Viel Arbeit für den Verfassungsschutz

in (11.06.2004)

Der Verfassungsschutz hat viel Arbeit. Alltäglich wird das Grundgesetz attackiert. Ein Bonner Strafrechtsprofessor entwickelt zum Beispiel die neue Theorie eines "Feindstrafrechts": ...

... Bestimmte Personen seien nicht resozialisierbar; für sie dürften die üblichen rechtsstaatlichen Verfahrensgarantien im Polizeirecht und Strafrecht nicht gelten (Guantanamo läßt grüßen). Ein anderer Professor - er lehrt vor jungen Soldaten an einer Bundeswehrhochschule - räsoniert über die Legitimität von Folter. Ein ehemaliger Kanzlerkandidat und kurzzeitiger Bundesfinanzminister, heute Kolumnist der Bild-Zeitung, weist solche Überlegungen nicht etwa zurück, sondern bejaht ebenfalls die Zulässigkeit von Folter. Ein Bundesminister kommt auf die Idee, Menschen, denen man weder versuchte noch vollendete Straftaten nachweisen kann, vorbeugend in "Sicherungshaft" zu nehmen. Ein Landesminister rühmt sich, nachdem er jemanden, dem ebenfalls nichts Konkretes nachzuweisen war, durch ständige polizeiliche und geheimdienstliche Überwachung und Schikanen außer Landes geekelt hat, dies sei sein bisher größter Erfolg. Ein Wirtschaftswissenschaftler, Leiter eines renommierten Forschungsinstituts, sagt voraus, daß aufgrund der EU-Richtlinie über die Freizügigkeit kriminelle "Randgruppen" aus der Slowakei, namentlich Roma, das deutsche Sozialsystem ausplündern werden.
Die Folgen? Die Professoren erklären weiterhin ihren Studenten den Rechtsstaat und die deutsche Geschichte. Der Bundesminister und der Landesminister sind vom Kanzler ausersehen, den endgültigen Text des Zuwanderungsgesetzes zu formulieren. Der Wirtschaftswissenschaftler verkündet wie bisher seine Prognosen, und der Polit-Pensionär fährt fort, die Stammtische mit seinen Erkenntnissen zu bedienen.
Also sollte man präziser sagen: Ein wirkliches Frühwarnsystem zur Aufklärung über Gefährdungen der Demokratie hätte viel Arbeit. Es müßte zusammentragen, wie Buchstaben und Geist des Grundgesetzes in tonangebenden Kreisen der Republik mißachtet werden. Aber man darf sicher sein, daß keine der oben genannten Äußerungen jemals im Jahresbericht des Bundesamtes für Verfassungsschutz auftauchen wird. Denn dieser Inlandsgeheimdienst dient seit jeher einem ganz anderen Zweck: der Repression der politischen Linken.
Die amtlichen Lauschohren wenden viel Zeit und Mühe auf, um alles, was sich links von den Jungsozialisten bewegt, minutiös zu beobachten. Auch unter einer rot-grünen Bundesregierung sind die verdienten Antifaschisten von der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) - einer ihrer Sprecher ist der frühere Rektor der Berliner Humboldt-Universität, Heinrich Fink - immer noch Gegenstand der Überwachung und werden in einem eigenen Kapitel des Verfassungsschutzberichts diffamiert. Statt Steuergelder für die Bespitzelung demokratischer Organisationen der Linken zu verschwenden, müßte ein echter Demokratieschutz seine Aktivitäten auf die Umtriebe der Neofaschisten konzentrieren. Aber die rot-grüne Bundesregierung und die ihr unterstellten Geheimdienste zeigen an der Bekämpfung dieser wirklichen Gefahr kein besonderes Interesse mehr. Von den vielen Projekten gegen rechts, die vor zwei, drei Jahren ins Leben gerufen worden sind, ist kaum noch etwas zu hören; die Mittel dafür sind schnell wieder gekürzt worden. Die Kritik am NPD-Verbotsverfahren, daß sich die regierenden Politiker damit angesichts der alltäglichen Gewalt von rechts ein Alibi verschaffen wollten, bewahrheitet sich. Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) hatte bei der Vorstellung des jüngsten Verfassungsschutzberichts sogar die Chuzpe zu behaupten, das Verfahren sei ein Erfolg gewesen und habe die rechte Szene geschwächt. Tatsächlich ist das blamable Scheitern des Verbotsantrags wohl einer der Gründe dafür, daß gerade in jüngster Zeit das Vorgehen gegen die Neonazis merkwürdig kraftlos wirkt.
