In der "Gedenkkultur" findet seit einiger Zeit die große Reform statt, wenn auch mit weniger Getöse als bei der Zerstörung der Risikovorsorge. Der 1. September soll ein Tag wie jeder andere werden.
Unterdessen existiert kaum etwas, das nicht "reformiert" würde. Sieht man einmal von den Eigentumsverhältnissen ab; aber sogar die werden umgebaut: Immer weniger Menschen gehört immer mehr.
Selbst in der "Gedenkkultur" findet seit einiger Zeit die große Reform statt, wenn auch mit weniger Getöse als bei der Zerstörung der Risikovorsorge. "Wer noch einmal eine Waffe anrührt, dem soll die Hand verdorren", lautete ein parteiübergreifender Politikerspruch der unmittelbaren Nachkriegszeit. Der Bezug war jedem klar: Es war der am 1. September 1939 begonnene Krieg, der ohne millionenhafte Beteiligung waffentragender Männer nicht zu führen gewesen wäre. Wenig später jedoch ließ die Wiederbewaffnung in Ost und West diese Devise in die Asservatenkammer wandern. Nun hieß es - immer noch mit Blick auf den 1. September - "Nie wieder", und jeder verstand: "Nie wieder Krieg".
Rot-Grün hat schon in seiner ersten Legislaturperiode Deutschland von derlei Zumutungen befreit; es geht wieder pflichtbewußt zu: Der 1. September soll ein Tag wie jeder andere werden. Doch da Ewiggestrige es nicht lassen können, in der Vergangenheit rumzustochern, muß auch hier reformiert werden. Den Deutschen soll endlich Gerechtigkeit widerfahren. Dazu muß der Nazifaschismus langsam in der Geschichte versinken und an Relevanz für das heutige Handeln - sei es wirtschaftlicher, politischer oder militärischer Natur - verlieren. Das kann dauerhaft natürlich nur gelingen, wenn man die Deutschen vom Kainsmal des Verbrechens befreit. Was so schwierig übrigens nicht ist - vorausgesetzt man nimmt den "richtigen Standpunkt " ein und diskutiert den Krieg von seinem Ende her. Da bleiben auf deutscher Seite fast nur Opfer übrig.
Beispiel 1: Stalingrad und der deutsche Soldat, der umkam oder - noch schlimmer - in der Gefangenschaft erfror beziehungsweise verhungerte, zusammen mit seinen sowjetischen Bewachern (was aber uninteressant ist und deshalb nicht erwähnt zu werden braucht). Lange fiel das Gedenken nicht so inbrünstig aus wie im Februar dieses Jahres. Daß die deutschen Soldaten nicht via Reisebüro eines sowjetischen Veranstalters nach Stalingrad gelangt waren, hörte man allerdings höchstens am Rande. Das diesjährige Jubiläum war gut vorbereitet: Seit Sommer 2002 hatte sich nicht zuletzt der Deutschlandfunk, unterstützt von Prominenten wie Hans-Dietrich Genscher, engagiert, das Schicksal der einzelnen Soldaten freizulegen und ihnen ihr Gesicht wiederzugeben. Es wurde bei den Hörern um Materialien, Fotos, Briefe und Tagebücher nachgesucht. Der Sache war Erfolg beschieden: Der 70. Jahrestag der Machtübergabe an die Nazis verschwand fast vollständig hinter dem 60. Jahrestag der Niederlage von Stalingrad. Am "Zentrum für Zeitgeschichtliche Forschungen " in Potsdam empfand man es sogar als geschmackvoll, die Stalingrad-Konferenz am 30. Januar durchzuführen.
Beispiel 2: Der Bombenkrieg gegen die deutsche Zivilbevölkerung. In seinem Buch "Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940 bis 1945" (2002) erzählt Jörg Friedrich kaum etwas, was nicht seit Jahrzehnten bekannt wäre. Trotzdem wurde der Titel "hochgeschrieben " - und prompt ein Riesenerfolg. Denn das Buch bedient die Melodie: die Deutschen als Opfer. Daß vorher Guernica, Warschau, Le Havre, London und so weiter samt dortiger Bevölkerung eingeäschert wurden, hat natürlich von den Deutschen niemand gewußt, genausowenig, wie man etwas von der Judenverfolgung und von den Greueln während des Feldzuges gegen die Sowjetunion erfahren hatte, auch wenn seit spätestens 1944 die stehende Redewendung bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit lautete: "Genieße den Krieg, der Frieden wird furchtbar."
