Anmerkungen zur Neuvermessung von Staat, Markt und Bildung
Bildung ist wieder ein Thema - auf Parteikongressen, bei hochrangig besetzten Konferenzen, in Reden der beiden letzten Bundespräsidenten. Wenig dagegen auf der Linken.
Bildung ist wieder ein Thema - nicht nur an den Stammtischen, dort war sie es immer, sondern auch auf Parteikongressen, bei hochrangig besetzten Konferenzen, in Reden der beiden letzten Bundespräsidenten und auf dem Unternehmerforum in Davos. Wenig dagegen auf der Linken.
Von ,,denen da oben" kommt ein atemberaubender Vorschlag nach dem anderen: Da setzt der neue niedersächsische Ministerpräsident Gabriel ganz allein eine Reformdebatte in Gang, seine Kultusministerin erfährt es aus der Zeitung, da will die gewerkschaftliche Hans-Böckler-Siftung Bildungsgutscheine ausgeben - und die Bundesbildungsministerin Bulmahn will für jeden Schüler einen Laptop.Was aber sind die Gründe und Kennzeichen dieser von oben angezettelten neuen Reformdebatte?
I. Rostiftpolitik - Ökonomisierung - Binnenoptimierung
1. Daß das Bildungswesen in allen kapitalistischen Hauptländern in einer tiefen Krise steckt, ist offensichtlich. Daß diese Krise in der Bundesrepublik besonders tief ist, erklärt sich aus den jahrzehntelang verschleppten Reformen, seit die technokratische Reform der Brandt-Ära steckengeblieben ist. Der DDR wurde nach ihrer Einverleibung das schon damals überholte Bildungssystem der BRD einfach übergestülpt. Ihr im Vergleich zu anderen Industriestaaten relativ modernes Bildungssystem (ausgebaute vorschulische Erziehung, Einheitlichkeit bis Kl. 10, polytechnischer Ansatz bis hin zum Abitur mit Berufsausbildung) hatte keinen Bestand.
2. Die in allen Bundesländern im letzten Jahrzehnt durchgezogenen finanziellen und personellen Kürzungen im Bildungsbereich, die von der neoliberalen Politik des ,,schlanken Staats" und der beabsichtigten Senkung der Staatsquote herrühren, bewirkten im jüngsten OECD-Vergleich von 29 Staaten ,,Education at a Glance" (vgl. KMK-Pressemitteilung vom 16.5.2000) ein Zurückfallen des deutschen Bildungswesens. Zwischen 1996 und 1998 sanken die Bildungsausgaben, während sie in den anderen OECD-Ländern anstiegen (um 0,2 Prozent des Brutto-Inlandsprodukts auf 5,8 Prozent). Frankreich, Korea und die USA gaben erheblich mehr als die BRD für das Bildungswesen aus. Nur wegen der Zurechnung privater Bildungsaufwendungen erreichte die BRD unter 29 Staaten Platz 15. Die 12-14jährigen SchülerInnen erhalten weniger Unterricht als im OECD-Durchschnitt, und auch in Naturwissenschaften/Mathematik z.B. erheblich weniger als in Australien und Österreich. Stiefkind ist die deutsche Grundschule: Dänemark, Norwegen, die Schweiz, Österreich geben für ihre Grundschüler doppelt so viel aus. Auch die Klassenfrequenzen sind hier viel zu hoch: Auf einen Lehrer kommen bei uns 21,6, im OECD-Schnitt nur 17,1 Grundschüler.
3. Einerseits werden in der veröffentlichten Meinung die Kinder und Jugendlichen als Störfaktor, unwürdige Kostgänger oder zu gängelnde Subjekte hingestellt. Da ist von wachsender Kinderkriminalität die Rede, von ,,monsterkids", ,,crashkids". In München heißen sie Mehmed, in Hamburg Dennis. Die Kriminalitätsstatistik wird bemüht. Sieht man genauer hin, entpuppt sie sich eher als Spiegel der Erwachsenen. Da zeigen deutsche Polizeibeamte drei- bis fünfjährige Kinder wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt, Vortäuschung einer Straftat oder umweltgefährdender Abfallbeseitigung an. Zehn Prozent der Ladendiebe sind jünger als sechs Jahre. Kinder werden offenbar zunehmend als Störfaktor in einer grenzenlosen Konsumwelt wahrgenommen.1 Andererseits importiert man aus den USA Methoden: Die Firma EDU-LINK in Kalifornien hat elf Schulen so ausgerüstet, daß Eltern sich per Paßwort jederzeit durchs Internet in die Unterrichtsstunden einklicken können, z.B. um in den halbstündlich aktualisierten Anwesenheitslisten nachzusehen, was ihre Sprößlinge machen, welche Tadel, Noten, Hausaufgaben oder Testergebnisse sie haben. Das hat den hessischen Innenminister Volker Bouffier (CDU) angeregt, die Videoüberwachung der Schulen und Schulhöfe zu fordern, um die Gewalt bei der Jugend einzudämmen.2 Es wird das Bild gemalt: Jugend = Gewalt, der mit möglichst lückenloser Überwachung beizukommen ist. Schon werden, wie in Leipzig, Plätze, an denen sich Jugendliche aufhalten, rund um die Uhr videoüberwacht. Der Präsident des ,,Zentralverbandes des Deutschen Handwerks (ZDH)", Dieter Philipp, sprach jüngst von einem ,,erfolgreichen Ausbildungsjahr" und betonte, daß aber 10-15 Prozent der Jugendlichen nicht ausbildungsfähig seien. Die Wirtschaft habe jedoch ihre Verpflichtung gegenüber der Jugend erfüllt. Bundeskanzler Schröder ,,würdigte ausdrücklich die Anstrengungen der Wirtschaft". Er ,,gehe davon aus, daß die Diskussion um eine Ausbildungsabgabe in seiner Partei nicht wieder aufkomme". Die ,,Konsenstrategie sei erfolgreich"3. Essenz der Meldung: Wer noch keinen Ausbildungsplatz hat, ist nicht ausbildungsfähig und gehört ausgegrenzt.
