Der Pariser Vorort Aubervilliers pflegt eine Liaison mit den Künsten: Vermummte und Poeten in einer roten Hochburg
Zum 93. Departement im Norden von Paris, das durch Jugendkrawalle berühmt-berüchtigt wurde, gehört Aubervilliers. Hier brannten fast hundert Autos, zwei Lagerhäuser und die Turnhalle des Collège.
Leicht gekürzt zuerst in: Frankfurter Allgemeine Zeitung,
Nr. 273, 23.11.2005, Seite 42;
nachfolgend die ausführlichere Fassung
Anspannungen und Neuordnungsbedarf spürten die Bürger AubervilliersÂ’ lange vor diesem heißen Herbst. Im April schockierten Kämpfe rivalisierender Banden, an einer Schule streikten Lehrer, die sich nach Gewaltakten schutzlos fühlten. Im Oktober 2003 erregte der Schulverweis zweier Kopftuch tragender Mädchen Aufsehen, die nicht dem Islamismus-Cliché entsprachen. Ihr areligiöser Vater, ein kommunistischer Rechtsanwalt, der Mitte der achtziger Jahren aus der KPF austrat und sich in der Antirassismusbewegung engagiert, stammt aus einer jüdischen Familie, die katholisch getaufte, aber areligiös lebende Mutter, eine Ökonomieprofessorin in Reims, entstammt einer algerischen Berberfamilie - beide, inzwischen getrennte, Elternteile verfechten das Ideal einer weltlichen Schule. Der Vater erinnerte daran, daß es letztmalig einen Verweis von dieser Schule nach einem tödlichen Messerstich gegeben habe - "für acht Tage". Er warnte damals: "Drei Viertel der Kinder an der Schule stammen aus Einwandererfamilien - ihnen zu sagen, daß sie, nur weil sie die Religion ihrer Vorfahren ausüben, etwas ekelhaftes tun, ist ein sicherer Weg, um eine Explosion auszulösen." Nicht eine konservative Schulverwaltung, sondern linke Lehrer betrieben den Schulausschluß. Lehrer der Lutte Ouvrière initiierten die Kampagne, einer der Ligue Communiste Révolutionnaire, der die Schwestern unterrichtete, votierte für den Schulverweis. In Aubervilliers, dessen Bürgermeister 1923 bis 1944 der als Kollaborateur mit den Deutschen 1945 hingerichtete Pierre Laval war, wird seit Jahrzehnten mit kommunistischen Mehrheiten regiert. Hier blieb noch ein Stück des "roten Gürtels", der einst die Hauptstadt umschloß, erhalten. Aubervilliers Uhren gehen anders: Im Internet-Forum der Sozialistischen Partei wird Brechts Keuner-Geschichte "Maßnahmen gegen Gewalt" zitiert und auf der Internetseite der Radsportprofis von "Auber 93" ertönt ein Che-Guevara-Lied. Von einer "Volksdemokratie" sprach Anna Alter in ihrem Pamphlet "Die rote Hochburg" ("Le Fief rouge", 2001). Die Wissenschaftsjournalistin und Tochter eines Gründers der polnischen Kommunisten war 1988 den atypischen Weg aus einem Pariser Arrondissement in die Banlieue gegangen, getrieben von explodierenden Immobilienpreisen in der Innenstadt und angezogen vom Ruf einer modernen Stadtplanung und Kultur. Ihr Buch dokumentiert die Ernüchterung in "Raliteville", wie sie polemisch den Ort nennt, in dem bei der letzten Kommunalwahl Jack Ralite, ein Minister François Mitterands, zum vierten Mal das Bürgermeisteramt bekam. Aber bei einer Wahlbeteiligung von fünfzig Prozent blieb die Einstellung jedes Zweiten rätselhaft. Wenig später, bei den Präsidentschaftswahlen 2002, gewann die erste Runde der rechtsradikale Le Pen - der kommunistische Parteichef Robert Hue wurde nur vierter; erst in der Stichwahl senkte sich die Waage zugunsten Chiracs. Früher ein Arbeitervorort mit alten Mühlen, Kohlenhafen und Chemiefabrik, eignet Aubervilliers eine merkwürdige Liaison mit den Künsten. Nicht erst, seit mit Ralite, der seine Ferien beim Theaterfestival von Avignon verbrachte, ein kunstbeflissener Bürgermeister kam. Einer, der versuchte, die Deindustrialisierung mit der Ansiedlung von Medien- und Kunstprojekten wie "Les Laboratoires d'Aubervilliers" zu kompensieren. "Aubervilliers" hieß ein Dokumentarfilm, der 1946 beim Filmfestival in Cannes lief. In den ersten Wochen nach Kriegsende hatte ihn Élie Lotar, ein Assistent von Luis Buñuel, gedreht. Jacques Prévert schrieb die Texte. "La chanson des enfants", sein Lied über den damaligen Nachwuchs AubervilliersÂ’, über die sozialen Nöte der Vorstadtjugend, vertonte Joseph Kosma. Erstmals nach dem Stummfilm "La Zône" (1928) von Georges Lacombe wurde wieder ein Scheinwerfer auf das Leben einer Banlieue