Bildung zwischen Anspruch und Kommerz

Monatelang war die PISA-Studie ein wohlfeiles Sujet für Schlagzeilen und Talkshows. Man mußte sie nicht selbst gelesen haben, um darüber reden zu können ...

Monatelang war die PISA-Studie ein wohlfeiles Sujet für Schlagzeilen und Talkshows. Man mußte sie nicht selbst gelesen haben, um darüber reden zu können; daß darin dem deutschen Schulwesen ein bedenkliches Zeugnis ausgestellt wurde, hatte sich rasch herumgesprochen, und die von den Erfindern der Kurzbezeichnung gewiß beabsichtigte Assoziation mit der bekannten italienischen Stadt, die jedermann den schiefen Turm als Metapher für den Zustand der deutschen Schule nahelegte, tat ein übriges, um den Reiz des Diskurses zu steigern. Freilich, mit Pisa hat PISA bis auf den Gleichklang der Worte nichts zu tun; PISA ist die Abkürzung für Programme for International Student Assessment, ein Programm der international vergleichenden Bildungsforschung, das alle früheren Vorhaben auf diesem Gebiet in mehrfacher Hinsicht in den Schatten stellt. Hermann Lange, Vorsitzender des von der Kultusministerkonferenz der Länder berufenen deutschen PISA-Beirats, nennt PISA die "bisher umfassendste und differenzierteste Vergleichsuntersuchung zum Leistungsstand von Schülerinnen und Schülern" (Baumert et al.: 13).

Alarmistische Reaktionen auf deutsche Rückstandsbefunde (die übrigens nur einen kleinen Teil des gesamten Forschungsertrages darstellen) sind zwar verständlich, bleiben aber an der Oberfläche. Die substantiellen Mängel, die dem deutschen Schulwesen attestiert werden, sind nicht von heute auf morgen entstanden und werden sich auch nicht durch ein paar hurtige Maßnahmen beheben lassen. Das Bildungswesen befindet sich weltweit in einem säkularen Umbruch, der in den USA und in England bereits in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts eingesetzt hatte und seit dem Ende des "Realsozialismus " in Europa mit wachsender Intensität eine immer größere Zahl von Ländern erfaßt.

Sehr vergröbernd, aber doch auf das Allerwesentlichste zugespitzt, kann man diesen Umbruch als Dreiklang von Computerisierung, Privatisierung und Globalisierung kennzeichnen. PISA bildet nur einen Aspekt des Prozesses ab, aber dieses Bild besticht durch Detailliertheit und Tiefenschärfe. Es empfiehlt sich, die Lektüre der Studie mit der Kenntnisnahme kritischer Literatur zu verbinden, die den aktuellen Transformationsprozeß des Bildungswesens mit seinen Potenzen, Tendenzen und Ambivalenzen insgesamt in den Blick nimmt. Ein Buch, das dafür in Frage kommt, ist der von Ingrid Lohmann und Rainer Rilling herausgegebene Band. Er wurde nicht als ein Kommentar zur PISA-Studie geschrieben, doch im Nachhinein kann er streckenweise durchaus so verstanden werden.

Die Bildungssphäre als sensibelster Bereich gesellschaftlicher Selbstreproduktion spiegelt seit jeher sehr genau das Wechselspiel sozialer Veränderungs- und Beharrungstendenzen, und das vorwiegend durch den Filter der Interessen jener Kräfte, die im jeweiligen Sozium die reale Macht ausüben und damit auch die Erzeugung und den Einsatz "kulturellen Kapitals" (Bourdieu) dominant kontrollieren. Insofern stehen in neuerer Zeit ständig Bildungsreformen auf der Tagesordnung - sei es, daß sie real im Gange sind, sei es, daß sie erwogen und gefordert werden. Der gegenwärtige Wandel ist aber weitaus mehr als eine bloße Fortschreibung dieser immerwährenden Veränderungen: Die technische Basis des Umgangs mit Wissen wälzt sich vor unseren Augen in einer Tiefe um, die historisch bestenfalls mit der durch die Erfindung des Buchdrucks bedingten Veränderung vergleichbar ist.