4. Auch andere Töne sind zu hören: Prof. Schönert (Prof. für Neuere Deutsche Literatur in Hamburg) und Frank Nullmeier (Leiter des Projekts Unientwicklung) diskutieren über die Chancen der ,,Volksuniversitäts AG" unter einer grünen Wissenschaftssenatorin in Hamburg.4 ,,Wenn die Uni sich ökonomisiert, könnte es sinnig sein, daß alle Mitglieder, Lehrende und Studierende, in bestimmter Weise ökonomisch beteiligt sind. ... Heraus käme dann eine Art Uni AG - und so wie bei VW könnte man Volksaktien für die Volksuniversität ausgeben". Der Erfurter Uni-Präsident Peter Glotz (SPD) hat vorgeschlagen, daß große Unis privatisiert werden und an die Börse gehen könnten.5 Warum so bescheiden: Das geht auch für Schule und Kitas. Mit Bildung ist also Geld zu verdienen.
Prof. Rainer Lehmann (Humboldt Uni), der viele Vergleichsuntersuchungen leitet, behauptet, daß ,,Lernmöglichkeiten von Schülern nicht voll ausgeschöpft" werden, weil ,,zentrale Akzente der Reformpädagogik" das verhinderten. Man müsse ,,das Erkenntnismonopol des einzelnen Lehrers" infragestellen.6 Vergleichsuntersuchungen als Mittel der Leistungssteigerung gegen die Reformpädagogik? Dagegen hält Prof. Tillmann (Bielefeld) fest: ,,Die Konzentration auf die Qualität von Schule drängt die Probleme ungleicher Bildungschancen in den Hintergrund" und führt zu einem ,,massiven Rückzug aus reformerischen und politiknahen ... Feldern."7
Im Jahr 2001 soll in Hamburg eine KITA-CARD für alle Kindergärten eingeführt werden, eine Art Betreuungsschecksystem. Das Jugendamt stellt diese nach Prüfung der elterlichen Arbeitsverträge aus. Sie können, je nach Betreuungszeit, bei den einzelnen Kitas eingelöst werden, die das entsprechende Geld erstattet bekommen. Man verspricht sich davon Einsparungen bei der Kinderbetreuung ohne Rechtsanspruch und mehr ,,Flexibilität im Angebot" (Senatorin Raab, SPD). Basis war eine Eltern-(Kunden-)befragung vor zwei Jahren. Die Folge: Kinder aus sozial schwächeren Familien können die Ganztagsbetreuung dann nicht mehr bezahlen, die sie aus pädagogischen Gründen bräuchten.8
5. Die Wirtschaft hat die Kaufkraft der Kinder und Jugendlichen als riesigen Markt entdeckt. Rund zehn Millionen Kinder zwischen sechs und 17 Jahren verfügten 1998 über eine Kaufkraft von 19,5 Mrd. DM.9 In Offenbach werden an 35 Schulen Fassaden, Gebäude und Schulhöfe als Werbeflächen vermietet.10 In Berlin nimmt jede achte Schule mittlerweile durch Werbung in Schulfluren zusätzlich Geld ein. Eine zweiwöchige Kampagne mit 100 Werbetafeln kostet 42.000 DM. Darauf wird für Coca Cola, Bertelsmann, für Computerspiele und Inline-Skaters geworben. ,,SCHOOL", eine Tochterfirma der ,,Junge Medien Marketing Service (JMMS)" ist dafür Spezialist. In Hamburg - alle Bundesländer haben unterschiedliche Sponsoren- und Werberichtlinien - braucht die Schulleitung Sponsorenspenden erst ab 10.000 DM der Schulkonferenz vorzulegen. Folge: Durch die neuen Finanzierungsquellen nimmt die soziale Polarisierung zu. Denn wo wird mehr geworben: An einer Schule im Villenvorort oder im Ausländerviertel? Der Einfluß der Sponsoren auf die Schule wird steigen, auch über die Schulleitungen. Das Marzahner Carl-Schiller-Gymnasium geht einen Schritt weiter. Es läßt den Umzug der Schule von der privaten ,,Schulpartner GmbH" managen, die rund 20 Berliner Schulen zunächst kostenlos einen Schulmanager zur Verfügung stellt, der sich durch Sponsorenakquisition, Schulrenovierung und Qualitätsmanagement später selbst finanziert. Ziel ist es, an Berliner Schulen ,,unternehmerisches Denken einzuführen", so die Firma, die von der ehemaligen grünen Senatorin Volkholz unterstützt wird.11
6. Die Beschäftigten im Bildungswesen gehören mit zu den ausgepowertsten Berufsgruppen. Studien der Hochschulen Flensburg, Potsdam und Lüneburg belegen, daß zwischen 56 und 60 Prozent aller Lehrkräfte aus gesundheitlichen Gründen als dienstunfähig vorzeitig pensioniert werden (bei den übrigen Landesbeamten: 27 Prozent). Während eines Vormittags mit sechs Unterrichtsstunden muß ein Lehrer etwa 6.000 Entscheidungen treffen, eine Entscheidungsdichte wie bei einem Fluglotsen.12 Aber: Die Lehrerarbeitszeit wurde in allen Bundesländern um bis zu vier Stunden auf durchsschnittlich 47,5 Stunden in der Woche heraufgesetzt.13 Im Osten wurden LehrerInnen und ErzieherInnen entlassen, überall die Klassen- und Gruppenfrequenzen heraufgesetzt. Verbilligung von Pädagogenarbeit als ,,Binnenoptimierung", zweifellos die andere Seite der Rotstiftpolitik.
II. Reformforderungen von oben
7. Vor diesem Hintergrund sind die vielfältigen ,,Reformvorschläge" von oben zu sehen; für die plötzliche ,,Reform von oben" gibt es tiefere Gründe:
- Die technische Entwicklung beschleunigt sich, vor allem durch die Computerisierung, aber nicht als linearer Rationalisierungsschub, sondern als Qualitätssprung.
- Die zerstörerische Ökonomie der Profitmaximierung weitet sich regional und in immer mehr gesellschaftlichen Bereichen aus, da sie kaum mehr klassenantagonistischen Beschränkungen unterliegt.
- Die Universalisierung der kapitalistischen Verkehrsform ist Ursache vielfältiger Probleme.14 Die politische Zielprojektion ,,Neoliberalismus" wird objektiv immer fragwürdiger (,,Scheitern des Neoliberalismus"). Weltweit wird über die Re-Regulierung durch die Politik nachgedacht.
