Interview mit der Arbeitsanwältin Rita Olivia Tambunan
Bangladesch im Juni 2010: Auf der einen Seite Tränengas, Wasserwerfer, Gummigeschosse, private Sicherheitsfirmen, eine freiwillige Bürgerwehr und ein massives Polizeiaufgebot, auf der anderen über 100.000 selbst bewusste Arbeiter_innen, die vier Stunden lang erfolgreich eine Autobahn blockiert halten, bewaffnet mit der Forderung nach einem besseren Leben. Die Streikenden arbeiten in der Bekleidungsindustrie und fordern seit Jahren die Anhebung ihrer Löhne auf ein Existenz sicherndes Niveau. Ihre Situation ist vergleichbar mit der vieler Näherinnen und Näher weltweit. Machtvolle Konzerne nutzen die globale Konkurrenz, um Preise und Lieferzeiten zu diktieren und Druck auf die Löhne auszuüben. Die Asia Floor Wage Campaign (Kampagne für einen Asiatischen Grundlohn AFWC) ist eine junge Initiative aus dem globalen Süden. Seit einem Jahr fordern sie die Konkurrenz zwischen den Arbeiter_innen durch grenzüberschreitende Bündnisarbeit heraus. Die Anwältin für Arbeitsrecht Rita Olivia Tambunan aus Indonesien berichtet über die miesen Arbeitsbedingungen in der asiatischen Bekleidungsindustrie.
(Teile des Interviews erschienen im Neuen Deutschland, 04. Juni 2010).
Die internationale Clean Clothes Camapign und die Kampagne für Saubere Kleidung unterstützen die Asia Floor Wage Campaign bei der Forderung nach Existenz sichernden Löhnen. Wie hoch sind die Mindestlöhne in den asiatischen Produzentenländern?
Vielerorts ist ein Mindestlohn fest geschrieben. In Bangladesh und Indonesien wird der Mindestlohn von der Regierung, Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften ausgehandelt und reicht trotzdem nicht aus, um elementare Lebenshaltungskosten zu decken. Niedrige Löhne gelten als Standortvorteil und die Industrien sind auf ausländische Investoren angewiesen.
Wie viel erhält eine indonesische Näherin, im Vergleich zu einer deutschen Angestellten?
Ich habe Gebäudereinigerinnen in Kassel getroffen, die fünf bis acht Euro in der Stunde verdienen. Gewerkschaftsvertreterinnen fordern bis zu zehn Euro Mindestlohn. Die Ausgaben für Nahrungsmittel in Deutschland betragen für eine Familie mindestens 25 bis 35 Euro, etwa die Hälfte des Tagesverdienstes der Reinigungskraft. In der indonesischen Stadt Jakarta verdient eine Näherin hingegen umgerechnet 3,80 Euro am Tag. Grundnahrungsmittel kosten etwa zehn bis zwölf Euro. Das ist weit mehr, als sie verdient. Es gibt kein zudem kein öffentliches soziales Sicherungssystem. Die Kosten für Gesundheit und Bildung müssen individuell aufgebracht werden.
Der gesetzliche Mindestlohn in Bangladesch beträgt 1662,50 Taka, ca. 20 Euro im Monat. Die protestierenden Arbeiterinnen fordern eine Lohnhöhe von 5000 Taka, ca. 57 Euro.
Ich denke, dass die Arbeiterinnen in Bangladesh in der ärgsten Situation sind, im Vergleich zu anderen in Asien. Wenn wir einen gemeinsamen Grundlohn hätten würden auch sie profitieren.
Die Konzerne Wal-Markt, Tesco, Carrefour und auch die in Deutschland ansässigen Discounter Lidl, Kik und Aldi lassen in Asien produzieren. Sie konzentrieren ihre Einkaufskraft durch internationale Einkaufsmakler und nehmen sehr große Mengen ab. Sie Wie will die AFWC die Konkurrenz zwischen einer Näherin aus China oder Kambodscha konkret überwinden?
Unsere Strategie orientiert sich an dem Konzept der Kaufkraftparität (KKP) von der Weltbank. Die Landeswährungen unterliegen Wechselkursschwankungen, national gibt es unterschiedliche Preisniveaus für Güter und Dienstleistungen. Daher brauchen wir einen Indikator anhand dessen sich die Löhne vergleichen lassen.
Im ersten Schritt berechnen wir die Kosten für einen grundlegenden Warenkorb in der nationalen Währung. Darin enthalten sind Lebensmittel, aber auch Ausgaben für Bildung, Transport und Freizeit. Im zweiten Schritt ermitteln wir die Kosten für den Warenkorb mit dem KKP-Faktor. Anschließend einigen wir uns auf eine Benchmarke, derzeit 475 KKP-Dollar. Der Grundlohn muss in maximal 48 Wochenarbeitsstunden ohne Überstunden verdient werden können. Die Orientierung an der Kaufkraftparität stellt einen immensen Fortschritt dar. Ein gemeinsamer Grundlohn in der asiatischen Textil- und Bekleidungsindustrie könnte langfristig auch den Arbeitern in derselben Branche in Lateinamerika, Afrika und Osteuropa zugute kommen.
Wie sind die Bedürfnisse der Arbeiterinnen und Arbeiter verschiedener Länder denn vergleichbar?
