Ein Streitaufruf
Ein Streitaufruf für eine kritische politische Bildung mit und in den Gewerkschaften.
Der Europarat hat das Jahr 2005 zum "European Year of Citizenship through Education" erklärt. In Deutschland werden im Mai vielfältige Veranstaltungen organisiert werden, in deren Mittelpunkt die politische Bildung stehen soll.
Nach der durch die PISA-Studien provozierten medialen Hektik über den Zustand unseres Bildungswesens könnte auf diesem Wege auch der politischen Bildung einmal etwas mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden.
Dass politische Bildung bedeutungslos, gar überflüssig sei - kein Politiker würde das öffentlich behaupten. Im Gegenteil. Der Satz, dass Demokratie politische Bildung brauche, gehört längst zum bildungspolitischen Standard- und Bekenntnis-Vokabular. Er hat etwas Beruhigendes. Aber Handeln und Bekenntnis stimmen nicht immer überein. In Wahrheit ist die politische Bildung, die außer- und nachschulische vor allem, gefährdet durch eine (bildungs-)politische Größtkoalition, die den Gedanken des Marktgängigen, unmittelbar Nützlichen und Verwertbaren längst auch für den Bereich der politischen Bildung entdeckt hat: Sparen und Akquirieren heißen die neuen makrodidaktischen Leitsätze, und die setzen sich scheinbar teilnehmerfreundlich und qualitätsorientiert durch.
Die EU-Kommission fördert diese marktgängige Ausrichtung der politischen Bildung, indem sie Bestrebungen forciert, diese und andere Bereiche kultureller Dienstleistungen radikal zu liberalisieren, heißt: zu ökonomisieren. Wir beobachten in den Debatten wie in der Praxis eine deutliche Tendenz, die Wirksamkeit politischer Bildung nach (betriebs-)wirtschaftlichen Kriterien zu messen. Die Frage, ob sich politische Bildungsarbeit "rechnet", steht im Vordergrund und verdrängt die Diskussion um eine zeitgemäße politische Bildungsaufgabe, die Anbietern und Adressaten mehr Angebotssicherheiten verspricht.
Der Angriff der Evaluationsforschung auf die politische Bildung
Die marktorientierte Modernisierung außerschulischer und nachschulischer politischer Bildung wurde in den letzten Jahren und wird künftig noch besonders nachhaltig vorangetrieben von einer bestimmten Art - wenn man so will - "angewandter Sozialforschung": den Qualitätssicherungs- und Evaluationsverfahren (und nicht zuletzt -Unternehmen), die inzwischen auch die Erwachsenenbildung folgenreich erobert haben. In der Realität der Betriebe sind Evaluations- und Qualitätssicherungsverfahren längst nicht mehr neu. Neu ist, mit welcher Gewissheit und Selbstverständlichkeit nun solche betriebsorientierten und betriebswirtschaftlich geformten Verfahren und Methoden auf den Bereich der öffentlich geförderten allgemeinen und politischen Erwachsenenbildung übertragen werden. Dabei folgen sie weiterhin ihrer betriebswirtschaftlichen Logik. Evaluations- und Qualitätssicherungsverfahren sind zunächst und vor allem an einem interessiert: am Sparen, Abbauen, "Runterfahren". Offenkundig ist, dass der Inhalt politischer Bildung reichlich unwichtig ist und sich die Frage nach dem Bildungsbegriff schon gar nicht mehr stellt. Erfolg und Wirkung, auch politischer Erwachsenenbildung, werden am ökonomischen Erfolg festgemacht, in den Kategorien von Markt und Dienstleistung, von Angebot und Nachfrage, von messbarem In- und Output. Und die didaktisch eigentlich spannende Frage nach der - mittel- und längerfristigen - Wirkung politischer Erwachsenenbildung wird gar nicht mehr gestellt. Als wirkungsvoll und erfolgreich gilt, was viele Teilnehmer angesprochen und was sich finanziell gerechnet hat. Schöne neue Zeiten für die politische Bildung!