- Der ,,shareholder value", also die Dominanz der Verwertungsinteressen der Kapitalbesitzer, verdrängt in der herrschenden Ideologie zunehmend humanistische Werte. Sie gelten als Hemmnis und werden zur Disposition gestellt.
- Die IuK-Technologie gibt dem Kapitalismus die langersehnte ,,Möglichkeit, über die bisherige Mehrwertabschöpfung hinauszugehen, indem nicht mehr nur die wertsetzende lebendige Tätigkeit selbst - in ihrer bisherigen, begrenzten Form als Lohnarbeit - unter das Kapital subsumiert wird. Vielmehr stehen wir am Beginn eines Prozesses, in dem auch die Lerntätigkeit der Subjekte selbst schon als Mehrwertabschöpfung organisiert wird."15 Der Bildungsprozeß wird zur Quelle der Wertschöpfung mit eigentümlichen Marktregeln, Bildung wird zur Ware in einem riesigen Markt16- wenn er nach marktwirtschaftlichen Regeln organisiert ist (der weitestgehend privat organisierte Weiterbildungsbereich hat in der BRD ein Volumen von 100 Milliarden DM, jeder zweite Berufstätige nimmt an irgendeiner Weiterbildungsmaßnahme teil).
Aus alledem ergibt sich eine veränderte Rolle des Bildungswesens. Die überkommenen Strukturen und vermittelten Inhalte passen nicht mehr; andere Qualifikationen sind gefragt, soll Deutschland in der Weltmarktkonkurrenz bestehen.
8. In der Konsequenz stellen sich für die Herrschenden die Aufgaben, die Kapitalverwertungsbedingungen zu verbessern, indem u.a. die Ausbildungs- und Allgemeinkosten abgewälzt und diese effizienter eingesetzt werden sowie weitere Bildungsbereiche den (Finanz-)Märkten geöffnet werden. Dazu soll die Computerisierung besser genutzt und gesellschaftliche Bereiche wie Kultur, Bildung etc. der Herrschaft der Marktkräfte unterworfen werden. Dies erfolgt u.a. über
- den Ausbau der großen Konzerne zu ,,global players", die schrittweise auch im Inneren in der Lage sind, bisherige Staatsfunktionen zu übernehmen, wie etwa das Bertelsmann-eigene Centrum für Hochschulentwicklung (CHE), das z.B. in Niedersachsen für die Landesregierung bereits die komplette Hochschulplanung betreibt;
- den Umbau des Sozialstaatssystems (Deregulierung, Senkung der Staatsquote, Privatisierung, private-public-partnership), Segmentierung der Gesellschaft (arme und reiche Regionen/Stadtteile, Förderung der Eliten, d. h. der 20 Prozent, die in Zukunft nur noch für die Aufrechterhaltung des Produktionsniveaus benötigt werden), Kommerzialisierung aller Lebensbereiche (,,born to shop") und neue Grenzziehung zwischen Markt und Staat (Einführung betriebswirtschaftlicher Elemente in alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, New Public Management, Privatisierung).
III. Das bildungspolitische Konzept der ,,neuen Mitte"
9. Der vormalige Bundespräsident Herzog hat Bildung zum ,,Mega-Thema" erklärt und in mehreren Reden gefordert, daß ,,ein Ruck durchs Land" gehe. Solch einen ,,Ruck" haben viele von der SPD/Grünen-Bundesregierung erwartet, hatte doch die SPD die ,,Verdoppelung der Ausgaben für die Zukunftsinvestition Bildung und Wissenschaft" versprochen. Im Koalitionsvertrag einigte man sich auf ,,Innovation und Qualifikation", auf ,,Nachhaltigkeit und Solidarität" und auf ,,lebensbegleitendes Lernen und Autonomie". Es ist von ,,zweiter Chance", von ,,Förderung unterschiedlicher Begabungen", ,,weniger Bürokratie und mehr Leistung", von ,,mehr Effizienz und mehr Wettbewerb" die Rede.17 Zwei Jahre nach Amtsantritt der neuen Bundesregierung zeigt das bildungspolitische Konzept der ,,neuen Mitte" deutlichere Konturen. Es ist das umfassendste bildungspolitische Umbaukonzept der letzten Jahrzehnte und eine der Säulen des Gesellschaftskonzepts der ,,neuen Mitte".
Als Steuerungsinstrument wurde unter der Leitung der Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD) das ,,Forum Bildung" installiert. Ihm gehören fast alle führenden Bildungspolitiker aller Parteien (mit Ausnahme der PDS) an, Kirchen und Gewerkschaften sind eingebunden. Ziel ist es, Konzepte für eine umfassende Bildungsreform zur ,,Qualitätssicherung und Zukunftsfähigkeit des deutschen Bildungswesens" zu entwerfen und Ingang zu setzen. Damit wird eine große Koalition in der Bildungspolitik der ,,neuen Mitte" institutionalisiert, ähnlich wie bei den Atom-Konsensgesprächen und im ,,Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerb".
10. Wir haben es also zur Zeit mit der Politik der ,,neuen Mitte"18 auch in der Bildungspolitik, zu tun. Aus ,,Unternehmergesellschaft" wurde in diesem Konzept die ,,unternehmerische Wissensgesellschaft".19 Der Umbau der Sozialordnung und ihrer ,,privatnützigen Mitgestaltung" stehen auf der Tagesordnung, nicht der bloße Abbau. ,,Kreativität und Innovation" sollen freigesetzt, Selbsthilfe angeregt, Eigenverantwortung gestärkt werden und ,,ein neuer Unternehmergeist auf allen Ebenen einziehen" (Blair/Schröder).
