Überlegungen zur Eröffnung und Führung der programmatischen Debatte in der PDS

Alte Verkrustungen gehören zwar aufgebrochen. Wer aber nur den Brüchen in Programmatik und Politik das Wort redet, kann schnell bei Brüchen in der Partei landen.

Aus: Beilage zu Z 46 , Juni 2001, 3-7

Niemand kann übersehen, dass die Debatte über den Programmentwurf mit einer Vielzahl von Vorbehalten und Vorbelastungen beginnt. Wir sollten das ernst nehmen und mit bedenken, doch es sollte die von allen Seiten geforderte Debatte nicht über Gebühr belasten oder überschatten. Es sollten jedoch Lehren gezogen werden, um eine wirklich offene, gegenseitige Achtung bewahrende und den Konsens suchende Debatte über den Entwurf zu führen, was auch die Bereitschaft zu eventuellen Kompromissen einschließt - besonders nachdem ein zweiter Entwurf vorliegt.

Bei der Führung der Debatte durch den Parteivorstand und der redaktionellen Arbeit der Programmkommission am Entwurf auf der Grundlage einer basisnahen Diskussion in der PDS selbst und mit interessierten Kreisen der Öffentlichkeit gilt es, den Maßstab demokratischer Mitarbeit zu respektieren.

1.

Die Führung der PDS ist aufgefordert, die Debatte mit der Basis der Partei über die Leitungsebenen der Kreise und Länder zu führen, was vor allem Achtung und Beachtung von Vorschlägen und Argumenten bedeutet. Die Einbeziehung vielfältiger Diskussionskreise und Strukturen innerhalb und außerhalb der PDS sollte nicht durch die Brille bestimmter Medien betrachtet werden. Die Debatte braucht Öffentlichkeit. Um die herzustellen, sollten wir auf das achten, was im "Neuen Deutschland", in "Disput" und anderen linkssozialistischen theoretischen Zeitschriften diskutiert wird. Das schließt nicht aus, andere Möglichkeiten zu nutzen, denn noch gibt es in der BRD ein breites Spektrum für linke Debatten, ob nun Tages- oder Wochenzeitungen oder theoretische Zeitschriften. Die hier geführten Debatten sollten beachtet und nicht ignoriert werden.

Gelegentlich ist die Meinung zu hören, durch die ungewöhnliche Art und Weise, wie der Programmentwurf das Licht der Welt erblickte, sei die Programmkommission überfahren, ja lächerlich gemacht worden. Böse Zungen sprachen sogar von einem "Programmputsch". Solche Ressentiments scheinen mir im Moment wenig hilfreich zu sein. Es geht, nachdem das Kind nun mal auf der Welt ist und kräftig schreit, darum, dass die Programmkommission wieder in Funktion tritt und die ihr vom Parteitag übertragene Verantwortung für die Führung der Debatte und für die endgültige Fertigstellung eines Entwurfes übernimmt, der am Ende der Debatte einem Parteitag der PDS zur Prüfung und Entscheidung unterbreitet wird, was beim Stand der Dinge jedoch nicht für den Dresdner Parteitag gilt.

Die PDS ist eine nach ihrem Selbstverständnis pluralistische Partei. Daraus folgt, dass wir mit einer Diskussion zu tun haben, die sich nicht auf einen Entwurf beschränkt. Ein zweiter ist schon auf dem Tisch, und niemand mag darauf wetten, ob es bei zweien bleiben wird. Dieser Dualismus war voraussehbar, besonders, wenn die Erarbeitung eines Entwurfes drei Autoren übertragen wird, deren Intellekt, Wissen und Formulierungskunst außer jedem Zweifel steht, doch deren inhaltliche Positionen innerhalb der Partei seit Jahren mehr oder weniger stark umstritten sind. Dass sie bei der Erarbeitung abweichende Meinungen nicht berücksichtigen, ist ihr gutes Recht. Doch die im Statut und in der Geschäftsordnung der Parteitage festgelegten Prinzipien bieten die Möglichkeit, mehrere Entwürfe vorzulegen. Der Parteitag muss darüber entscheiden, welcher Antrag das Verhandlungsdokument ist.

Es scheint daher sinnvoll, wenn der Parteivorstand und die Programmkommission vor einer solchen Entscheidung die Möglichkeiten eines Konsenses ausloten. Bei einem flüchtigen Blick mag es so scheinen, als lägen Welten zwischen dem von der Parteivorsitzenden vorgelegten Entwurf und dem von Politikern und Wissenschaftlern ausgearbeiteten Papier. Doch ob die Unvereinbarkeit der Positionen so groß ist, sollte man mit Vernunft und Augenmaß prüfen, wenn sich der aufgewirbelte Staub verzogen hat .