Doch wir müssen nicht nur auf die unmittelbaren, oft schnell spürbaren finanziellen Wirkungen von Evaluations- und Qualitätssicherungsverfahren achten. Auf dem Beipackzettel über - von den Evaluationsverordnern möglicherweise beabsichtigte - Nebenwirkungen sollte stehen: Es gibt eine heimliche Logik des Evaluationsbooms auch in der politischen Erwachsenenbildung. Sie heißt Kontrolle, Einebnung und Anpassung. Sie sanktioniert abweichende Teilnehmerinteressen von Minderheiten, sie bestraft besondere Neugier und lässt das nicht-alltägliche Thema, den provozierenden Inhalt, den Diskurs "gegen den Strich" allenfalls kurzfristig zu, bis sich fast logischerweise herausstellt, dass sich Veranstaltungen jenseits des Mainstreams öffentlichen Interesses, d.h. in der Regel auch öffentlicher Meinung, nicht rechnen. Scheinbar gänzlich uninteressiert am Thema geben Evaluation und Qualitätssicherung scheinbar alle Themen frei und überlassen sie dem Markt. Am Ende bleibt, was gefällt: den so genannten "Kunden", die sich politische Bildung noch leisten können, den Anbietern und nicht zuletzt den kontrollierenden Finanzierern. Das Gefällige, die Meinung des Mehrheitsdiskurses und der politischen Kontrollierer wird so klammheimlich zur Leitidee im Angebot politischer Erwachsenenbildung. Affirmation ersetzt Kritik - unmerklich, ohne direkte und provozierende Eingriffe, fast naturwüchsig. Politische Erwachsenenbildung verliert Sperrigkeit und Stachel und wird so endgültig wirkungslos. Wo scheinbar wohlmeinende Politiker und "modernisierte" Fachwissenschaftler auch der politischen Erwachsenenbildung mehr Markt und ökonomisches Kalkül (also solide Kosten-Nutzen-Rechnung, Outcome-Empirie usw.) empfehlen, hat politische Erwachsenenbildung schon verloren.
Auch der gewerkschaftliche Diskurs, wie er beispielhaft und zugespitzt in der IG Metall zu beobachten ist, bewegt sich in diesem Spannungsfeld von gewerkschaftspolitischen Herausforderungen einerseits und vom Bildungsmarkt diktierten betriebswirtschaftlichen Logiken andererseits. Evaluierungs- und Zertifizierungsprozesse in gewerkschaftlichen Bildungseinrichtungen geben bisher allerdings keine hinreichenden Antworten darauf, wie man mehr Mitglieder und Arbeitnehmer für (gewerkschafts-)politische Bildungsangebote interessiert und dafür auch in den Betrieben und durch Tarifverträge ausreichende Bedingungen und Gelegenheiten schafft. So konnte etwa ohne Widerstand der Gewerkschaften das Bildungsurlaubsgesetz in NRW an das betriebwirtschaftliche Diktat der Unternehmen angepasst werden. Das Gesetz sieht nun vor, dass betriebliche Weiterbildung auf den individuellen Anspruch auf Bildungsurlaub angerechnet werden kann. Auch hier also eine Verdrängung der politischen Bildungsansprüche durch den betrieblichen, beruflichen Weiterbildungsdruck.
Schlüsselqualifikationen statt politischer Bildung?
