Mapuche in Chiles Gefängnissen im Hungerstreik gegen Antiterrorgesetze
Der Hungerstreik von 32 Mapuchegefangenen in Chile geht weiter. Die Regierung versucht die Proteste zu brechen, anstatt den Forderungen für ein faires Verfahren entgegenzukommen.
„Im Hungerstreik sind unsere comuneros, weil sie der Staat gefangen hält”, skandiert eine Gruppe DemonstrantInnen neben dem U-Bahn-Eingang der Station Universidad de Chile. PassantInnen lassen sich manchmal einen Flyer in die Hand drücken, viele machen verschreckt einen Bogen. Der Grund für die abendliche Zusammenkunft am 1. September in einer der belebtesten Fußgängerzonen Santiagos ist so einfach wie bedrückend: Um ihrer Forderung nach einem fairen Prozess Gehör zu verleihen, machen 32 Mapuche-Indigene seit 52 Tagen in fünf Gefängnissen des Landes einen Hungerstreik. Doch niemand hört hin, vor allem die chilenischen Fernsehsender schweigen das Thema beharrlich tot. Stattdessen walzen sie die Story der eingeschlossenen Minenarbeiter zu einem nationalistisch-kitschigen Dokudrama aus.
„Die Situation der Gefangenen geht uns alle an”, spricht Rodrigo Guzmán
energisch in sein Megaphon. „Wisst ihr, was es heißt, in Chile unter
dem Anti-Terrorgesetz angeklagt zu werden? Das bedeutet: keine Einsicht
in die Aktenlage zu haben; Untersuchungshaft von bis zu einem Jahr; die
Zulassung anonymer Zeugen vor Gericht.” Für die inzwischen über Hundert
Versammelten sind das keine Neuigkeiten. Auf mehreren Transparenten
wird gefordert, die Anwendung des umstrittenen Gesetzes endlich
auszusetzen.
Dieses juristische Relikt, dass seit der Militärdiktatur Pinochets
(1973 bis 1990) Teil der chilenischen Rechtsprechung ist, sieht vor,
dass Angeklagte von einem zivilen und einem Militärgericht für die
gleiche Tat zwei Mal verurteilt werden können. Dies könnte bei den
aktuellen Verfahren Haftstrafen von bis zu 103 Jahren bedeuten. Denn
„die Mehrheit [der Gefangenen] wird bezichtigt, Verwaltungsgebäude und
Wälder von Großgrundbesitzern angezündet zu haben, die das angestammte
Land ihrer Vorfahren besetzen”, fasst ein Handzettel der Gruppe Waffen
der Kritik den Konflikt zusammen.
Seit Ende der 1860er Jahre wurden während der euphemistisch „Befriedung
der Araucanía” genannten Militärexpeditionen im Süden Chiles die
Mapuchegemeinden um einen Großteil ihres Landes gebracht und in
sogenannten reducciones angesiedelt. Und auch wenn die Behörde für
indigene Entwicklung (CONADI) inzwischen hunderttausende Hektar Land an
Mapuchefamilien übertragen hat, kritisieren viele der heute ungefähr
700.000 Mapuches diese staatlichen Zugeständnisse als unzureichend.
Neben einer Kritik an der Qualität der übertragenen Böden, fordern
viele Mapucheorganisationen auch mehr Selbstverwaltung und einen Stopp
des aggressiven Anbaus von Nutzholz, der in den letzten Jahrzehnten
stark zugenommen hat.
Doch auch im Zeichen des anstehenden zweihundertjährigen Jubiläums der
chilenischen Unabhängigkeit stellt sich die Regierung weder der
historischen Verantwortung noch signalisiert sie Dialogbereitschaft.
Stattdessen verkündete Präsident Sebastián Piñera nach seinem
Amtsantritt zu Beginn des Jahres, die unter seiner Vorgängerregierung
übertragenen Landtitel auf ihre Rechtmäßigkeit zu prüfen. Seitdem
schweigt seine Koalition neoliberaler und ultrarechter Kräfte
beharrlich zu den Protesten in den Gefängnissen und auf den Straßen.