Viele Linke halten dies Konzept der ,,neuen Mitte" für leichtgewichtig oder verbale Lyrik. Es sollte nicht unterschätzt werden: Ernsthaft und konzeptionell schlüssig wird der ,,Dritte Weg" zwischen Wohlfahrtsstaat und neoliberalem Konkurrenzkapitalismus gebahnt.20 Das Sozialstaatssystem wird langfristig umgebaut und auf das Subsidiaritätsprinzip des Kommunitarismus umgestellt, auch das Bildungswesen. Der Staat soll nur da eingreifen, wo der Einzelne, die Familie, die Kommune nichts mehr tun können (M. Waltzer, A. Etzioni). Die Staatstätigkeit wird auf das Neue Steuerungsmodell (NStM)21 umgepolt (der ,,aktivierende Staat"- Hombach), die ,,Steuerungsfunktion von Märkten muß durch die Politik ergänzt und verbessert werden".22 Die Ambivalenz dieses Konzepts ist daran ersichtlich, daß es nicht einfach darum geht, Mängel zu verwalten oder zu beseitigen und linke Positionen vollends zu eliminieren, sondern auch um die Auflösung ständisch-obrigkeitsstaatlicher Regelungen und deren Ersetzung durch eine neue ,,private-public-partnership" - also schon um ein anderes Staatsverständnis, um eine fundamentale Strukturänderung.
1 Vgl. Frankfurter Rundschau (FR), 30.9.1999.
2 Süddeutsche Zeitung (SZ), 6. 7. 1999; Stuttgarter Zeitung., 13.10.1999.
3 Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 7.10.1999.
4 Tageszeitung (TAZ), 3.10.1999.
5 Hamburger Abendblatt, 19.10.1999.
7 Auf einer Tagung der GEW, Kassel, 26.9.1999.
8 Hamburger Rundschau, 10.10.1999.
11 Berliner Zeitung, 27.10.1999.
13 Ferien umgerechnet, vgl. neue Hamburger Lehrerarbeitszeitkommission, Abschlußbericht, Staatliche Pressestelle, 2.7.1999.
14 Dazu kann man bei Oskar Lafontaine Bedenkenswertes nachlesen: Oskar Lafontaine, Das Herz schlägt links, München, 1999, S. 199ff.
15 Ingrid Lohmann, Neoliberale Bildungspolitik, in: spw 113, 2000, S. 50ff.
16 Hans Jürgen Krysmanski auf der Arbeitstagung ,,Die Privatisierung des Bildungsbereichs - Eigentum und Wertschöpfung in der Wissensgesellschaft", Hamburg, 15.-17.6.2000.
17 Ergänzt wurden diese Passagen durch eine Flut von Gutachten, Memoranden und Denkschriften zur Bildung: Die ,,Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA)" (Positionspapier ,,Schule in der modernen Leistungsgesellschaft", 1998), die Hans-Böckler- und die Bertelsmann-Stiftung, die Landesregierung von NRW (Denkschrift ,,Zukunft der Bildung - Schule der Zukunft"), die Enquete-Kommissionen der Landtage von Sachsen-Anhalt und Hamburg sowie die gemeinsame Zukunfts-Kommission von Sachsen und Bayern taten sich hervor. Die Bertelsmann-Stiftung wurde sogar als ,,heimliches Bundeskultusministerium" bezeichnet. An Vorschlägen also mangelt es nicht. Bei CDU und FDP war Bildung Thema auf Parteitagen und ,,Chefsache".
18 Blair/Schröder-Papier, daraus auch alle anderen Zitate im Wortlaut, Maschinenschrift, SPD - Parteivorstand, ohne Datum.
19 Offe/Fuchs in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 3/1998.
20 J. Bischoff, vgl. Supplements zu ,,Sozialismus" Nr. 11/1998 und 9/1999.
21 Vgl. div. Gutachten der ,,Kommunalen Gemeinschaftssstelle"(KGSt) in Köln, 1991ff.: ,,Neue Steuerung in der Jugendhilfe", ,,Neue Steuerung im Schulwesen", ,,Controlling im NStM".
22 G. Schröder in: Neue Gesellschaft, April 2000, S. 205. Vgl. auch A. Giddens, Der dritte Weg - die Erneuerung der sozialen Demokratie, Frankfurt/M. 1999.
11. Das ,,Neue Steuerungsmodell" (NStM), das für die gesamte Staatstätigkeit, also auch für Bildung, Wissenschaft, Kultur, Jugend- und Kinderpolitik überall schrittweise eingeführt wird, ersetzt das Befehlsprinzip durch das Auftrags- und Contractprinzip, hält die Grenzen zwischen Markt und Staat flexibel, ,,zieht von der Seite her" betriebswirtschaftliche Prinzipien auch im Schulbereich ein und koppelt soziale Auffangmechanismen an deren Bezahlbarkeit (Budgetierung, Selbstverantwortung, Dezentralisierung). Die marktnahe, kostenbewußte Problemlösefähigkeit - egal ob staatlich oder privat organisiert - wird gefördert (Schule als Betrieb). Unternehmensbewährte Regelungen werden auf die gesamte Staatstätigkeit übertragen (Personalmanagement, Kundenorientierung, Kosten- und Leistungsrechnung, Budgetierung, Controlling auf der Basis permanenter Evaluation, Ranking, Benchmarking (von den Besten lernen)). ,,Politisches Benchmarking" hat Konjunktur. Vorbild für die Marktöffnung des Schulwesens sind die USA, wo sich eine große Bildungsindustrie mit profitträchtigen Werten an der Börse tummelt. Dies Konzept ist nicht, wie viele denken, auf die Kommunen oder einzelne Bundesländer beschränkt. Es ist auch ein internationales Konzept, das in und durch die EU und OECD gefördert wird. Dagegen - und nicht gegen das abgehalfterte konservativ-neoliberale bildungspolitische Konzept - gilt es jetzt Alternativen zu entwickeln und zu verbreiten.
12. Der Bildungs-, Wissenschafts-, Ausbildungs-, Kultur-, Familien- und Jugendpolitik wird von den Protagonisten der ,,neuen Mitte" eine neue Funktion und Bedeutung zugeschrieben. Deshalb wird hier auch nicht mehr einfach mit pauschalen Budgetkürzungen reagiert. Dem entspricht die Aufstockung desBulmahnschen Bildungsetats, der von der UMTS-Versteigerung profitierte. In Zukunft soll der Etat des Bildungsministeriums weiter angehoben, allerdings auch anders verwendet werden:
- Die ,,Menschen sollen ermutigt und befähigt werden, Risiken zu übernehmen und flexibel auf die Veränderungen in ihrem ökonomischen Umfeld zu reagieren". Statt ,,Gerechtigkeit im Ergebnis" soll ,,Gerechtigkeit beim Start" gegeben sein.1 Gesetzt wird darauf, Leistung durch umfassende Motivierung zu steigern.2
- Zur volkswirtschaftlichen Wertschöpfung wird nur noch ein Teil der Arbeit benötigt (20 Prozent), der aber zur größten Ressource wird (,,Humankapital"). Darum soll dort mehr investiert werden, um auf die ,,wissensgestützte Wirtschaft der Zukunft vorzubereiten" (Blair/Schröder). Es genügt nicht mehr, Familie, Bildungssystem und die Alterssicherung als ,,Zwischen- und Endlager von Arbeitskraft" zu nutzen3.