gerichtet. Schon dieser Aubervilliers-Film sensibilisierte für die sozialen Probleme des Städtebaus. Das Leben in der Banlieue ist mannigfaltiger als Berichte, die nur vermummte Minderjährige zeigen, ahnen lassen. Nach Sarkozys Kärcher-Rede meldeten sich acht Intellektuelle: "Wir, die wir in diesem Departement leben und arbeiten, erheben uns gegen diese verletzenden und erniedrigenden Äußerungen", es fehle nicht an Reinigungsmaschinen, sondern an Gleichheit. Zu den Unterzeichnern gehörte neben Bertrand Tavernier auch der 1949 geborene Schriftsteller Didier Daeninckx, der abseits der Pariser Intellektuellenzirkel in seinem Häuschen in Aubervilliers lebt. Der Kriminalschriftsteller personifiziert die Umbrüche in Aubervilliers: Nachdem 1977 Rationalisierungen ihn, einen Druckereiarbeiter, arbeitslos gemacht hatten, wurde er Schriftsteller. Mit bösem Blick, schwarzen Humor und gnadenloser Recherche wechselte er vom Setzkasten zum Computer. Ein anarchistischer Großvater war 1917 aus dem Krieg desertierte, ein anderer ein kommunistischer Bürgermeister, der sich dem Hitler/Stalin-Pakt widersetzte, DaeninckxÂ’ Mutter kochte in AubervilliersÂ’ Stadtkantine und schüttelte dem sowjetischen Kosmonauten Gagarin die Hand. Ihn prägten die Sozialwohnungen, "dieses Völkergemisch hier, auch die Gleichheit und Solidarität unter Arbeitern". Daeninckx erzählt von der Deutschen in seiner Straße, die von allen Nachbarn etwas anpflanzte, so daß bei dem Vielvölkergemisch ein "Garten der Welt" entstand. Seine Umgebung spiegele "den Charakter der französischen Fußballnationalmannschaft von 1998 wider". In diesem Milieu findet der Schriftsteller, der 1982 aus der kommunistischen Partei austrat, seine spannenden Stoffe, die er zu einer Art Gegengeschichte Frankreichs ausbreitet. Als Frankreich mit dem Kanaken Christian Karembeu Fußball-Weltmeister wurde, erzählte im selben Jahr DaeninckxÂ’ Buch "Reise eines Menschenfressers nach Paris" die Verfrachtung von Kanaken in Schauen der Pariser Kolonialausstellung und des Frankfurter Zoos anno 1931, gehörten doch zwei Urgroßväter des französischen Fußballhelden zu jenen "Kannibalen". Im Krimi "Bei Erinnerung Mord" wird eine andere in die Gegenwart reichende Kolonialgeschichte aufgerollt: der Algerienkrieg. Leichen der im Oktober 1961 von der Polizei in Paris getöteten Algerier wurden im Kanal Saint-Denis, der durch Aubervilliers fließt, gefunden. Daeninckx ist nicht der einzige, dessen Kreativität in dieser Cité wurzelt. Wer dieser Tage Madonnas neue CD "Confessions on a Dance Floor" hört, weiß kaum, daß Sprossen ihrer Karriereleiter aus Aubervilliers kamen, wo 1949 der Werbefotograf und Videoproduzent Jean-Baptiste Mondino geboren wurde. Als Madonna einen Schwarz-Weiss-Videotrend schuf, war Mondino Regisseur des "Justify My Love"- Videoclips. Mondino paßt zu Aubervilliers Anonymität trotz Popularität: Es gibt kaum Fotos von ihn. Der Sohn einer Einwandererfamilie hat nie vergessen, wo er wurzelt, wie sein Engagement für die Organisation "La Source" zeigt, die marginalisierten begabten Jugendlichen hilft, einen künstlerischen Beruf zu ergreifen. In den Straßen der Banlieue spielt der Thriller "Verhängnisvolles Alibi" (Frankreich 1998), eine Neuverfilmung des Brigitte-Bardot-Klassikers "Mit den Waffen einer Frau", die den Zusammenprall von Oberschicht und Einwandererghetto zeigt. Die Rolle der Zukurzgekommenen spielt eine Etablierte aus Aubervilliers: Virginie Ledoyen stand bereits als Kind vor der Kamera. Als Zweijährige wirkte sie in Werbespots mit und war Kindermodel für Lacoste. Die Erwachsene bekam einen Model-Vertrag beim Kosmetikkonzern LÂ’Oréal. 