Marginalisierung droht der politischen Bildung aber auch von anderer Seite. In der aktuellen bildungspolitischen Debatte ist eine erstaunliche Hoch- oder besser Überschätzung beruflich-betrieblicher Qualifizierung unübersehbar. Fest macht sich solche Überschätzung in der Regel an dem Konzept der Schlüsselqualifikationen und jenen eher personenzentrierten, persönlichkeits- und verhaltensorientierten Kompetenzen wie etwa Kreativität, Selbständigkeit, Selbstvertrauen, Kommunikations- und Teamfähigkeit, die sich in beruflich-betrieblichen Aus- und Weiterbildungsstrategien - teilweise zumindest - durchgesetzt haben. Aber deshalb in modernen Qualifikationskonzepten die Einlösung des Emanzipationsversprechens, der Selbstverwirklichungsansprüche der Beschäftigten zu sehen, wie es manche Theoretiker der (politischen) Erwachsenenbildung tun, das ist theoretisch reichlich kühn und empirisch unbegründet. In der Regel nämlich bleibt der betriebliche Verwendungs- und Verwertungszusammenhang dominant. Ziel betrieblicher Bildung sind immer die leistungsstarken und leistungsbewussten, teilkreativen und zugleich angepassten, mobilen, vielfach verwendbaren und verfügbaren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
Reinhold Weiß, Weiterbildungsexperte im Institut der Deutschen Wirtschaft, hat das einmal - natürlich auch um moderne Weiterbildungskonzepte und Schlüsselqualifikationen wissend - ganz unpathetisch so formuliert: "Der Weiterbildung kommt die Aufgabe zu, den Prozess der betrieblichen Leistungserstellung zu unterstützen und seine Ergebnisse zu verbessern. Die Planung der betrieblichen Weiterbildung hat sich deshalb vorrangig am betrieblichen Bedarf zu orientieren. Daraus folgt, dass betriebliche Weiterbildung weder ein Instrument der allgemeinen und politischen Weiterbildung sein kann noch Qualifikationsunterschiede aus vorangegangenen Bildungsphasen kompensieren kann." Solche Zielsetzung begünstigt in ihrer alltäglichen Konsequenz die Begünstigten und beschränkt notwendiger-, weil nützlicherweise die Vermittlung von Schlüsselqualifikationen auf die obere, allenfalls mittlere Ebene der Betriebshierarchie. Zudem bleiben Schlüsselqualifikationen - trotz eines gewissen subversiven "Bildungsüberschusses", den sie stets auch haben - eng bezogen auf den Organisations- und Interessenrahmen des Betriebes. Er bestimmt letztlich auch, wozu Kreativität, Teamfähigkeit und Kooperationsbereitschaft gut sind und eingesetzt werden sollen, er setzt der Kritikfreude und Selbstverwirklichungsabsicht der Mitarbeiter stets auch Grenzen, bisweilen engere, manchmal weitere.
Schlüsselqualifikationen statt politischer Bildung? Inzwischen wird auch im Bildungsdiskurs der IG Metall darüber gestritten, in welcher Beziehung die individuelle Kompetenzerweiterung und gewerkschaftspolitische Anforderungen stehen, welchen Stellenwert die Stärkung von, wie man es nennen könnte, "Anwendungs-Kompetenzen" für die unmittelbare Betriebsarbeit in der gewerkschaftlichen Didaktik haben soll und wie viel Zeit für Bildungsprozesse zur Verfügung stehen muss, die gesellschaftliche Zusammenhänge verstehbar und begreifbar machen. Diese Auseinandersetzung spiegelt gewissermaßen die Krisenbedingungen gewerkschaftlichen Handelns: Die Erosion des Flächentarifvertrages und die Verbetrieblichung der Interessenvertretung fördern den Trend hin zu einer Verbetrieblichung der Bildungsangebote.
Historisch wie aktuell aber begründet sich gewerkschaftlicher Handlungserfolg immer in der Dualität von betrieblicher Interessenvertretung und damit eng verknüpfter gesellschaftspolitischer Mobilisierung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Erfolgreiche gewerkschaftliche Interessenvertretung im Betrieb und politisches Mandat der Gewerkschaften sind eine Einheit und eben auch eine besonders wichtige Rahmenbedingung für gewerkschaftliche politische Bildungsarbeit.