- Darum: Förderung der Elite, Aktivierung des subjektiven Faktors bei den Arbeitsplatzbesitzern, Angebot einer zweiten Chance für den Rest. Schule hätte die Kohäsion in einer Gesellschaft zu leisten, die gerade die Ausdiffenzierung von Leistungen verschärft (Böckler-Stiftung, Sachverständigenrat Bildung, 3. Gutachten) und für Identifikationsmuster und Ökonomisierung des Denkens zu sorgen (Werteerziehung). Das bedeutet auch, daß die ,,verüberflüssigten" Teile des Arbeitsmarktes (Offe) verstärkt Identifikationsmöglichkeiten erhalten müssen (,,neue nationale Identität"4). Die unteren Ränge des staatlichen, allgemeinen Bildungswesens erhalten die Aufgabe, ,,to cool out the kids", sie zur Arbeitslosigkeit zu erziehen und Warteschleifen zu legen.5 ,,Wenige gute Schulen für eine Elite - Sozialpädagogik für den Rest"6.
- Das hat seine Entsprechung auf europäischer Ebene, auf der unser Bildungswesen kompatibel gemacht werden soll. Seit 1999 (EU-Vertrag Amsterdam) ist die EU nach Artikel 146 und 150 erstmals auf den Gebieten der allgemeinen, schulischen, universitären und nicht-berufsbezogenen außerschulischen Bildung und in der Jugendpolitik sowie weiterhin der beruflichen Bildung zuständig und tätig - ohne den Bildungsföderalismus formal aufzuheben. Es geht um die Entwicklung eines europäischen Staatsbürgerbewußtseins, um die ,,Verbesserung der Bildungsqualität", die berufliche Eingliederung junger Erwachsener. Auch die ,,Sicherstellung der Wettbewerbsfähigkeit Europas, die Sicherstellung der sozialen Kohäsion und die Anpassung an die Informationsgesellschaft" werden als Ziele genannt.
- Damit verbunden sind inhaltliche Akzentuierungen und Paradigmenwechsel: Das Leitbild der Kohäsion der Gesellschaft - nicht der individuellen und kollektiven Emanzipation - wird wichtiger (Jugend als Störfaktor). Es soll ein ,,Kanon des Grundwissens" mit den ,,Eckpunkten Fachwissen, Schlüsselqualifikationen, Fähigkeit zum selbständigem Lernen"7 entstehen. Den ,,Einzelnen soll ermöglicht werden, ihre Qualifikation zu steigern und ihre Fähigkeiten auszuschöpfen" (Blair/Schröder) - nicht, sich allseitig zu entwickeln. Religionsunterricht soll verstärkt und politische Bildung neu orientiert werden.8
- Mit der Einführung des NStM in Schulen, Kitas, Hochschulen, Jugendhilfe und Kultur zieht die Ökonomisierung ein. Mit Aufgabe der bisherigen Grenzziehung (Bildung und Kultur als gesellschaftlicher Auftrag, dem Profitprinzip weitgehend entzogen) werden Deregulierung, Privatisierung und Entstaatlichung beschleunigt. Zwar wird der staatliche Bildungsauftrag nicht ganz aufgegeben - Grundversorgung und Eliteförderung bleiben - aber mit Sponsoring und der Übernahme von Methoden der Unternehmens-Leitung wird der Privatisierung Vorschub geleistet, und es werden diese Bereiche für eine antizyklisch Profite abwerfende Bildungs- und Kulturindustrie aufbereitet.9 Mit dem pädagogisch gemeinten Ruf nach (Teil-)Autonomie der Schulen, Kitas und Jugendeinrichtungen wird zwar eine Dezentralisierung und Enthierarchisierung der Bildungsinstitutionen eingeläutet, aber durch (Fremd-)Evaluationsverfahren und zentrales Controlling soll eine zentrale Steuerung computergestützt sogar noch verstärkt werden.
- Auch die internationale Ausweitung ist in die Wege geleitet: Gerade eben ist die große, standardisierte PISA-Testbatterie in über 30 Staaten aufs Bildungswesen niedergegangen (OECD). Outsourcing (Berufsschulsport, Reinigung), Bildungsgutscheine (Böckler-Stiftung) und Kinderschecks (Kitas), private und staatliche Mischfinanzierung (Schule ans Netz, Netzwerk innovativer Schulen [Bertelsmann]) gehören ins Repertoire.
Zur Zeit - und das nimmt die Öffentlichkeit zumeist als einzige Bildungsreform ,,der neuen Mitte" wahr - läuft in großem Maßstab die Ausstattung der Schulen, Hochschulen, übrigen Bildungseinrichtungen und der Bildungsverwaltung mit Computer-Hardware. Dabei wird der Bildungsbereich zwar mit steuerfinanzierter Hardware aufgerüstet, für die diese betreuenden Systemadministratoren, die Lehrerfortbildung in computergestützter Didaktik, die Schulung der SchulsekretärInnen dagegen wird kaum etwas ausgegeben. Damit wird der Boden bereitet für Computer-Software-Firmen oder Konzerne wie Bertelsmann, die - wie in den USA - dem überforderten Personal die Anwendungskonzepte liefern oder die Anwendung gleich abnehmen, gegen Bezahlung natürlich. Da sie die Software überall verkaufen wollen, ist eine neue Standardisierung vorprogrammiert. Die Verselbständigung der Bildungseinrichtungen wird so von der anderen Seite her wieder aufgehoben.