Pluralismus und Konsens sind zwei Seiten einer Medaille. Auch die heftigste Debatte sollte nicht mit gegenseitigen Unterstellungen geführt werden. Was spricht gegen den Versuch, klar und möglichst kürzer, als bisher geschehen, aufzuschreiben, was die Partei ist, was sie will, welche Gründe sie dafür sieht, welche Forderungen sie für die Gegenwart stellt und welcher Zukunft sie sich verpflichtet fühlt?

Es ist erklärlich, wenn die drei Autoren des "Zimmer-Papiers" um Verständnis für ihren Entwurf werben. Es ist richtig, wenn die Vorsitzende der Partei bei der Vorstellung des Textes den Wunsch, die Erwartung und die Zuversicht äußert, dass am Ende der Diskussion ein besserer Text als der jetzt vorliegende stehen wird. Mit dieser Aufforderung sind an die Debatte hohe und, wie ich meine angesichts des vorliegenden Textes auch berechtigte Ansprüche gestellt.

2.

Dass ich die Arbeit am Entwurf achte, bedarf keiner besonderen Erwähnung. Ich möchte aber auch, nicht zuletzt auch aus Respekt vor dem Geleisteten, mit meinen kritischen Gedanken nicht hinter dem Berg halten.

Wenn wir unverrückbar am Sozialismus als Ziel aller unserer Bestrebungen festhalten wollen, ist noch ein Stück Gedankenarbeit zu leisten. Nach meiner Auffassung verwischen sich in dem Entwurf die Grenzen zwischen dem, was demokratisch-sozialistische Reformpolitik innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft ist und vermag und was als Alternative über den Kapitalismus hinaus weist als Gesellschaftsform eines demokratischen Sozialismus, in dem die Lebensbedingungen der Menschheit und die Entfaltungsmöglichkeiten jedes Einzelnen und jeder Einzelnen garantiert sind.

Die Vorstellung einer solchen Welt ist verlockend - doch auf dem Weg dahin werden Macht- und Eigentumsverhältnisse im Wege stehen; solche Fragen wie gesellschaftliche Demokratie, Mitbestimmung, soziale Gerechtigkeit, Solidarität, nachhaltige Entwicklung usw. werden tiefer auszuloten sein.

Das Scheitern des Sozialismus auf einen "vollständig fehlgeschlagenen Gesellschaftsversuch" zu reduzieren, geht an den aus dem 20. Jahrhundert zu ziehenden Schlussfolgerungen vorbei. Es muss erlaubt sein daran zu erinnern, dass es zwei Weltkriege gab, die ihren Ursprung in der kapitalistischen Gesellschaft, im Imperialismus hatten (übrigens ohne dass sie sich bis heute dafür entschuldigt hätte), es gab die Oktoberrevolution, ein über Jahrzehnte die Machtbalance aufrechterhaltendes sozialistisches Lager, den Zusammenbruch der Kolonialreiche, der sich ohne die Existenz des realen Sozialismus sicher nicht so schnell und gründlich vollzogen hätte, bis dieses Jahrhundert endete mit dem Zerfall der Sowjetunion, dem Kollaps der anderen sozialistischen Staaten, darunter die DDR.

Der übrig gebliebene Kapitalismus nutzt seither mittels Globalisierung seine Entwicklungspotenzen. Gegen den damit verbundenen Abbau sozialer Rechte, gegen die Zerstörung von Lebensgrundlagen, gegen die Gewalt- und Ausplünderungspolitik ist von Sozialisten ein entschiedener Gegenkurs gefordert, der Reformalternativen hier und heute aufzeigt, die so zwingend sind, dass sie auch gesellschaftlichen Rückhalt finden. Angesichts der bestehenden Machtverhältnisse ist das ein hoher Anspruch an sozialistische Programmatik.

Über den Sozialismusversuch - für viele war es übrigens mehr als ein Versuch -, gehört nicht der Stock gebrochen; die ihn wagten, gehören nicht in Sack und Asche. Selbst wenn oder gerade weil diese Alternative scheiterte, ist sie einer differenzieren Betrachtung wert. Die Versuchung, die Geschichte von ihrem Ausgang her zu betrachten, ist groß, und der 13. August, dessen 40. Jahrestag bevorsteht, bietet sich gerade dazu an. Doch könnten nicht im Sinne einer Differenzierung folgende Gedanken mitgedacht werden?