Der flexible Mensch, Hartz IV und die politische Bildung
In seinem vielbeachteten Buch "Der flexible Mensch" charakterisiert Richard Sennett die Kultur des modernen, globalisierten Kapitalismus so: Die "Ungewissheiten der Flexibilität; das Fehlen von Vertrauen und Verpflichtung; die Oberflächlichkeit des Teamworks; und vor allem die allgegenwärtige Drohung, ins Nichts zu fallen", all das macht "die emotionalen Bedingungen modernen Arbeitens". Das so überforderte Individuum reagiert darauf u.a. mit einer überstarken Betonung des Nahen, des Lebensortes, des "Wir". Aber, so Sennett weiter: "Die Sehnsucht nach Gemeinschaft ist defensiv, sie drückt sich oft in der Ablehnung von Immigranten oder anderer Außenseiter aus - die wichtigste Architektur der Gemeinschaft ist die Mauer gegen eine feindliche Wirtschaftsordnung. Es ist eingestandenermaßen fast ein universelles Gesetz, dass das ›Wir‹ als Abwehr gegen Verwirrung und Entwurzelung gebraucht wird." Die Ethnisierung von politisch-sozialen Konflikten, als Abwehrreaktion und Versuch der Selbststabilisierung von Einzelnen und Gruppen ist eine der gravierenden Folgen. Das, was wir in den letzten Jahren und aktuell nach dem NPD-Wahlerfolg in Sachsen an Rechtsextremismus, Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit erleben, ist nicht zuletzt eine Folge der "Durchökonomisierung" der Gesellschaft im Rahmen der so genannten Globalisierung. Das solchermaßen von den "Segnungen" des neoliberalen Kapitalismus und den Folgen der Globalisierung überforderte Individuum schlägt (im Sinne des Wortes auch) zurück - und trifft den Falschen. Und eine offensive Auseinandersetzung mit den aktualisierten politischen Parolen von gestern - auch die politische Bildung könnte und müsste hier ihr Scherflein beitragen - bleibt rituell-hilflos, wenn sie dem ökonomisch-sozialen Kontext des Rechtsextremismus ignoriert.
Ohne Zweifel haben die so genannten "Reformen" in Deutschland, aktuell am Beispiel von "Hartz IV" heftig diskutiert, die Leichtigkeit, mit der sich alle etablierten Parteien - zuletzt die Sozialdemokratie - vom Leitbild der (Verteilungs-)Gerechtigkeit verabschiedet haben, und die Selbstverständlichkeit, mit der die wenigen Reichen immer reicher, die vielen Armen ärmer und die Beschäftigungsverhältnisse nicht mehr nur für eine Minderheit immer prekärer werden, die "allgegenwärtige Drohung, ins Nichts zu fallen", noch erheblich verstärkt.
Vor allem verschlechtert die Politik der AGENDA 2010, das wird an den Hartz-Gesetzen besonders deutlich, auch und gerade die Handlungsbedingungen der Gewerkschaften. Betriebliche Sanierungsziele und Erpressungspolitik der Unternehmen, das betriebliche Roll-Back in der Arbeitszeitfrage, sind unmittelbar im Zusammenhang mit "Hartz IV" zu sehen. Denn wer diese Bedrohung vor Augen hat, der wird nichts tun und alles lassen, was seinen Arbeitsplatz gefährden könnte.
Als Wahlbürger zieht der so bedrohte und verunsicherte Arbeitnehmer die Konsequenz und verweigert sich bei den Wahlen. Die herrschende Politik und die Medien ergänzen sich jeweils in ihrem Inszenierungsanspruch. Politik wird zum Theater, mit Highlights wie dem "Job-Gipfel" oder den "Hau-ruck-Reden" der gerade amtierenden Bundespräsidenten.
Die "politische Klasse" beschwert sich über die mangelnde Einsicht der Bürger, begreift und bearbeitet den "politikverdrossenen" Staatsbürger wie ein defizitäres, politisch ungebildetes Wesen. Wer die Auffassung verbreitet, zur herrschenden Politik gäbe es keine Alternativen, der ist eben auch mitverantwortlich für die Resultate. Denn zur Wahl gehören Alternativen. Gegenwärtig besteht die größte Herausforderung für unsere demokratische Kultur darin, die scheinbar alternativlosen Zeiten zu überwinden.