13. Die Ressorcensteuerung hat neue Züge bekommen. Quer durch die Bundesländer und Kommunen werden die folgenden Strategien verfolgt:
- PädagogInnearbeit wird verbilligt (Arbeitszeitmodelle, Herabstufungen, Planstellenkürzungen bei Frequenzerhöhungen, Arbeitszeitverlängerung, Erhöhung der Gruppengröße) und sie wird flexibilisiert (Beamtenrechtsänderungen, Einsatz je nach Kinder- bzw. Schülerströmen, Faktorisierung der Lehrverpflichtungen, Zwangsumsetzungen). Außerdem sollen die PädagogInnen aktiver werden (Erhöhung der Selbstausbeutung durch Leistungsanreize und Belebung des ,,pädagogischen Eros"), was Qualitätssicherung durch Personalmanagement genannt wird.10 Da man nicht beliebig viele Planstellen kürzen und die Lehrerarbeitszeit nicht endlos verlängern kann, wird zunehmend auf Binnenoptimierung gesetzt.
- Für Grundschulen (Halbtagsgrundschule, Aufstockung der Stundentafel) und (Elite-)Studiengänge oder privatisierte Hochschulgänge werden mehr Ressourcen mobilisiert. Die Berufsbildung wird neu geordnet (Outsourcing) und die Weiterbildung in Bildungsholdings (Hamburg) umgewandelt.
- Die technische Ausstattung der Bildungseinrichtungen (Computerisierung) wird zu Lasten der Personalausstattung verstärkt. Dafür werden zusätzlich aktivierte Gelder (Werbung und Sponsoring an Schulen, Drittmittel an Unis) eingesetzt.
14. Die alte bildungspolitische Forderung nach stärkerer inhaltlicher und konzeptioneller (Teil-)Autonomie und innerer Schulreform wird mit dem NStM verknüpft. Neue Gesetze im Schul-, Hochschul-, Kinder- und Jugendbereich haben tatsächlich mehr Kompetenzen in die Basisgremien verlagert, parallel dazu werden die Rechte der Personalvertretungen abgebaut oder unterlaufen, die Dreigliedrigkeit des Bildungswesens mutiert zur Zweigliedrigkeit (vgl. die Schulstrukur in den neuen Bundesländern, Gabriel- und D. Wunder-Vorschläge). Gleichzeitig wird den Basisgremien und Einrichtungen die Verantwortung für die konkreten Mittel-Kürzungen, die Binnenoptimierung und die Akquisition zusätzlicher Mittel aufgebürdet. Sie sind es dann, die die Kürzungen zu vertreten haben - die politische Ebene ist fein heraus (Entpolitisierung). Das Bild der Leitungskader wird verändert: Mehr Kompetenzen im Sinne von Managertätigkeiten für die Schulleitungen. Auf breiter Front wird Controlling durch externe Evaluation und Benchmarking (auch im internationalen Maßstab: PISA) aufgebaut.11
15. Dabei kommt die ,,Bildungspolitik der neuen Mitte" nicht ohne Propaganda aus. Begriffe wie ,,Modernisierung" und ,,Reform" werden besetzt, Kritiker zu ,,Traditionalisten" gestempelt. Da gibt es das ,,sich auf den Weg machen", ,,die Schule lebt", ,,die gute Schule ist wichtig, nicht die Schulart". Phantasievolle Namen für Rationalisierungsprojekte werden erfunden: TUVAS, PHOENIX, PROVI. ,,Persönlichkeitsentwicklung" wird zur ,,Personalentwicklung", ,,Demokratisierung" zu ,,Kundenorientierung", ,,Mitbestimmung" zu ,,Mitarbeiterbeteiligung", ,,Wettbewerb und Konkurrenz" zu ,,Benchmarking".
Entsprechend der ,,Konsenskultur" der ,,neuen Mitte" werden neuartige Bündnisse und Netzwerke geknüpft, mit denen der Bildungs- und Kulturbereich vielfältig durchdrungen wird: Stiftungen (Bertelsmann-, Böckler-, Böll-, Ebert-, Seidel-, Bosch-, VW- Stiftung), Netzwerke (z. B. Netzwerk innovativer Schulen), Arbeitskreise (Schule-Wirtschaft, Hochschule-Wirtschaft), Ausbildungsrunden (Runde Tische Berufsbildung), Institutionen wie ,,Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerb", Initiativkreis Bildung (Herzog), das CHE (Centrum für Hochschulentwicklung der Bertelsmann-Stiftung), das Forum Bildung (Bulmahn), die Kommunale Gemeinschaftsstelle (KGSt Köln) und zahlreiche Management-Beratungsfirmen (Kienbaum, Andersen Consulting u.a.m.). Schon wirken Industrie- und Handwerkskammern in Findungsausschüssen bei der Schulleiterbestellung selbst für Grundschulen mit (wie z.B. in Hamburg). Das läuft ohne jegliche demokratische Kontrolle und Legitimation nahezu lautlos - und bleibt dem Blick von PädagogInnen, SchülerInnen und Eltern weitgehend entzogen.
Dem kommt der von der Öffentlichkeit kaum bemerkte bildungspolitische Positionswechsel der CDU entgegen. Die CDU hat wesentliche Momente der Bildungspolitik der ,,neuen Mitte" übernommen. Sie gruppiert sie um das Feld ,,Familienpolitik". In dem 34seitigen Papier ,,Aufbruch in die lernende Gesellschaft - Bildungspolitische Leitsätze" (Münsteraner Parteitag 10./11.4.2000) stützt sich die CDU wie SPD und Grüne auf den Kommunitarismus, das Neue Steuerungsmodell und ,,private-public-partnership". Vom Leitbild des ,,schlanken Staats" wie in der Kohl-Ära ist nicht mehr die Rede. Bildung wird zur Dienstleistung umgepolt, StudentInnen werden ,,KundInnen". Wie bei SPD und Grünen wird den Schulen ,,mehr Eigenverantwortung" zugemessen, aber ,,zentrale Prüfungen" als ,,Qualitätskontrolle" und ,,Länder- und Schulvergleiche" seien der Preis dafür. Die CDU setzt stärker auf Wertevermittlung. Selbst Ganztagsschulen und mehr Geld fordert die CDU - und sie hat ihren Frieden mit der Gesamtschule gemacht. Sie darf nur nicht mehr kosten als die anderen Schularten - gemessen am output.
IV. Widersprüche, Bruchstellen, linke Alternativen
16. Die Bildungspolitik der ,,neuen Mitte" hat trotz breiter Unterstützung durch SPD, CDU und Grüne strategische Schwachstellen. An ihnen kann die Realisierung scheitern, wenn hier Gegendruck angesetzt wird.
