Vor acht Jahren verabschiedete die Europäische Union ihre Lissabon-Strategie, mit der sie bis 2010 zum "wettbewerbsfähigsten und
dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt" werden will. Für Kritiker ist diese Strategie eine soziale Abrißbirne, die Arbeitsplätze vernichtet, Arbeitssuchende in prekäre Beschäftigungsverhältnisse zwingt und den EU-BürgerInnen nicht nur neue Steuerlasten, sondern auch finanzielle "Eigenverantwortung" für die Alters- und Gesundheitsversorgung aufbürdet, den Konzernen aber Riesengewinne beschert. Offenbar sollen ausgerechnet die EU-Länder mit den niedrigsten Sozialstandards Vorbilder für andere Mitgliedsstaaten sein. Damit "Arbeit sich wieder lohnt", werden europaweit die Sozialleistungen bis an den Rand des Existenzminimums gedrückt. Der Hinweis auf die notwendige "Wettbewerbsfähigkeit" in Zeiten der Globalisierung suggeriert, daß Angleichung der Löhne nach unten die einzige Möglichkeit sei, in der Konkurrenz mit Billiglohnländern zu bestehen.
Mit Hartz IV und Agenda 2010, mit den Mini- und Ein-Euro-Jobs, der Rente mit 67, der Gesundheitsreform und der 2002 beschlossenen Abschaffung der Versteuerung von Gewinnen aus dem Verkauf von Unternehmensbeteiligungen hat Berlin die bisherigen Lissabon-Vorgaben sehr gut erfüllt. In der EU gilt die deutsche Regierung als Vorkämpferin des Neoliberalismus. Und was sie auf der nationalen Ebene nicht durchsetzen kann, das muß auf der europäischen geregelt werden.
Ab März wird die Lissaboner Abrißbirne auch hierzulande noch härter zuschlagen. Dann wird der Europäische Rat auf seiner Frühjahrstagung in einem "neuen Zyklus der Lissabon-Strategie" weitere "Reformen" beschließen: neben dem vielbeschworenen Wettbewerb und der Vollendung des Binnenmarkts auch die "Modernisierung der öffentlichen Verwaltung" und "Flexicurity".
Öffentlich-Private Partnerschaften (ÖPP) sollen die "Modernisierung der öffentlichen Verwaltung" vorantreiben - mit EU-Förderung durch günstige Kredite der Europäischen Investitionsbank (EIB). Wie das abläuft, zeigt sich schon in Würzburg. Dort wurde die Bertelsmann-Tochter Arvato Government Services im April 2007 offizieller Partner der Stadtverwaltung, die neu organisiert werden soll. Mit diesem ÖPP-Projekt steigt Arvato erstmalig in den deutschen Markt ein und kann hier Erfahrungen aus Großbritannien verwerten. Seit der Amtszeit von Margaret Thatcher werden in Großbritannien Straßen, Krankenhäuser, Gefängnisse, Altenheime und Sozialwohnungen unter Mitwirkung der Privatwirtschaft gebaut und unterhalten.
Arvato hat im Jahr 2005 die kommunale Verwaltung von East Riding übernommen, einer mittelgroßen britischen Stadt mit 325.000 Einwohnern. Die Bertelsmann-Tochter zog unter anderem lokale Steuern ein, zahlte Subventionen und Beihilfen aus, übernahm die Lohn- und Gehaltsabrechnungen wie auch das Management der 14 Bürgerbüros und beschaffte die erforderliche Informations- und Kommunikationstechnik.
Bei solchen Öffentlich-Privaten Partnerschaften wird im Gegensatz zu reinen Privatisierungsgeschäften nichts verkauft. Die öffentliche Hand verpflichtet sich, 20 bis 30 Jahre lang für die Verwaltungsaufgaben, die sie an ein Unternehmen vergibt, zu zahlen. Der Privatisierungsexperte Werner Rügemer sieht darin keine Partnerschaft, sondern eine einseitige Gewinnversicherung für private Unternehmen, die ihre Profite maximieren wollen. Arvato ist mittlerweile der profitabelste Bereich des Bertelsmann-Konzerns geworden.
Neben der Neuauflage der Lissabon-Strategie nahm der Europäische Rat im Dezember 2007 auch den Vorschlag der EU-Kommission für "Flexicurity-Grundsätze" an. Diese Wortschöpfung aus flexibility (Flexibilität) und security (Sicherheit) suggeriert, daß der Arbeitsmarkt trotz flexibler Arbeitsverhälrnisse und ausgehöhltem Kündigungsschutz noch einige Sicherheit biete. Laut Bundesratsbeschluß profitieren besonders "Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber von mobilen und flexiblen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Sie können schneller auf verschiedene Wirtschaftslagen reagieren und ihre Betriebe so im globalen Wettbewerb konkurrenzfähig halten." Aber auch Arbeitnehmern kämen "Maßnahmen flexibler Arbeitszeitgestaltung und Qualifizierung zugute".
2008 sollen in allen EU-Mitgliedstaaten Flexicurity-Strategien unter Beteiligung der "Sozialpartner" und der "Zivilgesellschaft" diskutiert und entwickelt werden. Deren Einbeziehung ist darum wichtig, weil sie "das Bewußtsein der Bürger für die Flexicurity-Maßnahmen und deren Bedeutung für die Reform der europäischen Wirtschafts- und Sozialmodelle" schärfen, also die Akzeptanz weiterer "Reformen" in der Bevölkerung fördern sollen. Damit niemand in Deckung geht, um Hilfe ruft oder Widerstand leistet, wenn die Abrißbirne naht.