Bei näherer Betrachtung hinkt auch dieser Vergleich. Die Einführung der modernen Informations- und Kommunikationstechnik verändert die technologische Produktionsweise der Gesellschaft in ihren Grundlagen, während die Ausbreitung des Buchdrucks zwar den Umgang mit Wissen sektoral revolutioniert, die Technologie der materiellen Produktion aber weitgehend unangetastet gelassen hatte. Der technologische Wandel betrifft das Bildungswesen auf zwei Ebenen unmittelbar - einerseits über die technische Umrüstung der Bildungsprozesse, andererseits über die Forderung, diese Prozesse so zu gestalten, daß sie ihre Teilnehmer für eine von Informationsund Kommunikationstechnik ganz und gar durchdrungene Lebensform disponieren.

Damit entstehen neuartige Möglichkeiten, den Bildungsbereich in eine außerordentlich profitable Anlage- und Verwertungssphäre für privates Kapital zu verwandeln. Der Realisierung dieser Möglichkeiten kommt der Umstand entgegen, daß die technische Neuausstattung der Bildungsprozesse eine Investitionsschwelle bedeutet, der die öffentlichen Hände in der Regel nicht mit reichlicheren, sondern mit knapperen Mitteln gegenübertreten. Damit geraten Schulen und Hochschulen in Zwangslagen, die sie zur Akquisition privaten Kapitals nötigen. Der mainstream dessen, was heute Bildungs- beziehungsweise Hochschulreform genannt wird, läuft darauf hinaus, die Hindernisse abzubauen, die dem Einströmen von Kapital in diese innovative Anlagesphäre noch im Wege stehen. 1

Wenn methodische Instrumente wie jene der PISA-Studie, die das ermöglichen, aus dem kognitiven Kontext eines Forschungsprogramms gelöst und in den funktionalen Zusammenhang des Bildungsgeschehens gestellt werden, dann können sie Marktförmigkeit von Bildung entscheidend befördern. Dies ist der Konvergenzpunkt, in dem sich die bemerkenswerten Fortschritte bei der Entwicklung analytischer Instrumentarien der vergleichenden Bildungsforschung mit den wirtschaftlichen Interessen an der Etablierung von Bildungsmärkten treffen.

PISA 2ist ein nach Ausdehnung und Komplexität präzedenzloses Programm der international vergleichenden Bildungsforschung, und es spricht Bände, daß als Trägerin eines solchen für ein sozialwissenschaftliches Vorhaben überaus aufwendigen Unternehmens nicht beispielsweise die UNESCO auftritt, sondern die OECD als Organisation für die ökonomische Zusammenarbeit der entwickelten kapitalistischen Länder. Auch wenn die ökonomischen Bezüge der Bildung bei PISA ganz im Hintergrund bleiben - die OECD spricht mit der Aufnahme dieser großangelegten Untersuchung in ihr Indikatorenprogramm ihre Anerkennung der unbestreitbaren Tatsache aus, daß der Erwerb von Wissen und der Umgang mit ihm fortschreitend in das Zentrum der wirtschaftlichen Tätigkeit rücken. Das Programm wird von den teilnehmenden Staaten im Konsens auf paritätischer Grundlage durchgeführt. Im Board of Participating Countries (BPC) hat jeder Staat eine Stimme. Die diffizile Organisation des Programms wird eingehend dargestellt. Sie sichert auf internationaler wie auf nationaler Ebene sowohl die wissenschaftliche Validität als auch das Management des Programms. Auf deutscher Seite wurde die PISA-Studie von der Kultusministerkonferenz der Länder in Auftrag gegeben, das nationale PISA-Konsortium arbeitet unter Federführung des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung.