In den konkreten Warenkörben finden sich natürlich unterschiedliche Lebensmittel. In Indonesien, Kambodscha und China wird etwa viel Reis gegessen, aber wenn du nach Indien fährst findest du Brot und Linsen auf dem Speiseplan. Wir brauchen auch Fleisch, Fisch, Milch, Eier, sowie natürlich Obst und Gemüse. Um vergleichen zu können schätzen wir den Bedarf pro Arbeiter auf 3000 Kalorien. Der Asiatische Grundlohn soll zur Hälfte Nahrungsmittel und zur Hälfte weitere Lebenshaltungskosten für eine ‚Standardfamilie' mit zwei arbeitende Erwachsenen und zwei abhängigen Kindern decken. Wir fordern einen geschlechtsneutralen Familienlohn.
Die Mehrzahl der Arbeitenden in der Bekleidungsindustrie ist weiblich. Wie vereinbaren die Frauen die Arbeit im Haushalt mit der Erwerbsarbeit?
Das ist ein Problem. Die meisten weiblichen Arbeitenden in Indonesien leiden darunter. Die Gesellschaft erwartet von den Ehefrauen und Müttern, dass sie allein für Familie und Haushalt verantwortlich sind. Dabei lässt es die ökonomische Situation überhaupt nicht zu, dass es nur einen Ernährer gibt. Die Frauen müssen ein Einkommen erzielen, in formellen oder informellen Beschäftigungsverhältnissen.
Wie reagiert die Kampagne für den Asiatischen Grundlohn auf die Geschlechterproblematik?
Der Asiatische Grundlohn berechnet sich als Familienlohn und soll gleich hoch ausgezahlt werden, unabhängig vom Geschlecht. Viele Frauen mussten die Erfahrung machen, dass eine Mitgliedschaft bei der Gewerkschaft keine Verbesserung ihrer Situation mit sich brachte. Sie profitierten weder von höheren Löhnen, noch von anderen sozialen Errungenschaften. Die Gewerkschaften begreifen langsam, dass sie sich um die Frauen bemühen müssen und beteiligten sich an dem Bündnis der AFWC. Andersherum kann eine Gewerkschaft die Frauen nur schwer unterstützen, wenn sie in informellen Arbeitsverhältnissen arbeiten und keine Mitglieder der Gewerkschaft sind. Sie müssen sich organisieren.
In Bangladesch unterstützt die National Garments Workers Federation die Proteste, wobei lediglich 200 Mitglieder offiziell registriert sind.
Wir sorgen uns über die Informalität in den Arbeitsverhältnissen. Der größte Teil der Arbeit in der Textil- und Bekleidungsindustrie wird von Frauen zu Hause verrichtet, ohne einen verbindlichen Arbeitsvertrag. Auch die Näherinnen und Näher in den Fabriken können sich kaum auf die Einhaltung formaler Verträge verlassen.
Arbeiterinnen, die sich organisieren wird gekündigt oder sie werden privat von Schlägertrupps aufgesucht. Was sagst du zu den Berichten über physische Gewalt und Bestechungsversuche von Seiten der Arbeitgeber gegenüber Gewerkschaftsführern?
Gibt es nicht überall gezielte Korruptionsversuche? Die Frage ist, wie eine Gewerkschaft als Organisation autonom bleiben kann und ob die Mitglieder ihre Führung kontrollieren können. Die Mitglieder müssen an allen strategischen Entscheidungen partizipieren. Daher agiert unsere Kampagne mitunter sehr langsam. Wir wollen den Gewerkschaften genug Zeit geben, um ihre Mitglieder umfassend zu informieren. Vielen stellt sich auch die Frage, warum sie sich an einer asienweiten Kampagne beteiligen sollen, wenn sie doch erst einmal bessere Arbeitsbedingungen im eigenen Land durchsetzen wollen. Wir respektieren das und halten die Kommunikation weiter aufrecht. Letztlich entscheiden sich aber viele für eine Beteiligung. Das ist ein Erfolg.
Welche Rolle spielen die Kundinnen und Kunden in Europa? Trägt ihr Kaufverhalten Schuld an den schlechten Arbeitsbedingungen und menschenunwürdigen Löhnen?
Es ist nicht die Schuld der Konsumenten (lacht). Es ist menschlich, günstige Produkte zu kaufen, vor allem, wenn es die eigene ökonomische Situation so erfordert. Ich glaube nicht, dass es darum geht, ob die Kleidung zu billig ist oder nicht. Wir können die Preise halten. Die transnationalen Konzerne müssen ihre Profite mit den Arbeiterinnen und Arbeitern teilen. Die Konsumenten können dabei Druck auf die Konzerne ausüben und Protestpostkarten schicken.
Wie verteilen sich derzeit die Gewinne der Konzerne?
Ein T-Shirt in den USA wird zum Beispiel für 22,50 US-Dollar verkauft. Davon gehen lediglich 64 Cent an die Näherinnen. Der Markenkonzern behält 75 Prozent des Gewinns. Die transnationalen Konzerne müssen bereit sein, etwas von ihren Profiten abzugeben. Daher zielt unsere Kampagne weniger auf die nationalen Regierungen, sondern direkt auf die großen Einkäufer. Wir benötigen eine breite internationale Unterstützung für den Asiatischen Grundlohn, um Druck auf die Konzerne auszuüben. Die deutsche Kampagne für Saubere Kleidung hilft uns dabei.