Münte, Moses und Propheten

"Akkumuliert! Akkumuliert! Das ist Moses und die Propheten!" (MEW, Bd. 23; Kap. 22)

Manchmal kommen die Themen des politischen Sommerlochs schon im Frühjahr; erst recht, wenn Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen vor der Tür stehen. Da kann es passieren, dass Standortpatrioten wie Franz "Münte" Müntefering plötzlich den Kapitalismus, ja gar die Kapitalismuskritik wiederentdecken. Ganz recht, derselbe Müntefering und dieselben Sozialdemokraten schimpfen über das Kapital, die in den vergangenen Jahren den Unternehmen ein Steuergeschenk nach dem anderen gemacht haben und in ihrer Grundwertekommission nicht mehr über Umverteilung reden wollen. Wenn irgendetwas an der aktuellen Münteferingschen "Kapitalismuskritik" bemerkenswert ist, dann nur der Umstand, für wie blöde er offensichtlich das Wahlvolk hält.

Inhaltlich hat Münteferings Heuschreckenrhetorik mit der Kritik der Politischen Ökonomie so viel zu tun, wie Karl Marx mit Josef Ackermann: Böser Kapitalismus ist, wenn ein deutsches Unternehmen deutsche ArbeiterInnen entlässt, gute soziale Marktwirtschaft ist, wenn ein deutsches Unternehmen mexikanische ArbeiterInnen entlässt. Ganz besonders böse ist das Kapital dann, wenn Finanzinvestoren "gesunde" Unternehmen aufkaufen und zerschlagen - nur wegen des schnöden Profits.

Die IG Metall hat in der Mai-Ausgabe ihres Monatmagazins die genauso dämliche wie gefährliche Unterscheidung zwischen bösem Finanz- und gutem Produktionskapital aufgegriffen. In der Titelstory tauchen auch Münteferings Heuschrecken wieder auf - als US-amerikanische Mücken und "Aussauger". Sozialdemokratische Kapitalismuskritik entpuppt sich hier als "Kapitalismuskritik der dummen Kerls": falsch, patriotisch und arbeitsselig.

Sehr viel bemerkenswerter als solcher Unsinn sind hingegen die öffentlichen Reaktionen auf die neu-sozialdemokratische Wiederentdeckung des Kapitalismus. Seit Wochen beherrschen Müntes Ausfälle die Medien - von taz bis FAZ, von Spiegel bis FR, von Christiansen bis Maischberger. Offensichtlich kann man auch mit dummen Sprüchen gehörigen Staub aufwirbeln bzw. beredtes Schweigen - etwa bei den Grünen - erzeugen. Wenn die Fischer-Partei nichts sagt, so nicht aus Verlegenheit, sondern vor allem weil man auf Teufel komm raus eines nicht sein will: KapitalismuskritikerIn.

Sehr viel lauter gebärden sich da schon die offenen Apologeten der Marktlogik. Norbert Walter, Chefvolkswirt der Deutschen Bank, erklärt den Kapitalismus kurzer Hand zum Naturzustand: Müntefering hätte genauso gut das Gesetz der Schwerkraft kritisieren können. Selten ist der Markt so unverblümt als natürliche Form "des Wirtschaftens" und die bürgerliche Wirtschaftswissenschaft als Naturwissenschaft verkauft worden.

Anhänger im vorgezogenen Sommertheater findet der Obersozi mit dem besonders roten Schal in so ausgewiesenen Linksradikalen wie Horst Seehofer, Heiner Geißler und Norbert Blüm oder auch bei den "nachdenklichen Stimmen" in der deutschen Medienlandschaft. Sie alle treibt eine gemeinsame Sorge um, die Angst vor wachsender "Unzufriedenheit" in der Bevölkerung. Und in der Tat sind die WählerInnen seltsame Menschen. Sie wählen aus Frust über unsoziale Sozialdemokraten rechts und stimmen gleichzeitig - etwa bei der letzten Bürgerschaftswahl in Hamburg - zu 70% gegen die Privatisierung von Krankenhäusern. Mit sozialistischen Gelüsten hat solche Schizophrenie wenig zu tun, wohl aber mit einer manifesten Abneigung gegen noch mehr neoliberale Umbaumaßnahmen. Münteferings Sprechblasen sind dreiste Versuche, genau daraus Kapital zu schlagen.

aus: ak - analyse + kritik - Zeitung für linke Debatte und Praxis/Nr. 495/20.5.2005