„Um die Regierenden endlich zum Dialog zu bewegen, haben sich heute
zwei minderjährige Mapuche in der Jugendhaftanstalt CERECO in Chol-Chol
dem Hungerstreik angeschlossen”, verkündet Sprecher Guzmán um kurz vor
20 Uhr in der Fußgängerzone. Kurz herrscht Stille, die Versammelten
schauen sich um, dann bricht doch Beifall los und der Demonstrationszug
setzt sich in Bewegung. Inzwischen sind mehr als 3.000 Menschen
unterwegs, „und damit locker die größte Demonstration für die Mapuche,
die es je in Santiago gab”, freut sich eine Aktivistin von Mapuexpress.
Diese alternative Nachrichtenagentur hatte Beschwerde beim Fernsehrat
(CNTV) eingereicht, „wegen Vermeidung jeglicher Referenz an die Treffen
der Gefangenensprechern mit der Menschenrechtskommission der
Abgeordnetenkammer am 11. August“. Im Fernsehen hat sich seit dem nicht
viel getan, dafür erklärte sich Radio Universidad zum „einzigen
elektronischen Medium, das kontinuierlich über den Hungerstreik
berichtet.”
Am 2. September interviewte der Sender die Staatsanwältin des Obersten
Gerichtshofes, Mónica Maldonado, zu den inhumanen Haftbedingungen der
Mapuche, über die bis dato wenig bekannt war. „Abgedunkelte
Strafzellen, in denen 23 Stunden am Tag völlige Dunkelheit herrscht,
und nur eine Stunde Hofgang.“ So beschreibt Maldonado die Mittel, mit
denen „Gendarme unter Billigung der Autoritäten” versuchen, den
Hungerstreik zu brechen. „Diese Bedingungen verstoßen gegen die
Anti-Folter-Konvention und auch gegen unsere eigene Verfassung”, gibt
die Juristin zu.
Auf der Demonstration ist zu diesem Zeitpunkt noch nichts über die
Foltervorwürfe bekannt. Trotzdem kreisen die Gespräche der Versammelten
immer wieder um die Notwendigkeit, endlich Menschenrechtsorganisationen
und internationalen Beobachtern Zugang zu den Gefangenen zu gewähren.
Auf halber Strecke zum zentralen Platz Plaza de Armas ergreift erneut
eine Sprecherin das Megaphon, steigt auf einen Treppenabsatz. „Wir
fordern den Abzug aller Militärs, die nach dem Erdbeben als humanitäre
Helfer in unsere Gemeinden gekommen sind. Die Regierung betreibt eine
schleichende Militarisierung.” Auf der anderen Straßenseite zerrt ein
Apotheker panisch die Metallgitter vor seinen Schaufenstern herunter.
Das Rasseln wird von Sprechchören übertönt.
Oft fällt in den Unterhaltungen der Demonstrierenden auch der Name
Michel Bachelets. Die ehemalige Präsidentin hält sich derzeit in
Spanien auf, um einen Ehrendoktortitel der Internationalen Universität
Menéndez Pelayo (UIMP) in Santander verliehen zu bekommen. Doch anstatt
ihren Auftritt auf internationalem Parkett zu nutzen, antwortet auch
Bachelet nur ausweichend auf Fragen zum Hungerstreik der Mapuche und
Menschenrechtsverletzungen. „Als Ärztin sage ich Ihnen, dass
verunreinigte Wunden, die nicht sauber sind, niemals heilen werden”,
sagte Bachelet. Dass ausgerechnet sie es war, die im Jahr 2008 erstmals
wieder das Anti-Terrorgesetz gegen Mapuche anwendete, obwohl sie zu
ihrem Amtsantritt das Gegenteil versprochen hatte, erzürnt die
Demonstrierenden immer wieder aufs Neue.
„So, noch 200 Meter, dann werden sie den Spuk hier mit Tränengas und Wasserwerfern auflösen“, prophezeit Alexis, ein junger Student, als die Menschenmenge erneut Richtung Alameda abbiegt. „Alles, was jetzt noch folgt, ist längst ein Ritual”, nickt er mehreren Eltern hinterher, die mit ihren Kindern den Demonstrationszug verlassen. Alle warten auf den Angriff der Spezialeinheiten, die immer wieder an den Straßenecken auftauchen – hinter ihnen die aufnahmebereiten Fernsehkameras. Doch nichts passiert. Alexis, verabschiedet sich Richtung U-Bahn „Nicht mal die Straßenschlachten mit den üblichen Verdächtigen. Das heißt dann wohl erst recht keine Nachrichten morgen.”
Text: // Nils Brock
Ausgabe: Nummer 435/436 - September/Oktober 2010