Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg

Buchbesprechung: "Unsere Opfer zählen nicht". (Hg. Rheinisches JournalistInnenbüro), Berlin: Assoziation A, 2005, 444 S., 29,50 Euro.

Acht neue Schulbücher hatte das japanische Erziehungsministerium am 5.April dieses Jahres zum Druck freigegeben. Deren geschichtsrevisionistischer Inhalt löste bekanntlich Massenproteste in Großstädten an der chinesischen Ostküste aus: 10000 Menschen vor der japanischen Botschaft in Peking, 20000 in Shanghai und 30000 in Shenzhen. Damit wurden auch hier die Kriegsverbrechen Japans in Erinnerung gerufen, bei denen zwischen 20 und 30 Millionen Chinesen getötet wurden.
Für diese Opfer wie für die aus vielen anderen kolonialisierten Ländern gilt, dass sie "nicht zählen", zumindest nicht in der gängigen europäischen Geschichtsschreibung. Darauf macht ein neues Buch über die "Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg" aufmerksam, mit dem das Rheinische JournalistInnenbüro nach zehnjähriger Recherche die bis heute wohl größte Lücke in der Geschichtsschreibung über den deutschen, italienischen und japanischen Faschismus zu schließen beginnt. Das zahlreich bebilderte und auch auf Schilderungen von Zeitzeugen gestützte Werk dokumentiert, inwieweit "auch die deutsche Wehrmacht Hunderttausende Soldaten aus Nordafrika, dem Nahen Osten, Indien und den besetzten Provinzen im Süden der Sowjetunion an der Front [einsetzte]. Und die Befreiung Deutschlands vom Faschismus", heißt es im Vorwort weiter, "war nicht zuletzt den Millionen Menschen aus der Dritten Welt zu verdanken, die ihr Leben riskierten oder gefallen sind. Unter denen, die 1945 das letzte Aufgebot der faschistischen Wehrmacht niederrangen Â… waren Soldaten aus Nord-, West-, Ost- und Südafrika, Araber und Juden aus Palästina, Inder und Pazifikinsulaner, Aborigines und Maori, Mexikaner und Brasilianer, Afroamerikaner und Native Americans."
Auf den über 400 Seiten erfährt immer wieder Neues aus einem nicht nur in der deutschen Literatur bislang nahezu völlig verschwiegenen Thema. Da sind die jüdischen Ghettos im japanisch besetzten Shanghai; da ist Siam, 1939 nach der dominanten Bevölkerungsgruppe in Thailand umbenannt, dessen Staatsoberhaupt Phibun ein Bewunderer Hitlers und Mussolinis war; da ist der deutsche Angriff auf die phosphatreiche Pazifikinsel und deutsche Ex-Kolonie Nauru; da sind aber auch die Streiks und Revolten gegen schlechte Bezahlung und lebensgefährlichen Arbeitsbedingungen etwa im britisch geführten Solomon Island Labour Corps. Letzteres verweist darauf, dass sich viele der Millionen aus allen Erdteilen nicht freiwillig der Allianz gegen den Faschismus anschlossen, sondern zwangsweise rekrutiert wurden.
Erfreulicherweise geht das Buch inhaltlich über das hinaus, was der Titel verspricht; denn in vielen Ländern gab es unter den Kolonialisierten nicht nur massenhaft Opfer, sondern auch Akteure, die sich bewusst für den antifaschistischen Widerstand entschieden. Aber auch die Kollaboration der Unterdrückten mit dem (NS- )Faschismus hat es gegeben - eine Widersprüchlichkeit, die das Buch durchgehend deutlich macht und damit ein vereinfachendes Geschichtsbild vermeidet.
Umso mehr Respekt verdienen diejenigen aus den ehemaligen französischen und britischen Kolonien, die sich zum Kampf gegen den Faschismus vorübergehend den Truppen der Kolonialmächte anschlossen, um diese anschließend wieder zu bekämpfen. Und umso widerwärtiger etwa der 9.Mai 1945 in Algerien, an dem das französische Kolonialregime auf eine Feier anlässlich der Befreiung vom Faschismus schießen ließ, als dort neben Flaggen der Siegermächte auch algerische gezeigt wurden und die Demonstrierenden ein Ende der französischen Besetzung forderten. Bis zu 45000 Tote bei Revolten in den folgenden Tagen drückten Frankreichs Dank für rund 200000 Algerier aus, die in französischen Uniformen an die vordersten Fronten geschickt worden waren. Weitgehend unbeachtet blieb im Übrigen zuletzt eine Demonstration Tausender Algerier am 8.Mai 2005 in Paris anlässlich des historischen Massakers.
Solcherlei Protest zeigt, dass der Stoff heute neben der geschichtlichen Aufarbeitung auch beste Anknüpfungspunkte für Forderungen nach umfassender Entschädigung bietet. In einer internationalistisch und antifaschistisch ausgerichteten Kampagne läge also allemal genug politischer Zündstoff - aber auch Potenzial für kontroverse Debatten. Denn in dem Maße, wie das Buch über die Forschungsergebnisse hinaus als Diskussionsgrundlage zu verstehen ist, wirft es auch strittige Fragen auf - etwa die nach den Eckdaten des Zweiten Weltkriegs. Deren Begrenzung auf 1939 bis 1945 verwerfen die Herausgeber als eurozentristisch und verweisen darauf, dass Italien 1935 in Äthiopien einmarschierte, Japan 1937 die Mandschurei besetzte und in China der Krieg erst 1949 mit dem Sieg der Volksarmee Mao Zedongs über die Truppen Chiang Kaisheks endete. Diese Argumentation scheint aber selbst auf der legitimen methodischen Grundlage des Autorenkollektivs, die Opfer und Gegner aller drei Achsenmächte zugleich in den Blick zu nehmen, fragwürdig. Denn im April 1945 wurde Mussolini das Ende bereitet, im Mai das Nazi-Regime endgültig zerschlagen und im September kapitulierte Japan. In China ist der folgende Bürger- bzw. Guerillakrieg kaum dem Zweiten Weltkrieg zuzurechnen, zumal die KP und die Guomingdang-Regierung gegen Japan noch ein Zweckbündnis eingegangen waren. Zugleich spricht einiges dafür, den epochalen 1.September 1939 als Beginn des Zweiten Weltkriegs aufrechtzuerhalten: Zum einen lassen sich die Raubzüge und Massaker Italiens und Japans auch als Ausdruck des permanenten Kriegszustandes begreifen, in dem sich der Kapitalismus bzw. Imperialismus nun einmal befindet; und zum anderen sollte die Hauptverantwortung für den globalen Krieg weiterhin beim faschistischen Deutschland verortet werden. Damit soll v.a. der Vernichtungsfeldzug Japans gegen China keinesfalls verharmlost werden - allein bei dem Massaker in Nanking von 1937 kamen "mindestens 370000" um.
Doch solcherlei Kritik ist angesichts der herausragenden Bedeutung des Werkes konstruktiv zu führen. Bleibt nur noch die Anekdote, dass der Rezensent dereinst als Kind jemanden fragte, wieso der Zweite Weltkrieg denn so heiße, wenn doch "nur" Europa, die USA und die Sowjetunion daran beteiligt waren. "Das ist doch fast die ganze Welt und außerdem war ja der Rommel auch in Afrika", so die Antwort. Jahre später liegt nun eine erste umfassende Antwort auf die Frage vor. Sie sollte zum Schulbuch werden - nicht nur in Japan.