Mit dem vorliegenden Material, das die im Jahr 2000 durchgeführten Erhebungen auswertet, hat PISA gerade erst begonnen. Für 2003 und 2006 sind weitere, ebenso umfangreiche, aber anders akzentuierte Erhebungen vorgesehen. In jeder der Runden besteht das Programm aus einem international vergleichenden Teil und nationalen, in Eigenregie der jeweiligen Teilnehmerländer konzipierten Ergänzungen (PISA-E). Die Untersuchungspopulation bilden 15jährige Schülerinnen und Schüler; erfaßt werden fachlich definierte Basiskompetenzen (Lesen, Mathematik, Naturwissenschaft), bestimmte fächerübergreifende Kompetenzen (Cross-Curricular Competencies) sowie Kontext- und Bedingungsfaktoren. Die Dimensionen des Vorhabens werden am Umfang dieser Population deutlich: In die internationale Erhebung 2000 waren rund 180 000 Personen einbezogen, davon in Deutschland 5000 Schüler aus 219 Schulen, wobei aus jeder der ausgewählten Schulen durchschnittlich 23 Schüler teilnahmen. Für PISA-E wurde in Deutschland die Stichprobe auf über 50 000 Schüler aus 1 466 Schulen erhöht. Die hier besprochene Veröffentlichung ist lediglich das erste deutschsprachige Buch aus einer ganzen Reihe von Publikationen über die Ergebnisse von PISA, nicht die PISA-Studie schlechthin.

Es liegt auf der Hand, daß die Gewährleistung von Qualität und Vergleichbarkeit der Daten einen außerordentlichen methodischen Aufwand verlangt. Dieser Aufwand ist auf einem avancierten Niveau empirischer Sozialforschung getrieben worden, er wird in der Publikation nachvollziehbar erläutert. Das Buch präsentiert eine überwältigende Fülle von Zahlen; die ausführliche und meist auch behutsame verbale Interpretation verhindert, daß der Leser von der Menge der Tabellen und Graphiken erschlagen wird. Unter methodischen, organisatorischen und forschungstechnischen Gesichtspunkten ist PISA zweifellos eine Glanzleistung. Auch wenn die öffentliche Debatte weithin den Eindruck erweckt, als sei PISA in erster Linie eine Expertise über die Schwächen des deutschen Bildungssystems mit eindeutigen und vor allem schnell zu ziehenden bildungspolitischen Konsequenzen, soll hier hervorgehoben werden, daß es sich um ein wissenschaftliches Ereignis ersten Ranges handelt - einerlei, in welche politischen Erwartungen dieses Programm eingebettet sein mag. Es ist wahrhaftig keine Kleinigkeit, zwischen kulturell so unterschiedlich geprägten Schulsystemen wie jenen in Japan, in Mitteleuropa oder in Kanada methodisch korrekte Vergleiche zu ziehen oder auch nur einen ersten Schritt auf dem dornigen Pfad zu solchen Vergleichen zu gehen.

Die Autoren verwahren sich mit Recht gegen eine oberflächliche Instrumentalisierung von PISA, wenn sie bemerken, es gehe bei diesen Vergleichen "nicht um einen Wettbewerb im sportlichen Sinne mit dem Ziel, in der Rangordnung vor anderen Ländern zu liegen. Vielmehr richtet sich das Interesse darauf, Informationen über Schwächen und Hinweise auf Entwicklungsmöglichkeiten zu erhalten " (Baumert et al: 277). Die praktische Bedeutung des Vorhabens besteht - weit eher als in einem "Ranking" von Punktwertungen - in dem Hinweis darauf, "dass vieles, was uns altvertraut und darum selbstverständlich ist, in anderen Ländern ganz anders geregelt ist und dass dies offenbar keine negativen Folgen für die Leistungsentwicklung der Heranwachsenden hat" (Baumert et al: 411).