- Chancengleichheit, Chancengerechtigkeit, soziale Gerechtigkeit und das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes werden nicht erfüllt. Diese Werte haben aber in der Bevölkerung nach wie vor einen hohen politischen Stellenwert. Hier räumt die ,,neue Mitte" ein bildungspolitisches Feld.
- Da die Halbwertszeit des Wissens und die Innovationszyklen immer kürzer werden, sind ein Lernen auf Vorrat und eine Wissensakkumulation und
-speicherung weniger denn je möglich. Lebensbegleitendes Lernen und Kompetenzentwicklung zur Problemlösefähigkeit muß dabei ökonomische, gesellschaftliche und politische Fragen beinhalten. Es ist mehr als fraglich, ob sich der damit geweckteWunsch nach verstärkter Partizipation und Mitbestimmung vermeiden läßt.
- Der ,,aktivierende Staat" der ,,neuen Mitte", das NStM und seine Elemente (von Schulprogrammerstellung bis Sponsoreneinwerbung und PISA (Evaluation und Controlling) setzen die Aktivierung des subjektiven Faktors voraus, und es wird die Akzeptanz zur zentralen Kategorie. Genau darauf haben Bildungsreformer, Protestbewegungen und Linke auch seit eh und je gesetzt. ,,Sparen muß Volkssport werden", heißt es. Was aber, wenn es das nicht wird? Wenn jede DM Kürzung mit öffentlichem Protest begleitet wird? Wenn bei den notwendigerweise an die Basis verlagerten Kompetenzen (Dezentralisierung) aktiv eingestiegen wird und von unten ein radikaldemokratisches Schulprogramm entsteht, das die Ressourcen einfordert?
17. Im Kern widerspricht die ,,Politik der neuen Mitte" linken und sozialistischen Prinzipien und Konzepten, auch in der Bildungs-, Kultur- und Jugendpolitik. Linken geht es in der Bildungspolitik um ,,individuelle und kollektive Mündigkeit" (H. J. Heydorn) - das ist etwas anderes als bewußtes, informiertes Konsumentenverhalten. Es geht um breite Allgemeinbildung für alle (G. Neuner), nicht nur um elementare Grundbildung plus Computer-User-Wissen für die breite Masse und Elitebildung für wenige. Es geht darum, den ,,Bürger zu unterstützen, eine kritische Mündigkeit zu finden" (H. J. Gamm), die ,,Aufklärung weiterzutreiben" (P. Bourdieu) - denn die Auflärung ist weder vollendet noch erschöpft, und zwar mit den Kategorien ,,Verantwortung, Autonomie und Rationalität" (H. J. Gamm). Evaluation ist als lernfördender und nicht selektiver Prozeß zu gestalten (H. Schwarz). Letztendlich kann Bildungsreform nur in staatlicher Verantwortung erfolgen (H. G. Hofmann), wenn sie multikulturell sein und Chancengleichheit für alle bringen soll. Denn warum sollten Private an einer solchen Bildungsreform interessiert sein? Nötig wäre die ,,Bearbeitung der globalen Schlüsselprobleme" im öffentlichen Bildungswesen (W. Klafki), denn Bearbeitung ist etwas anderes als affirmatives Sich-Abfinden und Sich-darauf-Einstellen. Der Bildungsbereich müßte der Ort werden, der Ruhe, Verläßlichkeit und Zeit bietet, widerstehende ,,Menschen zu stärken und Sachen zu klären" (von Hentig) und nicht zuletzt ein Ort, wo Widerständigkeit eingeübt wird - um die ,,Drift" der Menschen zu beenden, zu erschweren. Die Demokratisierung in Struktur (eine Schule für alle Kinder: die Gesamtschule), Inhalten und Methoden steht an, die Entwicklung historischen und politischen Bewußtseins (Emanzipation), die Befähigung zum Frieden und zur Realisierung der Menschenrechte, gerade angesichts wachsenden Rassismus und Neofaschismus.
Das dies alles in ein Konzept zum Ausbau des Wohlfahrtsstaates eingebunden ist, versteht sich aus dem vorher Gesagten. Beschäftigung muß stärker staatlich beeinflußt werden (öffentlich geförderter Beschäftigungssektor), die Bereiche Bildung, Kultur, Gesundheit, Jugendarbeit, Infrastruktur, Wissenschaft müssen personell aufgestockt - und das heißt: ausgebaut - werden, um die in der Produktion wegfallenden Arbeitsplätze zu ersetzen. Das heißt, hier müßte mehr Personal auf humanisierten Arbeitsplätzen eingestellt werden, denn die Arbeit mit und am Menschen nimmt an Bedeutung und Umfang zu (längere Lebenserwartung, Defizite in der familären Sozialisation, Umwelt-, Verbraucher-, Gesundheitsberatung usw.). Der Gesellschaft geht die Arbeit keineswegs aus. Dabei wäre der Impetus der gleichzeitigen Demokratisierung des staatlichen Bereichs in der öffentlichen Diskussion stärker herauszuarbeiten und mit den Betroffenen direkt vor Ort zu konkretisieren (Dezentralisierung, Anti-Bürokratismus). Das setzt eine offensive Politisierung der Basis, sowohl vor Ort wie in den einzelnen Einrichtungen (Schulen, Kitas, Lehrwerkstätten, Unis) voraus und eine neuartige Bündnispolitik mit den Betroffenen bis hin zum Bildungsbürgertum (,,Bündnis für Bildung" wie in Hamburg oder in Berlin oder in den Volksbegehren in Sachsen, Sachsen-Anhalt oder Bayern).
18. Damit aus linken Prinzipien und Konzepten eine mobilisierende alternative Politik wird, müssen demokratische und linke Reformschritte aus den aktuellen Widersprüchen und Konflikten heraus entwickelt werden. Dabei stehen die Chancen für ein linkes Reformbündnis in der Bildungspolitik gar nicht einmal so schlecht, wenn die Widersprüche bewußt gemacht werden und die Linke eine gezielte Bündnispolitik entwickeln würde. Die Linke darf sich nur nicht damit zufrieden geben, selbst eine Position erarbeitet zu haben, diese zu veröffentlichen und dann zu hoffen, daß andere von diesem ,,Politikangebot" schon Gebrauch machen werden. Warum sollten sie, zumal sie es meistens auch gar nicht kennen.