1987 begann ihre Karriere als Schauspielerin. Woody Allen bemühte sich um sie, mit Gérard Depadieu spielte sie in "Les Misérables", mit Leonordo DeCaprio in "The Beach" und mit Catherine Deneuve und Isabelle Huppert in "8 Frauen". Die Leseratte mag Dostojewski, Bilder Egon Schieles und engagiert sich in der Tibet-Solidarität. Außerdem interessieren sie die U-Bahnen der Welt - seitdem sie als Neunjährige mit der Métro zwanzig Stationen zur Schule in den 5. Pariser Bezirk fuhr. Gegenüber Freunden war sie privilegiert, da sie in einem großen Haus wohnte und diese einladen konnte. "Man traf sich am Burger King gegenüber der Haltestelle", erinnert sich Ledoyen, "qualmte und trank". In Aubervilliers gehörte sie in der Schule zur Minderheit: "In meiner Klasse waren 80 Prozent Einwanderer." Die Pariser Schule, wo Schwarze und Einwanderer in der Minderheit waren, habe sie schockiert. "Ich lebte immer mit Leuten von allen Horizonten. Ich habe baskische und andalusische Vorfahren, schwarze und nordafrikanisch-kabyle Cousins und eine chinesische Stiefmutter." In Deutschland pflegt Aubervilliers seit 1999 eine Städtepartnerschaft. Weder mit einer Multikulti- noch mit einer Neubaustadt, nicht mit Berlin-Kreuzberg oder Hoyerswerda. Verbündet hat sich das knapp siebzigtausend Einwohner zählende Aubervilliers, das seit der letzten Zählung von 1999 einen Bevölkerungszuwachs von über zehn Prozent verzeichnet, mit einem Leuchtturm deutscher Geistes- und Industriegeschichte: dem inzwischen unter die Hunderttausend-Einwohner-Schwelle gerutschten Jena. Dort erwartet man nächstes Jahr eine Delegation aus Aubervilliers, wenn unter dem Titel "Rendezvous 1806-2006" des Jahrestags der Schlacht von Jena und Auerstädt gedacht wird. "Rendez-vous" steht im Französischen für das kämpferische ebenso wie für das harmonische Zusammentreffen. Sammelplatz und Stelldichein, die Banlieue bietet beides zugleich.
Anhang: BEGRÜNDUNG für den Schulausschluß der Schülerinnen Alma et Lila Lévy vom Lycée Henri Wallon in Aubervilliers wegen Kopftuchtragens:
Nos raisons, par Philippe Darriulat LE MONDE | 14.10.03
Professeur au lycée Henri-Wallon d'Aubervilliers, qui défraie la chronique au sujet du port du voile islamique dans les établissements scolaires, j'éprouve le besoin de m'exprimer afin d'essayer d'expliquer comment, de l'intérieur, le problème a été vécu par l'équipe enseignante et l'administration. Tantôt encouragés à prendre des sanctions dans des termes hors de propos, parfois fustigés avec des arguments vécus comme une insulte, les personnels de ce lycée - qui ne se considèrent ni comme des héros de la lutte contre l'intégrisme religieux ni comme des "islamophobes, ayatollahs de la laïcité" - ont le sentiment profond de n'avoir été ni compris ni même écoutés. Pour nous, c'est bien la question de la laïcité qui est posée, pas un concept vide de sens, mais un problème concret auquel nous sommes parfois confrontés et que l'on pourrait résumer par une question simple : dans les locaux d'une école publique, doit-on appliquer des règles de vie communes à l'ensemble des personnes qui y travaillent ou peut-on accepter que chacun adopte des comportements dictés par ses convictions personnelles et encouragés par des groupements extérieurs ? Un principe qui n'est certainement pas un dogme et qui doit, dans la façon dont il est appliqué, tenir compte des évolutions de la société. Mais un principe qui, nous en sommes tous convaincus, fait la force de notre système éducatif. Pour un professeur, être confronté à ces questions n'a absolument rien d'abstrait : c'est, par exemple, répondre àdes élèves qui refusent ostensiblement de suivre un cours de sciences de la vie et de la Terre portant sur l'évolution des espèces ; ou agir lorsqu'une jeune fille est insultée parce qu'elle ne pratique pas pendant une fête religieuse ; ou refuser que certains se dispensent des cours d'éducation physique. Et c'est aussi prendre au sérieux la question du voile, qui ne peut évidemment être considéré, contrairement à ce qui a pu être dit, comme un simple "morceau de tissu", un phénomène de mode vestimentaire en quelque sorte. Dans une telle situation, il convient d'abord de se garder de deux attitudes qui nous semblent particulièrement dangereuses. La première consiste à exagérer le phénomène. Il s'agit, en fait, de situations qui restent extrêmement marginales et ne concernent qu'une infime minorité d'élèves. En fouillant dans ma mémoire, je ne peux citer que quelques cas en huit ans d'enseignement à Aubervilliers. Parler "d'offensive islamiste", de "crise générale de l'éducation", voire "d'invasion", c'est totalement méconnaître la réalité et prendre le risque d'encourager des réflexes agressifs, voire purement racistes, contre une religion qui, comme toutes les autres, doit trouver sa place dans