PISA diagnostiziert bei 15jährigen, also gegen Ende der Pflichtschulzeit, den Entwicklungsstand bestimmter grundlegender Kompetenzen. Mit "Kompetenz" wird der für die theoretische Fundierung des Programms zentrale Begriff der "Literacy", der mit "Literalität" irreführend übersetzt wäre, angemessen wiedergegeben. Die in der angelsächsischen Pädagogik und Bildungsforschung verbreiteten Konzepte der Reading Literacy, der Mathematical Literacy und der Scientific Literacy meinen nicht nur abfragbares Schulwissen und erlernbare Routinen, sondern vor allem das kreative Vermögen, sich auf der Basis des Angeeigneten in praktischen Lebenssituationen verstehend und handelnd zu orientieren. 3

Bei jeder der Runden werden alle drei Basiskompetenzen getestet, so daß 2003 und erst recht 2006 auch Trends sichtbar werden dürften, nicht nur ein Zustandsbild. Dabei lag 2000 das Schwergewicht auf dem Lesen; 2003 werden die mathematischen, 2006 die naturwissenschaftlichen Kompetenzen im Mittelpunkt stehen. Die bei der deutschen Stichprobe ermittelten Ergebnisse ähneln sich in wesentlichen Zügen (Durchschnitt unterhalb des PISA-Mittelwertes; relativ große "Risikogruppe" von 15jährigen, die das für eine normale Berufsentwicklung unerläßliche Minimum der jeweiligen Kompetenz nicht erreicht; schmale Spitzengruppe, Mangel an wirklich herausragenden Leistungen) auf allen drei Feldern so sehr, daß zu ihrer Erklärung fachbezogene Gründe nicht ausreichen und tieferliegende, systemische Ursachen in Betracht gezogen werden müssen. 4

Die Untersuchung liefert gewiß eine ganze Reihe von Aufschlüssen über die deutsche Schule hier und heute, aber ihr wichtigster Ertrag liegt nicht darin. Die untersuchten Basiskompetenzen - ebenso auch die fächerübergreifenden wie die Fähigkeiten zu selbstbestimmtem Lernen, Kooperation und Kommunikation - sind nicht unmittelbar Ausdruck der Unterrichtsqualität des Jahres 2000, sondern das "Ergebnis eines langjährigen, vom Kindergarten bis zum Ende der Vollzeitschulpflicht dauernden kumulativen Prozesses" (Baumert et al: 354). 5

Der Schlüssel für eine nachhaltige Bildungsreform, die ihren Namen verdient, scheint nach PISA in einer prozessualen Analyse der Schullaufbahnen im vielschichtigen und flexiblen Kontext der sie formenden Faktoren zu liegen. Ein elementarer, aber dennoch gewichtiger Befund ist hier zunächst die Verzögerung der Schullaufbahnen in Deutschland als kombinierter Effekt eines relativ hohen Einschulungsalters, freizügig gewährter Zurückstellungen bei der Einschulung und der hier weitaus mehr als in anderen Ländern geübten Praxis des Sitzenbleibens: Im Ergebnis haben nur 64 Prozent der 15jährigen ihre Schulkarrieren ohne Verzögerungen absolviert. Aus der auf diese Weise verschobenen Altersstruktur der deutschen Schülerpopulation ergibt sich "im internationalen Vergleich ein erheblicher Leistungsnachteil des deutschen Schulsystems" (Baumert et al: 473). Dies deutet auf Handlungsbedarf im Vorschulbereich und in den frühen Phasen der Grundschule hin, mit dem Schwerpunkt intensiver Förderung der leistungsschwächeren Kinder.