Dazu abschließend sechs Ansatzpunkte
1. Die Analyse der ,,Politik der Mitte" muß weitergetrieben werden. Es ist Schluß zu machen mit ihrer Unterschätzung.
2. Alternative Reformvorstellungen (GEW, Studenten, progressive Elternvereine, GGG, Jusos, Industriegewerkschaften, kritische Wissenschaftler, PDS) müßten breiter diskutiert und in der Analyse auf die ,,Politik der neuen Mitte" bezogen werden.
3. Emanzipation als gesellschaftspolitisches Ziel und Demokratisierung als notwendige Zivilisierung und Zähmung des globalisierten Kapitalismus gilt es stärker herauszustellen. Dazu gehören soziale Gerechtigkeit, Chancengleichheit und das Bürgerrecht auf Bildung für alle. Das wären bündnisfähige Leitvorstellungen, die den Unterschied zur ,,neuen Mitte" deutlich machen könnten.
4. Die Deregulierung und Privatisierung auch im Bildungs-, Jugend- und Kinderbereich ist überall zu stoppen und zu behindern, dagegen die gesamtgesellschaftliche Verantwortung herauszustellen, Dezentralisierung und Kommunalisierung sind zu demokratisieren.
5. Die angelegte Politisierung der Basis (Kita, Schule, Kommune) wäre von Gewerkschaften und Linken zu forcieren. Dazu gehört die Stärkung und Initiierung von Reformbündnissen und die Etablierung von ,,Widerstandszentren vor Ort"12, die vernetzt werden müßten. Warum soll man sich nicht zu einem bundesweiten Protesttag für demokratische Bildungsreformalternativen am ,,Tag des Kindes" (September 2001) verabreden? Vielleicht als ,,kids parade"?13
6. Vor allem aber dürfte nicht länger Bildungspolitik auf Schulpolitik reduziert und Spezialisten überlassen bleiben, wozu die Linke und die Gewerkschaften traditionell neigen. Sie wäre als gesellschaftspolitische Querschnittsaufgabe und Vorlauf - wie Frühwarnsystem zu begreifen.
Notwendig ist es aber auch, die linken Positionen bis ins Detail durchzudeklinieren, Unklarheiten aufzuarbeiten, Nahtstellen für Alternativen genau zu benennen, Ambivalenzen herauszuschälen, alle gesellschaftspolitische Konsequenzen zu bedenken - und sich dann konsequent zu verhalten. Das erwartet man gerade von uns Linken, nicht aber von neoliberal zerfressenen Grünen, nicht von Sozialdemokraten ,,der neuen Mitte", und auch nicht von Ideologen und Dogmatikern, die eine unbefleckte Empfängnis für möglich halten. Den neuen Opportunismus, diese modische Wendehalsigkeit und esoterische Unverbindlichkeit, die angebliche Sachzwanglogik, kann die Linke ebenso wie die Verwechslung von Ideologie mit Politik um ihrer Identität als sozialistische Linke willen nicht mitmachen.
1 Bodo Hombach, Aufbruch - die Politik der neuen Mitte, Düsseldorf 1998, S. 71, 114.
2 Vgl. Elisabeth Sundrum, Die Unternehmenskultur als Erfolgsfaktor im Wissenszeitalter, in: Politische Studien, Hans Seidel-Stiftung, 2 /1999, S. 46 ff.
3 Benchmarking-Gruppe im ,,Bündnis für Arbeit", SPIEGEL 19/1999, S. 34.
4 Kurt Biedenkopf, Zeitsignale - Parteienlandschaft im Umbruch, 1989, S. 216.
5 Vgl. D. Lenzen u.a., Protokoll derTagung der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft in Halle, 1996.
6 Von Hentig in: FR, 10.9.1999.
7 E. Bulmahn, Interview, in: Neues Deutschland, 28.9.1999.
8 Ökonomische Bildung wird verlangt, so der BDA, ebenso Konsumerziehung - Herzog (vgl. seine Rede zum Megathema Bildung); Kopfnoten sollen eingeführt (Bulmahn, Sachsen, Thüringen, Brandenburg, Niedersachsen), die Werteerziehung soll verstärkt werden (Glotz, Giesecke, Struck, Herzog).
9 Vgl. zu USA: Gita Steiner-Khamsi, Macht in der Schule, in: Schulhefte (Wien), Nr. 9/98: S. 11ff.
10 H. Lange, Staatsrat (Hamburg), Qualitätssicherung in Schulen, in: Die deutsche Schule, 2/1999.
11 Dazu ist eine an Tests und Leistungsvergleichen wie TIMSS (Studie über Mathematikleistungen) oder LAU (standardisierte Lernausgangslagen-Vergleiche in mehreren Bundesländern wie Hamburg, Rheinland-Pfalz, Brandenburg) festgemachte Qualitäts-, Leistungs- und Evaluationsdebatte losgetreten worden (KMK), die zur ,,empirischen Wende in der Bildungspolitik" (Hamburgs Schulsenatorin Raab, SPD) hochstilisiert wird. Eine neue Bürokratie (Bildungsplaner und -berater, Qualitätsmanager, Empiriker, Controller, Schulentwickler und -begleiter nebst wachsendem Schulungspersonal) entsteht neben der alten, die natürlich auch noch da ist. Das bedeutet Karrieren. Nicht umsonst wächst die Zahl der Leitungsstellen.
12 Vgl. Vorschläge aus der IG Metall und der Gewerkschaft Holz/Kunststoff in mehreren Referaten von F. Teichmüller oder G. Schlemmer. Vgl. auch G. Schlemmer in: Kapitalismus ohne Gewerkschaften? Hamburg, 1999, S. 34.
13 Es gibt ein breites Protestpotential: 48.000 Unterschriften in Sachsen für kleine Klassen, Unterschriften in Sachsen-Anhalt für Erhalt der Kita-Standards, Demonstrationen in Hamburg mit 80.000 TeilnehmerInnen und in Potsdam mit 20.000. Dabei sollte auch an unorthodoxe Formen gedacht werden (Schwerin, 1. Mai ,,Job parade", Chemnitz ,,Future and fun parade" 22.9. 1999 mit bis zu 20.000 TeilnehmerInnen).