lohnnebenkosten verfolgt?

MW: Das Kapital will möglichst wenig für unsere Reproduktionskosten zahlen, schließlich bedeutet die Entlassung der Unternehmen aus der Finanzierung des sozialen Netzes mehr Profite, v.a. für die Finanz- und Versicherungswirtschaft. Dies wird uns dann als Bekämpfung der Arbeitslosigkeit verkauft.

Welche Folgen hat die Senkung der Lohnnebenkosten in der Regel für die abhängig Beschäftigten?

MW: Eine Senkung der sog. "Lohnnebenkosten" bedeutet weniger Sozialleistungen und eine faktische Lohnsenkung. Denn man muss bedenken, dass jeder Prozentpunkt Beitragssenkung 7,5 Mrd. Euro Einnahmenverlust bedeutet, der von uns aufgebracht werden muss in Form von Teilprivatisierung und Zuzahlungen. Dies stellt eine Nettolohnkürzung durch Umverteilung dar, da sich die "Arbeitgeber" aus der Finanzierung stehlen. Auch staatliche Zuschüsse zur Sozialversicherung sind Lohnsubventionen, z.B. bei Minijobs, die den "Arbeitgeber" entlasten, müssen von uns aufgebracht werden, verdrängen aber Tariflöhne.

Warum denken dann aber auch die Gewerkschaften über eine Reduzierung der Lohnnebenkosten nach bzw. unterstützen Forderungen in diese Richtung?

MW: Der nationalen Wettbewerbsfähigkeit und der Schaffung von Lohnarbeit verpflichtet, glauben die Gewerkschaftsspitzen immer noch, das Kapital sei an Arbeitsplätzen interessiert, wenn nur die Löhne genug sinken. Der andere Ansatzpunkt ist die Hoffnung auf Wachstum und dann wieder Arbeitsplätze durch Nachfragesteigerungseffekte der Lohnentlastung. Dies mag für einige junge, gesunde oder gut verdienende Lohnabhängige auch zutreffen, Lohnabhängige und ihre Familien sind aber nicht nur Zahler, auch Empfänger von SozialleistungenÂ…

Wie sehen demnach die Forderungen aus, die eine linke Politik der starken Koalition der Lohnnebenkosten-Prediger entgegenstellen kann?

MW: Das Kapital braucht die Ware Arbeitskraft und sollte ihre Produktion wie Reproduktion finanzieren. Da wir den Mehrwert erarbeiten, sollten wir uns den "Luxus" stärkerer sozialer Sicherung gönnen! Zum Beispiel ein garantiertes Grundeinkommen, das den Lohndruck durch Arbeitslosigkeit stoppt. Die Höhe der "Lohnnebenkosten" für die Gesetzliche Sozialversicherung kennzeichnet den Zivilisationsstandard und ist ein Gradmesser der Solidarität einer Gesellschaft. Dabei sollten wir das Umlageverfahren verteidigen. Es ist ein staatlich garantierter Rechtsanspruch gegenüber einer öffentlich-rechtlichen Einrichtung und die Einzahlungen in unseren sozialen Wohlstand hinterlassen keine Profite wie bei privaten, unsolidarischen Versicherungen. Wir sollten offensiv um soziale Grundrechte auf Gesundheit, Bildung, Wohnen - gutes Leben eben - kämpfen.

Mag Wompel ist Industriesoziologin und Redakteurin des
LabourNet Germany (www.labournet.de).
Das Interview führte Daniel Leisegang.