Noch gravierender dürfte sich der in der PISA-Studie mit großer Aufmerksamkeit bedachte Umstand auswirken, daß in Deutschland in die Schullaufbahnen selektive Filter eingebaut sind, die die Schülerinnen und Schüler relativ früh - noch während der für alle verbindlichen Pflichtschulzeit - nach ihren Leistungen auf unterschiedliche Schulformen verteilen. Der nach Schulformen hierarchisch gegliederte Sekundarbereich ist im internationalen Vergleich das auffälligste Merkmal des deutschen Schulsystems (vgl. Baumert et al: 438). Der Akzent liegt hier auf "hierarchisch": Es handelt sich ausdrücklich nicht um eine horizontale Sortierung, die nach unterschiedlichen, aber gleichrangigen Begabungen vorgenommen würde, sondern um eine Aufgliederung nach dem auf einer eindimensional geordneten Leistungsskala erreichten Stand. Für die durchschnittlichen Kompetenzstufen der 15jährigen gilt bei Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften die gleiche Rangfolge von oben nach unten: Gymnasium - Realschule - integrierte Gesamtschule - Hauptschule. Obwohl dieses hochselektive Arrangement mit der allgegenwärtigen neoliberalen Wettbewerbsideologie zu korrelieren scheint, ist es seinem Prinzip nach tief in der deutschen Bildungstradition verankert, so daß für die Bundesrepublik Deutschland nur sein Feinausbau, nicht aber seine grundsätzliche Revision in Frage kam. Damit hielt sich die Bundesrepublik aus einem verbreiteten Modernisierungstrend heraus: "In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg sind die herkömmlichen hierarchisch gegliederten Schulsysteme in sehr vielen Staaten durch integrierte Systeme ersetzt worden..." (Baumert et al: 425). Man hätte erwarten können, daß der Siegeszug des Gymnasiums - heute die meistbesuchte Schulform im Sekundarbereich - zur Herausbildung einer international herausragenden starken Spitzengruppe führen würde, möglicherweise unter Inkaufnahme eines großen Segments von in die "unteren" Schulformen abgedrängten Leistungsschwachen. Dieses Segment gibt es nach PISA in der Tat, es zieht den deutschen Leistungsdurchschnitt unter den OECD-Mittelwert, aber eine herausragende Spitzengruppe ist nicht entstanden. 6

Über Alternativen darf wieder laut nachgedacht werden; damit wird auch eine kritische Analyse - statt ihrer noch immer zum guten Ton gehörenden voreingenommenen Ignoranz - der diesbezüglichen Erfahrungen der DDR aktuell, denn der zweite deutsche Staat hatte sich dem Druck der deutschen Schultradition entzogen und sich, auf seine Weise und in seinen Grenzen, dem erwähnten Modernisierungstrend angeschlossen. Beiläufig bemerkt: In der PISA-Studie ist von der DDR nur selten die Rede - aus gutem Grund, denn die bilanzierten Schulkarrieren haben sich zur Gänze bereits in der Zeit des vereinigten Deutschland abgespielt -, aber wo die Geschichte dieses Staates erwähnt wird, geschieht das in auffallender Sachlichkeit.

Ein großer Vorzug von PISA besteht darin, daß die bei diesen Untersuchungen gewonnenen Einsichten in Prozeß und Resultat des Kompetenzerwerbs in der Schule auf die sozioökonomische Situation der Elternhäuser rückbezogen wird; mit hohem methodischen Aufwand wird dieser schwierige Fragenkomplex von ganz verschiedenen Seiten her eingekreist. Dabei findet auch die Problematik der Migrantenfamilien gebührende Aufmerksamkeit. Nicht weniger als 27 Prozent der 15jährigen stammen aus Familien, von denen mindestens ein Elternteil nicht in Deutschland geboren wurde (vgl. Baumert et al: 341); ihre Integration ist längst zur zentralen Frage der Qualitätsentwicklung des Bildungswesens in Deutschland geworden. 7

Für die Lesefähigkeiten lautet das gravierende Fazit, "dass in Deutschland im Vergleich zu allen anderen OECD-Staaten die soziale Lage der Herkunftsfamilie den stärksten Effekt auf die gegen Ende der Vollzeitschulpflicht erreichte Lesekompetenz hat" (Baumert et al: 389). Mit den anderen untersuchten Kompetenzen verhält es sich ähnlich. Anders ausgedrückt: Das Schulsystem, dessen demokratischer Auftrag es wäre, der dem Kapitalismus immanenten sozialen Polarisierung der Bevölkerung durch Neuverteilung von Lebenschancen wenigstens in der Generationenfolge ein gewisses Gegengewicht zu bieten, scheint eher zur Festigung und erweiterten Reproduktion dieser Polarisierung beizutragen. Dabei ist die hierarchische Binnengliederung dieses Systems das entscheidende Moment. Sie wirkt subtil, nicht etwa vordergründig diskriminierend. Für eine etwaige systematische Benachteiligung von Kindern aus unteren Sozialschichten in höherrangigen Schulformen findet PISA keine Symptome. Die neuralgischen Punkte sind vielmehr die Übergänge zwischen den Schulformen. Als ein "unerwünschter Nebeneffekt " - wie unerwünscht er wirklich ist, sei dahingestellt - der frühen Verteilung auf institutionell getrennte Bildungsgänge ergibt sich soziale Segregation (vgl. Baumert et al: 458). 8