notre République. A l'inverse, nier le problème, adopter une politique de l'autruche, ne peut aboutir qu'à accroître, à terme, les tensions, en perdant toute chance de régler les questions, tant qu'il est encore temps, par le dialogue. Au lycée Henri- Wallon, il y a quelques années, une position de compromis avait été adoptée à une très large majorité. Fermeté et sanction lorsque le déroulement des cours est mis en cause, dialogue et recherche d'un accord au sujet du voile. Lorsqu'une jeune fille porte le voile, nous discutons avec elle et lui expliquons pourquoi, au nom de la laïcité, mais aussi des droits des femmes, nous y sommes opposés. Parfois, l'élève se range à nos arguments et accepte de retirer son voile en entrant au lycée. D'autres fois, elle rejette notre raisonnement ; dans ce cas, nous proposons un compromis en lui permettant de venir au lycée les cheveux couverts par un foulard noué derrière le cou. Cette position avait de nombreux avantages : elle nous permettait de jouer pleinement notre rôle d'enseignants en privilégiant toujours le dialogue sur la sanction, elle tenait compte d'évolutions évidentes de notre société, qui ne peut adopter formellement des règles définies par rapport à la seule religion catholique il y a un siècle. Enfin, nous pouvions ainsi établir une distinction entre le prosélytisme religieux et ce qui relève de l'acte individuel de foi, de la conviction personnelle. Le voile noir et recouvrant, tel que voulaient le porter certaines élèves, ne correspond à aucun précepte religieux (les textes ne rentrent pas dans ces détails) ni même à une tradition familiale. Il s'agit d'un habit porté dans la péninsule Arabique, alors que l'immense majorité de nos élèves musulmans sont africains. Porter une telle tenue relevait donc bien de l'acte militant. Cette position avait été très bien acceptée par toutes nos élèves et avait permis de régler tous les problèmes par le dialogue, sans jamais avoir à brandir la menace de la sanction, le lycée Henri-Wallon étant même considéré comme un établissement particulièrement ouvert sur cette question. C'est justement ce compromis, ce dialogue que nous n'avons jamais réussi à établir avec Alma, Lila et leur famille. Nous avons toujours eu le sentiment d'être face à un mur, à des personnes qui privilégiaient systématiquement le rapport de force politique et juridique à la discussion et au compromis. La médiatisation de l'événement, qui n'est pas de notre fait, son extrême politisation et le raidissement de la famille n'ont pas permis d'aboutir. Pour nous, il s'agit d'un échec. Jusqu'au dernier moment, nous avons cru à une issue positive. Cet échec prend aujourd'hui une dimension qui nous dépasse largement. Sur la base d'informations partielles ou fausses largement diffusées par les médias, nous voyons se multiplier des prises de position politiques des partisans comme des adversaires du voile, qui vont toujours dans le sens d'une radicalisation, d'un raidissement. Nous ne croyons pas - c'est du moins ma conviction - que les événements d'Aubervilliers puissent servir de prétexte à l'élaboration d'une loi interdisant le voile à l'école. Pas parce que le sujet serait en soi tabou ; mais parce qu'une telle loi, dans un tel contexte, quelles que soient les précautions prises, ne pourrait être vécue que comme une agression contre la religion de plusieurs millions de citoyens français. Et, en retour, encourager les réflexes communautaires. Nous ne sommes pas certains d'avoir raison dans nos décisions, mais nous avons la conviction d'avoir fait le bon choix en privilégiant le dialogue et le compromis, méthode qui nous a permis de traverser cette crise sans que la vie de l'établissement et le déroulement des cours en soient affectés. C'est cette voie - peu intelligible aujourd'hui, il faut bien le reconnaître - qu'il faudrait se forcer d'emprunter. Pour cela, il faudrait que la raison l'emporte sur la passion, l'explication sur l'argument d'autorité, le dialogue et l'écoute sur l'invective... Mais, après tout, n'est-ce pas là une bonne définition de ce que doit être l'école dans une démocratie digne de ce nom ? Philippe Darriulat est professeur d'histoire-géographie, ancien président de l'UNEF