Allein in Sachsen-Anhalt wurden von Januar bis Ende April bislang 39 Angriffe mit rechtsextremem oder fremdenfeindlichem Hintergrund bekannt, 25 Prozent mehr als im Vorjahr. Schleswig-Holstein steht auf dem zweiten Platz. Antisemitisch motivierte Gewalttaten haben im Jahre 2003 bundesweit zugenommen. Waren 2002 noch 3,6 Prozent aller politisch motivierten Gewalttaten als antisemitisch einzustufen, so galt dies 2003 laut Polizeistatistik schon für 4,6.
Dabei ist die offizielle Erfassung rechter Straftaten nach wie vor ein ungelöstes Problem. Im September 2000 hatten der Tagesspiegel und die Frankfurter Rundschau langjährige Recherchen der PDS-Bundestagsfraktion aufgegriffen und dokumentiert, daß seit 1990 mindestens 93 Menschen in Deutschland Opfer rechter Mörder und Totschläger geworden waren. Die regierungsamtlichen Verharmloser hatten bis dahin in ihrer Statistik nur 24 Todesopfer aufgeführt. Nun ließ sich eine öffentliche Debatte nicht mehr vermeiden. Die Innenministerkonferenz beschloß neue Kriterien für die Registrierung rechtsextremer Straftaten. Ein Kernproblem konnte aber dadurch nicht gelöst werden: Die zuständigen Länderbehörden haben nach wie vor gar kein Interesse an einer präzisen Erfassung neonazistischer Gewalt, da sie davon Schäden am Image ihres Bundeslandes befürchten. So erklärt es sich, daß die amtlichen Zahlen weiterhin deutlich - immer nach unten - von den Feststellungen der Opferberatungsprojekte abweichen. Der Verein "Opferperspektive" gab bekannt, daß sich im Jahr 2003 allein in Brandenburg 116 gewaltsame Angriffe mit rechtsextremem oder fremdenfeindlichem Hintergrund ereignet haben. Das Landeskriminalamt Brandenburg nannte 35 Vorfälle weniger, verschwieg also dreißig Prozent dieser rechtsextremen Gewalttaten.
Zu solchen Widersprüchen findet sich im Verfassungsschutzbericht kein Wort. An personellen und finanziellen Möglichkeiten, die Naziszene auszuleuchten, würde es nicht fehlen, wenn der politische Wille vorhanden wäre. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung gab am 1. Juni einen Überblick, wonach die Landesverfassungsschutzämter ebenso wie der Bundesverfassungsschutz personell erheblich aufgerüstet, die Etats kräftig erhöht worden sind. Zur politischen Rechtfertigung wird im jüngsten Verfassungsschutzbericht die islamistische Gefahr in den grellsten Farben gemalt. Nach Fehlleistungen wie neulich in Köln, wo der "Kalif" Metin Kaplan der Observation entwischte, fordern die Geheimdienstler und die vorgesetzten Politiker prompt immer noch mehr Kompetenzen, Finanzen, Stellen und Technik. Man könnte manche Satire darüber schreiben. Schutz der Verfassung ist jedenfalls nach aller Erfahrung so ziemlich das Letzte, was man von Verfassungsschutzbehörden erwarten kann.

Über staatliche Aushöhlung von Bürger- und Menschenrechten in Deutschland - zum Beispiel des Rechts auf körperliche Unversehrtheit, des Rechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung, der Versammlungsfreiheit und des schon bis zur Unkenntlichkeit eingeschränkten Fernmeldegeheimnisses - informiert aktuell, sorgfältig und anschaulich der von sieben Bürgerrechtsorganisationen gemeinsam herausgegebene "Grundrechte-Report 2004", der in diesen Tagen im Fischer Taschenbuch Verlag erscheint (222 Seiten, 9.90 Euro).

aus: Ossietzky 12/04