Der internationale Vergleich zeigt - vor allem für die Lesekompetenz, aber sinngemäß übertragbar auch auf andere Bereiche - daß sich ein überdurchschnittliches Leistungsniveau auf zwei sozial konträren Wegen erreichen läßt: durch entschlossene Elitenbildung unter Inkaufnahme großer sozialer Disparitäten (dafür steht beispielhaft Großbritannien) oder umgekehrt durch sozialen Ausgleich (dafür stehen PISA-Spitzenländer wie Finnland oder Japan). Neoliberaler Wettbewerbsdruck ist demnach keineswegs der einzig mögliche Weg für eine leistungsorientierte Schulreform. Es gibt eine demokratische Alternative, deren humane Qualität daran zu messen ist, wie wirksam sie der Tendenz sozialer Segregation im Bildungssystem entgegenwirkt.

Während bei PISA die Zusammenhänge zwischen den Bildungssystemen und den grundlegenden Wandlungen in der Wirtschaft im wesentlichen ausgeblendet bleiben, stehen sie in Die verkaufte Bildung im Mittelpunkt. Hier handelt es sich nicht um eine konzeptionell und methodisch homogenisierte Untersuchung, sondern um eine Sammlung unabhängiger Beiträge zahlreicher Autoren, die ihren Reiz gerade aus der Vielfalt der Standpunkt bezieht. Prominente Erziehungswissenschaftler und Vertreter anderer Zweige der Sozialwissenschaften kommen ebenso zu Wort wie Bildungspraktiker und Bildungspolitiker. Mit PISA teilt dieses Buch die globale Perspektive - mehrere Aufsätze behandeln Ökonomisierungstendenzen der Bildung in anderen Ländern oder im internationalen Vergleich. Die Autoren stimmen auch darin überein, daß marktförmige Umgestaltungen in den Bildungssystemen und vielschichtige Zugriffe privaten Kapitals auf den Bildungsbereich bereits seit längerem im Gange sind und daß beide Trends konvergieren; eindrucksvolle Belege dafür werden in großer Ausführlichkeit vorgelegt. Entsprechende Entwicklungen werden für unterschiedliche Sektoren des Bildungssystems analysiert - für die allgemeinbildende Schule (Schulsponsoring, Werbung an Schulen, Bildungsgutscheine usw.), das Hochschulwesen und die umfangreiche Sphäre der Weiterbildung. Auch die katalytische Rolle zweier zentraler Umstände - der informationstechnischen Umwälzung einerseits und der Knappheit der öffentlichen Haushalte andererseits - für diesen Prozeß steht außer Frage.

Die Wertungen des Geschehens variieren jedoch in einem weiten Spektrum, auch der in diesem Zusammenhang häufig reflexionslos als Scheidemünze verwendete Begriff des Wissens ("Wissensgesellschaft ") wird - in einem glänzenden Essay von Wimmer - tiefgreifend problematisiert. Die augenscheinlich unwiderstehliche Macht der Privatisierungstendenzen im Bildungsbereich ist vordergründig zweifellos dadurch motiviert, daß sich hier ein riesiger Zukunftsmarkt eröffnet hat, dessen globale Aufteilung bereits vonstatten geht.

