Juristisches Gewissen der Republik

Zum Tod des undogmatischen Sozialisten Jürgen Seifert

Der Jurist und Politikwissenschaftler Jürgen Seifert war die personifizierte Opposition in großen politischen Auseinandersetzungen der Bundesrepublik (Spiegel-Affäre, Notstandsgesetze, RAF)...

Der nachfolgende Beitrag erschien leicht gekürzt unter dem Titel "Das Recht im Zweifrontenkrieg" in "junge Welt" vom 16. Juni 2005

Der Jurist und Politikwissenschaftler Jürgen Seifert war die personifizierte Opposition in großen politischen Auseinandersetzungen der Bundesrepublik (Spiegel-Affäre, Notstandsgesetze, RAF), nun fällt sein Tod mit dem Ende des "rot-grüne Projekts" zusammen - am 4. Juni ist Seifert 77jährig gestorben.

Werkzeugmacher von bis 1951, studierte er Rechts- und Staatswissenschaften und gehörte Ende der 50er Jahren zum Bundesvorstand des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes, mit dem er 1961 aus der SPD ausgeschlossen wurde.

Demokratie und Recht faszinierten ihn. Er erzählte, daß er - nach Hitlerjugend und Reichsarbeitsdienst - als Student fünf Stunden in einer Schlange stand, um eine Sitzung der klassischen Institution des Parlamentarismus, des englischen Unterhauses, zu beobachten. Und als er kürzlich, so berichtete jetzt sein Kollege Joachim Perels, über Gustav Radbruch gelesen hat, daß der sozialdemokratische Heidelberger Jurist einen von den Nazis aus dem Amt vertriebenen Kollegen 1940 zum Deportationszug begleitete, habe ihm das die Tränen in die Augen getrieben.

Theoretisch prägten Seifert die sozialistisch-rechtsstaatlich orientierten Juristen der Weimarer Republik und der Emigration, deren Werke durch die Studentenbewegung in den 60-er Jahren wiederentdeckt wurden und in der Bundesrepublik (nie in der DDR) erschienen, insbesondere Franz Neumann, Otto Kirchheimer und Karl Korsch. In Darmstadt war Seifert Assistent von Arkadi Gurland, der noch Organisationen der Arbeiterbewegung vor Â’33 beraten hatte. Auch Fritz Bauer, der Hessische Generalstaatsanwalt, der den Auschwitzprozeß durchsetzte, sowie Wolfgang Abendroth, Jurist, Politikwissenschaftler und erster Marxist auf einem bundesdeutschen Lehrstuhl, beeinflußten Seifert.

Sein Zweifrontenkampf richtete sich gegen bürgerliche - und in der Anfangszeit der BRD noch altnazistische - Klassenjustiz genauso wie gegen den Rechtsnihilismus von Teilen der Linken. Das IG Metall-Mitglied engagierte sich als Bürgerrechtler in der Humanistischen Union. Seifert lehrte von 1971 bis zur Emeritierung 1994 als Politikwissenschaftler an der Universität Hannover und war Mitherausgeber der seit 1968 erscheinenden Juristenzeitschrift "Kritische Justiz". Pikanterweise unterzeichneten seine Todesanzeige neben vielen Universitäts- und Gewerkschaftslinken auch vier aus jener juristischen Linken kommende Regierungsmitglieder: Edelgard Bulmahn, Bundeskanzler Schröder und sein Kanzleramtsminister Frank Steinmeier sowie Brigitte Zypries.

Seiferts 1974 erschienene Aufsatzsammlung trug den programmatischen Titel "Kampf um Verfassungspositionen - Materialien über Grenzen und Möglichkeiten von Rechtspolitik" (Restposten für 5 Euro beim Offizin-Verlag!). Wenig bekannt ist, daß er bis zu seinem Tod für die Grünen Mitglied der G-10-Kommission des Bundestages war, der die Kontrolle von Geheimdienst-Maßnahmen der Brief- und Telefonüberwachung obliegt. Praxisverbunden bot er bis zuletzt mittwochs sein "Tagespolitisches Colloquium" an.