Utopie- und Kritikfähigkeit
Dabei gibt es durchaus Alternativen zur gegenwärtigen neoliberalen Politik, auch und gerade formuliert von den Gewerkschaften. Das "Arbeitnehmerbegehren" der IG Metall hat die betriebliche und außerbetriebliche Mobilisierung für eine andere Politik zum Ziel. Die Gewerkschaftskampagnen müssen die Betriebe und den Alltag der Menschen erreichen, und sie müssen Mobilisierungsziele enthalten, für die es lohnt, auf die Straße zu gehen. Der schwierige Weg der Gewerkschaften, gegen den übermächtigen medialen Druck des neoliberalen Mainstreams eigene Politikkonzepte öffentlichkeitswirksam einzubringen und wirksam durchzusetzen, fordert vor allem eine Ausweitung der politischen Bildungsanstrengungen, in denen betriebliches Handeln und politische Mobilisierung in ihrem Zusammenhang begriffen werden und gesellschaftliche Alternativen und Utopien wieder mobilisierend wirken können.
Politische Bildung kann keine gehobene Form des Kompetenz- und Persönlichkeitstrainings, keine methodenfixierte Sozialtechnik sein und darf sich nicht in Instruktionspädagogik erschöpfen. Politische Bildung muss den Versuch machen, kritische Kompetenz (Kritikfähigkeit gehört wohl zu den wenigen personenorientierten Schlüsselqualifikationen und "Sekundärtugenden", die nicht missbrauchbar sind!) zu stärken und vorurteilsvollen Ideologien zu wehren, indem sie Wissen, Fakten, (Gegen-)Argumente zur Verfügung stellt, Erklärungsansätze, Ordnungsgesichtspunkte und vor allem "Zusammenhänge" ausbreitet, Überzeugungen und Denkansätze sich entfalten lässt, in Frage stellt, erprobt, festigt. Eine wirklich politische Bildung nämlich muss auch zurück zu den Sachen, den Gegenständen. Wir sind den Lernenden in einer komplizierten Welt komplexer Zusammenhänge mehr, und nicht weniger Wissen schuldig, und zwar lebendiges, erschließendes, exemplarisches Wissen, Wissen, das Interessen und Konflikte nicht ausspart, sondern thematisiert, Wissen, das "Mitbestimmungs-, Distanzierungs- und Emanzipationsmöglichkeiten" gleichermaßen eröffnet. Denn Mitfühlen, Empathie und vor allem Solidaritätsfähigkeit - eine "Tugend", die zum Schaden des Gemeinwesens aus der Mode zu kommen scheint - sind, sobald man den Bereich unmittelbarer, intimer und persönlicher Erfahrung verlässt, stets auch eine Angelegenheit des Wissens, der Fakten, der Information. In der Flut wahrer, halber und falscher Informationen muss politische Bildung gerade dort, wo die Informationsquellen - wie in Kriegszeiten allenthalben üblich - absichtsvoll abgeschnitten werden, informierendes Wissen bereitstellen und so intellektuelle Einsicht vermitteln helfen, sich um theoretischen Zugriff bemühen und die Anstrengung des Begriffs nicht scheuen. Eine nicht gerade leichte Aufgabe politischer Erwachsenenbildung und allemal eine didaktische Herausforderung.
Vor allem: Wir müssen Kritikfähigkeit wieder als zentrale Kategorie politischer Bildung begreifen, auch wenn sie nach einer kurzen Blütezeit in den sechziger und frühen siebziger Jahren inzwischen in der pädagogischen Debatte ziemlich aus der Mode gekommen ist. Denn die Bilder vom individuell und gesellschaftlich gelungenen Leben entwickeln sich ja nicht - das wäre pädagogische Indoktrination - durch die Darstellung des scheinbar sicheren Guten, sondern im Vorgang der Kritik, in der radikalen Infragestellung des Bestehenden und in der Einübung des Blicks für den Widerspruch zwischen dem Anspruch, dem Gesagten und Verkündeten und dem, was Realität ist, in der Einübung schließlich des Blicks für die objektiven und realen gesellschaftlichen Widersprüche.