Auf der anderen Seite aber sind - wie vor allem Kirchhöfer entwickelt - diese Prozesse vor allem deshalb so vital, weil sie nicht einfach Marktexpansionen darstellen, sondern die kapitalistische Form einer grundlegenden Umgestaltung der gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsweise. 9 Deshalb werden sie von den in sie einbezogenen Akteuren auch ambivalent erlebt - nicht nur als radikale Verunsicherung und zunehmende Unterwerfung unter anonyme Mächte, sondern auch als Abschneiden alter Zöpfe, Flexibilisierung, Verantwortungsgewinn und Individualisierung. Wenn es zutrifft, daß das Bildungssystem seine Qualitätsmaßstäbe künftig nicht mehr ohne Heranziehung privaten Kapitals halten kann, dann wird seine Aufgabe, der sozialen Polarisierung entgegenzuwirken, außerordentlich schwierig. Die Bildungshistorikerin Ingrid Lohmann sieht staatliche und öffentliche Bildungseinrichtungen als ein "transitorisches Phänomen", das mit der bürgerlichen Moderne ausläuft, und stellt die Frage, ob sich "historisch neuartige Gründe und Koalitionen für öffentliche Bildung ergeben" (Lohmann/Rilling: 105). Die PISA-Resultate könnten einer dieser Gründe sein.

Hubert Laitko - Jg. 1935; Prof. Dr. sc. phil.; Wissenschaftshistoriker. Wichtige Publikation: Bernhard vom Brocke/ Hubert Laitko (Hrsg.): Die Kaiser-Wilhelm/Max-Planck- Gesellschaft. Studien zu ihrer Geschichte: Das Harnack-Prinzip, Berlin/ New York 1996. Zuletzt in UTOPIE kreativ: "Bildung als Funktion einer multioptionalen Gesellschaft" (Heft 127, Mai 2001, S. 405-415).

Besprochen werden: Baumert et al. - Jürgen Baumert/Eckhard Klieme/Michael Neubrand/ Manfred Prenzel/Ulrich Schiefele/Wolfgang Schneider/ Petra Stanat/Klaus- Jürgen Tillmann/Manfred Weiß (Hrsg.): PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich, Leske + Budrich Opladen 2001, 548 S. (25,00 EUR) und Lohmann/Rilling - Ingrid Lohmann/Rainer Rilling (Hrsg.): Die verkaufte Bildung. Kritik und Kontroversen zur Kommerzialisierung von Schule, Weiterbildung, Erziehung und Wissenschaft, Leske + Budrich Opladen 2002, 355 S. (25,50 EUR)

1 Die verkaufte Bildung befaßt sich aus vielen Perspektiven mit Gründen, Stand, Widersprüchen und möglichen Konsequenzen dieses Prozesses, in dessen Logik Bildung zur Produktion von "Humankapital" wird, die eine meßbare Rendite erbringen und daher strikten Effektivitäts- und Effizienzkriterien unterworfen werden muß. Dazu muß auch der Bildungserfolg als Leistung meßbar und vergleichbar gemacht werden.

2 An PISA beteiligt sind die 28 OECD-Länder, dazu vier weitere, unter ihnen so gewichtige wie Brasilien und die Russische Föderation. Afrika und die arabische Welt bleiben allerdings gänzlich ausgespart. Drei denkmögliche, einander vielleicht sogar in Teilbereichen überlappende bildungspolitische Alternativen zeichnen sich nach der Lektüre dieses anspruchsvollen Bandes ab. Die erste ist die Verteidigung der Positionen der öffentlichen Hand im Bildungswesen mit allen demokratischen Mitteln, um ein Gegengewicht zu den sozial desintegrierenden Wirkungen des Privatkapitals zu bewahren. Die zweite fußt auf dem unorthodoxen Gedanken von Gunnar Heinsohn und Otto Steiger, die Bildung radikal zu privatisieren, aber auf eine Weise, die die freien Bürger mit der nötigen Nachfragemacht ausstattet und es ihnen damit ermöglicht, sich von der Vorherrschaft der Wirtschaft zu befreien (vgl. Lohmann/Rilling: 243). Der dritte Weg ist schließlich die Förderung nichtwarenförmiger genossenschaftlicher Verhältnisse im Kernbereich der neuen Informationsarbeit als Keimzelle eines gesamtgesellschaftlichen Wandels und die Neubelebung des Konzepts der Gemeingüter (commons); es ist bemerkenswert, daß die dieser Alternative gewidmeten Beiträge von Rilling, Krysmanski, Schenk und Meretz nicht allein theoretisch argumentieren, sondern sich auch bereits auf praktische Erfahrungen stützen können.