Wenn es zu jener Zeit die reale Gefahr eines Krieges gab - und die damals mächtigsten Männer der Erde, Kennedy und Chruschtschow, waren sich dessen bewusst - , dann stand die Befestigung der Grenze nach innen und nach außen dem Übergang vom kalten in den heißen Krieg entgegen. Und: Wenn sich die beiden in der Geschichte der Menschheit am höchsten gerüsteten Militärpakte an einer Grenze von der Ostssee bis zur Donau gegenüberstanden, dann lassen sich die Probleme nicht nur auf die eine Seite, den Warschauer Vertrag, und schon gar nicht auf die DDR allein reduzieren.

Das, was an der Grenze geschehen ist, ist tragisch und beschämend, doch die komplexe Wertung und wahrhaftige Beurteilung der "Mauer" und ihrer Folgen darf man nicht aus dem Munde der BRD-Richter erwarten, von wenigen Ausnahmen abgesehen. Eine gründliche Analyse der Geschichte und Politik bleibt eine Herausforderung selbstbestimmter linker Politik!

Bildersprache - so anschaulich sie ist - sollte nicht Programmsprache sein. Und was der Parteivorstand in berechtigtem Zorn anlässlich eines "Stern"-Interviews zurückgewiesen hat, sollte nicht in verfeinerter Form in den Programmentwurf geschrieben werden ... Doch auch hier gilt: Wir stehen nicht am Ende, sondern am Beginn einer auf zwei Jahre angelegten Debatte, was in dieser schnelllebigen Zeit recht lang erscheint. Den Zeitfond werden wir aber nur dann fruchtbringend nutzen können, wenn klar bestimmte Arbeitsetappen in der Diskussion abgesteckt werden.

3.

Wir sollten uns bewusst sein, die PDS ist eine Partei mit eigenem Typus - nicht zu verwechseln mit der Partei neuen Typus, wie wir sie aus dem Parteilehrjahr kannten. Es beginnt ein neuer Abschnitt der Entwicklung der Partei, das Programm stellt eine Zäsur dar: Soll ihr Programm sozialistischer werden, muss auch die Partei sozialistischer werden. So einfach ist das - und so schwierig. Wie schwierig, zeigt nicht zuletzt ein Blick in die Medien, wo wie bei Zirkusspielen im alten Rom gerichtet wird: Daumen hoch - Reformer, Vordenker, Daumen runter - Dogmatiker, Stalinist. Die ganz Bösen und Unbelehrbaren finden sich dann im Bericht des Verfassungsschutzes wieder.

Wir sollten uns so nicht unter Druck setzen und in Scharmützel treiben lassen, von denen am Ende keiner mehr den rationalen Grund kennt.

Die PDS ist zu einer Größe in der bundesrepublikanischen Gesellschaft, zu einer geschichtlichen Größe geworden. Eine sozialdemokratische Partei gibt es hier schon - eine zweite hat in dem System keinen Platz. Was die BRD braucht, ist eine wahrhaft sozialistische Partei, die glaubwürdig für Demokratie und gesellschaftliche Veränderungen steht, eine Partei, die für diese Ziele um Bündnisse wirbt, eine Partei, die dafür die Kraft der gesellschaftlichen Opposition mit aller Verantwortung wahrnimmt und sich nicht scheut, aus Wahlen entstandene Verantwortung zu tragen.

Wir sind sozusagen dabei, das Haus zu bestellen. Das Programm der Partei, das Wahlprogramm für 2002, kompetente Funktionäre in den Vorständen, Führungspersönlichkeiten auf den offenen Listen bei den Wahlen bilden objektiv eine politische Einheit. Aber alles hängt davon ab, ob es uns gelingt, die Kräfte der Partei zu bündeln und zu stärken und nicht zuzulassen, dass Überzeugungen über Bord geworfen werden, die zur Substanz dieser Partei gehören. Das so geleichterte Schiff kann auch in flachem Wasser auf Grund laufen. Bei einem Wahlergebnis von 5,1 Prozent ist nur noch ein Finger, aber keine Handbreit Wasser mehr unter dem Kiel.

Die Entwicklung von Programmatik und praktischer Politik der PDS ist ein ständiger Prozess. Jetzt gilt es, sich darüber zu verständigen, wie wir diesen Prozess auf die Höhe der Anforderungen an eine sozialistische Partei im Rahmen einer Vereinigten Europäischen Linken - die wir anstreben - heben können. Das verlangt ein neues, schöpferisches, ja auch unkonventionelles Herangehen an Fragen, die uns die Entwicklung stellt. Alte Zöpfe gereichen keinem zur Zierde. Verkrustungen gehören aufgebrochen. Doch bedenken sollten wir auch: Wer eilfertig nur den Brüchen in Programmatik und Politik das Wort redet, der kann schnell bei Brüchen in der Partei landen!