Und die politische Bildung muss die Dimension der Utopie wiedergewinnen und der alltäglichen Diffamierung des Utopischen entgegenwirken. Politische Bildung ist Teil einer systematischen Suche nach Alternativen für eine bessere Zukunft. Wenn es keine Alternativen mehr gibt, wenn der Kapitalismus das Ende der Geschichte ist, wenn nur noch das "kleinere Übel" zur Wahl steht, werden auch keine Diskurse mehr benötigt, die helfen, Dissens und Konsens zu klären. Dann wird der politischen Bildung der Boden unter den Füßen weggezogen. Alternative Zukunftsentwürfe sind dann nur noch lästige Störung.
Priorität politische Bildung
Schließlich und nicht zuletzt: Wir brauchen eine politische Bildung, die - eben auch im Betrieb und im Blick auf den Betrieb - neben vielen anderen Fragen das Problem von Macht und Ohnmacht, Reichtum und Armut offensiv angeht, die, statt sie ideologisierend abzuwehren, der Frage der Gerechtigkeit (auch und gerade als Verteilungsgerechtigkeit) nachgeht, die Interessen, auch die der Lernenden, aufnimmt, die Herrschaft, ökonomische Macht und Besitz problematisiert, weil sie - ein Basisproblem auch demokratischer Gesellschaften - mit (politischer) Definitionsmacht unmittelbar verknüpft sind. Wir brauchen (wieder) eine durch und durch gesellschafts-, ja kapitalismuskritische Bildung.
Politische Bildung ist aber gerade nicht das öffentliche Mega-Thema dieser Tage. Die Mittel für politischen Bildungsangebote werden seit Jahren reduziert. Es droht eine Weiterbildungslandschaft mit einigen wenigen verbleibenden Anbietern politischer Weiterbildung. Es gibt die kurzzeitige Aufmerksamkeit vor und nach Wahlen, wenn die Bürger nicht zur Wahl gegangen sind oder gar "falsch" gewählt haben, oder wenn Gedenktage dies erfordern. Im Alltag bestimmen dann Sabine Christiansen und die "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" der Arbeitgeber wieder die Qualität des politischen "Diskurses". Mit "Die Talkshow ersetzt den Ortsverein" betitelte vor einigen Jahren die "Frankfurter Rundschau" einen Artikel über die Krise der politischen (Bildungs-)Kultur in den Parteien und der Öffentlichkeit.
Heute wissen wir, dass eine Politik nach der Diktion der AGENDA 2010 nur mit einer vorbeugenden und nachhaltigen Entpolitisierung (nicht nur) der Parlamente sondern auch und gerade der Adressaten dieser Politik machbar ist. Umgekehrt gilt das gleiche. Wer Alternativen zur herrschenden neoliberalen Politik durchsetzen will, muss ein breites politisches Bildungs- und Diskursangebot mit besonders hoher Priorität ausstatten und diese als Investition, nicht als Kostenfaktor begreifen.
"Über politische Bildung reden", so hat es der Politikwissenschaftler Thomas Meyer formuliert, "nur jene, die sie machen". Um der politischen Bildung ihren Stellenwert im öffentlichen Diskurs (zurück) zu geben, müssen Wissenschaft und Bildungsträger, wie beispielsweise die Gewerkschaften, ihre arbeitsteilige Sicht aufgeben und gemeinsame Positionen in die bildungspolitische Debatte einbringen. Die Politisierung des Alltags der Menschen in Betrieb und Gesellschaft braucht Unterstützung durch politische Bildungsangebote und vielfältige (neue) Orte für alternative Diskurse, in denen sich die Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen mit anderen alternativen demokratischen Kräften beraten und öffentlich Gehör verschaffen. Die Landesarbeitsgemeinschaft der gewerkschaftlichen Bildungsstätten in NRW hat hierzu einen wichtigen Schritt getan. Mit dem im September 2004 veröffentlichten Positionspapier "Was die Weiterbildungspolitik jetzt leisten muss" (im Internet: www.dgb-bildungswerk-nrw.de) unterstreichen sie einerseits den politischen Bildungsauftrag der Gewerkschaften und fordern andererseits die Landesregierung auf, politische Bildung als demokratiesichernde Aufgabe umfassend zu fördern.