3 PISA ist in erster Linie eine Chance, durch die vergleichende Berücksichtigung anderer Schulsysteme einen freieren Blick auf das eigene zu gewinnen. Dann wird man auch tradierte bundesdeutsche Gegebenheiten (denn das DDR-Erbe ist bekanntlich auch auf dem Feld der Volksbildung kurzerhand abgewickelt worden) nicht mehr für unantastbar halten, nicht einmal die heiligste der Kühe, das hierarchisch gegliederte Schulsystem in der Sekundarstufe I.

4 Die bei den deutschen Probanden festgestellten Schwächen beziehen sich nicht in erster Linie auf Lernmängel im engeren Sinne, sondern weisen darauf hin, daß das Bildungswesen hierzulande als Lebensschule nicht auf der Höhe der Zeit ist.

5 Weil sich das Arrangement der Faktoren, die zusammengenommen die Gestalt der von den Schülerinnen und Schülern durchmessenen "Schullaufbahnen" geprägt haben, über Jahrzehnte sukzessiv herausgebildet und verfestigt hat, eignen sich Befunde über Funktionsmängel dieses Systems wenig für die tagespolitische Polemik und gar nicht für kurzschlüssige Schuldzuweisungen. Zugleich ist das System so komplex, daß von aktionistisch vorgenommenen punktuellen Eingriffen kaum radikale Verbesserungen zu erhoffen sind.

6 Nachdem in das öffentliche Bewußtsein gedrungen ist, daß PISA-Spitzenreiter wie Japan ihre eindrucksvollen Ergebnisse mit einer nicht in Schulformen gegliederten Sekundarstufe I erzielt haben, steht das gegliederte System selbst auf dem Prüfstand.

7 So heißt es etwa über die Eltern der getesteten 15jährigen, "...sie gehörten einer Generation an, die in der DDR von der Konsolidierung der Polytechnischen Oberschule (POS) und in der alten Bundesrepublik vom Ausbau des Sekundarschulsystems und einer sich beschleunigenden Bildungsexpansion profitierten. Besondere Gewinner waren in der alten Bundesrepublik die Mütter, die in der Bildungsbeteiligung gleichzuziehen begannen - ein Prozeß, der in der DDR schon früher abgeschlossen war" (Baumert et al: 336).

8 "Die an Gelenkstellen von Bildungslaufbahnen auftretenden sozialen Disparitäten addieren sich über die Bildungskarriere hinweg. Sind mit den Verteilungsentscheidungen differentielle Lerngelegenheiten verbunden, die wiederum mit der Sozialschicht kovariieren, ergibt sich ein weiterer kumulativer Effekt, der zur schrittweisen Vergrößerung von sozialen Disparitäten führt" (Baumert et al: 359). 851

9 Kirchhöfer bemerkt treffend: "Es muss für das Kapital ein unerträglicher Zustand sein, einen weiten und sich erweiternden Bereich der Gesellschaft ... nicht dem Markt und der Warenförmigkeit seiner Beziehungen unterwerfen zu können. ... Über Bildung vollzieht sich nahezu unmerklich ein Gespinst ökonomischer Operationen, die Bildung alle Merkmale von Eigentum gibt. ... Die Gefahr weiterer sozialer Selektion durch Bildungsdifferenzierung ist damit programmiert" (Lohmann/ Rilling: 81). Gogolin schließt aus ihren Untersuchungen zur Migrantenintegration im deutschen Schulsystem: "Die Mechanismen der ökonomischen Steuerung des Bildungswesens nützen den Starken; sie schützen die Schwachen nicht" (Lohmann/Rilling: 166).

in: UTOPIE kreativ, H. 143 (September 2002), S. 845-851