Manchmal ist es nicht von Nachteil, in vergilbten Nazi-Schwarten nachzublättern. Wenn man dafür nicht viel Geld ausgeben möchte, besucht man am besten Antiquariate im Ausland. In diesem Sommer fielen mir im südböhmischen Jindrichuv Hradek zwei ausgesprochen bemerkenswerte Entäußerungen zum Thema Bombenterror in die Hände: "Unsere Flieger über Polen. Vier Frontoffiziere berichten", versehen mit instruktiven Fotos und stolzen Bildunterschriften ("So sah es in dem von Stukas angegriffenen Sulejow aus"). Die Auflage erreichte 1939 übrigens noch das 80. Tausend. Nicht minder zu empfehlen: "Hölle über Frankreich. Unsere Luftgeschwader im Angriff", 1940, gleiche Ausstattung: "Strategisch wichtiger Ort in Nordfrankreich, den die Luftwaffe erfolgreich mit Bomben belegte". Der Autor - Jupp Müller-Marein - nannte sich nach 1945 Joseph Müller- Marein und zählte zu den antifaschistischen Vorzeigejournalisten der Bundesrepublik.
Beispiel 3: Die Vertreibungen aus Osteuropa und Ostdeutschland. Hier spielt die FAZ seit Anfang der neunziger Jahre eine Vorreiterrolle. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte deren Kampagne - vor allem gegenüber Tschechien - im ersten Halbjahr 2002: Einer der Herausgeber forderte ein Junktim zwischen EU-Beitritt und Aufhebung der Benes-Dekrete. Im Frühsommer 2002 brach die Kampagne allerdings ziemlich jäh ab. Die damalige tschechische Regierung hatte überzeugend signalisiert, sich nicht erpressen lassen zu wollen. Die wirtschaftlichen Interessen der deutschen Eliten an einem tschechischen EU-Beitritt wogen letztlich schwerer. Doch das Thema ist nicht aufgehoben, es ist nur aufgeschoben. Edmund Stoiber spielt weiter auf diesem Instrument, Friedrich Merz kümmert sich neuerdings um Polen.
UTOPIE kreativ ist immer noch nicht in der Bundesrepublik des Opferkultes angekommen; wir werden auch künftig den Krieg von seinem Anfang her diskutieren, und der begann am 1. September - mit polnischen Opfern.
in: UTOPIE kreativ, H. 155 (September 2003), S. 787-788
aus dem Inhalt
Essay MAX KOCH Die Krise der Demokratie in Chile, Wirtschaft & Politik ANJA LAABS Subventionierter Hunger, OLIVER SCHÖLLER "Bertelsmann geht voran!", JÜRGEN KLUTE Mitbestimmung und Wirtschaftsdemokratie, JOCHEN EBEL, BERTHOLD KÜHN Reduzierung der Arbeitslosigkeit durch Verkürzung der Arbeitszeit Programmdiskussion: Gretchenfrage Eigentum ULRICH BUSCH Eigentumskritik und alternative Gestaltungsoptionen, HANS-GEORG TROST Die Eigentumsfrage in der Programmdebatte der PDS, Interview PATRICK CUNINGHAME Für eine Untersuchung der Autonomia Interview mit Sergio Bologna, Standorte THOMAS KACHEL, JULIA SCHARF Soziale Sicherheit für Europa!, Konferenzen & Veranstaltungen SILKE VETH "Fünf Stunden mehr für Liebe und Verkehr", Bücher & Zeitschriften Stefan Bollinger, Ulrich van der Heiden (Hrsg.): Deutsche Einheit und Elitenwechsel in Ostdeutschland (GÜNTER KRAUSE), Dan Jakubowicz: Genuss und Nachhaltigkeit. Handbuch zur Veränderung des persönlichen Lebensstils. (ARNDT HOPFMANN), Werner Sombart: Nationalökonomie als Kapitalismustheorie. Ausgewählte Schriften, hrsg. von Alexander Ebner und Helge Peukert (ULRICH BUSCH), Hanna Behrend: Demokratische Mitbestimmungsrechte unter DDR-Bedingungen. Die ambivalenten Strukturenan den Universitäten (ANNELIESE BRAUN), Michael Brie, Michael Chrapa, Dieter Klein: Sozialismus als Tagesaufgabe (KLAUS-DIETER WÜSTNECK), Theodor Bergmann, Wolfgang Haible, Gert Schäfer (Hrsg.): Geschichte wird gemacht. Soziale Triebkräfte und internationale Arbeiterbewegung im 21. Jahrhundert (MARIO KESSLER), Moshe Zuckermann: Zweierlei Israel. Auskünfte eines marxistischen Juden an Thomas Ebermann, Hermann L. Gremliza und Volker Weiß (BENNO HERZOG)