Politische (Erwachsenen-)Bildung kann kein marktkonformes Dienstleistungsgeschäft sein. Sie ist durchaus eine Bringschuld der Gemeinschaft, der Politik, gewissermaßen ein Selbsterhaltungsunterfangen demokratischer Gesellschaften - da haben die Bekenntnisformeln schon recht. Sie muss öffentlich gefördert und subventioniert werden. Aber Politik und Politiker sollten die öffentliche Förderung politischer Bildung nicht mit dem (bisweilen erkennbaren) Ansinnen verbinden, politische Bildung als Gehilfin aktueller Politik einzuspannen, als Instrument etwa, die wahlmüden Bürger trotz "Hartz IV" und anderer Zumutungen und Skandale zum Urnengang zu bewegen. Subvention ohne Instrumentalisierung - so könnte das Feld der politischen Bildung zur Nagelprobe für eine demokratische Kultur werden.
Klaus Ahlheim ist Professor am Fachbereich Bildungswissenschaften der Universität Duisburg-Essen. Veröffentlichungen zum Thema u.a.: Vermessene Bildung? Wirkungsforschung in der politischen Erwachsenenbildung, Schwalbach/Ts. 2003; Scheingefechte. Zur Theoriediskussion in der politischen Erwachsenenbildung, Schwalbach/Ts. 2004. Horst Mathes ist Leiter des IG Metall Bildungszentrums in Sprockhövel und Vorsitzender der Landesarbeitsgemeinschaft Gewerkschaftliche Weiterbildung in NRW. Beitrag zur Debatte: Priorität Politische Bildung. Sprockhöveler Werkstatt, Hamburg 2002.
in: Sozialismus Heft Nr. 5 (Mai 2005), 32. Jahrgang, Heft Nr. 288, S. 48-52.
Weitere Artikel im Heft: Redaktion Sozialismus: Abschied von der Neuen Mitte? Zur "Linkswende" der SPD; Peter Scherer: Was ist Befreiung? Gedanken zum 60. Jahrestag der Kapitulation Hitler-Deutschlands; Elisabeth Gauthier: "Nein"-Kampagne zur EU-Verfassung in Frankreich; Heinz Bierbaum: Niederlage Berlusconis, aber anhaltende Schwäche der Linken; Rossana Rossanda: PRC - Eine Neugründung in vier Akten; Oliver Nachtwey: Sozialpolitische Konturen der Marktsozialdemokratie. Armut und soziale Ungleichheit in Großbritannien; Wolfgang Brassloff: New Labour zum Dritten? Uli Cremer: Das UN-Reformpaket des Kofi Annan; Murat Çakir: Der verschwommene Blick nach rechts. Wem und wessen Interessen dient die NPD? Roland Atzmüller: Zwischen Handschlagqualität und Faustrecht. Krise und Spaltung der FPÖ in Österreich; "Was bleibt an Solidarität, wenn jeder ums eigene Überleben kämpft?" Ein Gespräch mit Rainer Einenkel, Betriebsratsvorsitzender von Opel Bochum; Stephan Krull: Tarifpolitik bei VW - Beschäftigung durch mehr Konkurrenz? Ingar Solty: Gegenhegemonie und politisches Theater. Tony Kushner - ein kurzes Portrait; Mario Kessler: Trotzkisten im antifaschistischen Widerstand; Detlef Nakath: Leben als Balance-Akt; Veranstaltungen & Internet-Links; Julia Müller/Hasko Hüning: "Willenbrock" (Filmkritik)
Supplement: Jörg Wollenberg: Pergamonaltar und Arbeiterbildung. "Linie Luxemburg-Gramsci - Voraussetzung: Aufklärung der historischen Fehler" (Peter Weiss)