Rot-Grüne Verantwortung für Afghanistan

in (08.09.2021)

Es gehört in diesen Tagen nicht viel dazu, den chaotischen Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan zu kritisieren, und es besteht gar die Verpflichtung, eine rasche Evakuierung der lokalen Verbündeten des Bundeswehrkontingents einzufordern. Auch die Grünen legen den Finger in diese Wunde. Was dabei jedoch schnell vergessen wird ist, wer eigentlich die Hauptverantwortung für den deutschen Einsatz in Afghanistan trägt. Nicht die Neokonservativen George W. Bush und Donald Rumsfeld hatten die Bundesrepublik um eine deutsche Beteiligung in Afghanistan gebeten, sondern die Spitze der damaligen rot-grünen Bundesregierung, Kanzler Gerhard Schröder und Außenminister Joschka Fischer, hat den USA diesen Einsatz geradezu aufgedrängt. Sie verfolgte damit ihre ganz eigenen Interessen.

Ein wichtiges Projekt von Rot-Grün (um das es nach der Abwahl 2005 wieder stiller werden sollte) war ein permanenter Sitz Deutschlands im UN-Sicherheitsrat. Damit wollte man dem seit 1990 gewachsenen Gewicht der Bundesrepublik in der Welt gerecht werden. Ein Sitz im UN-Sicherheitsrat und eine aktivere Übernahme von „außenpolitischer Verantwortung“, also wachsender militärischer Präsenz Deutschlands in der Welt, bedingten sich in dieser Rechnung gegenseitig. Bereits im Frühjahr 1999 war die Luftwaffe gegen die jugoslawische Armee eingesetzt worden – der erste von der rot-grünen Koalition beschlossene deutsche Kampfeinsatz.

Ein weiteres, insbesondere von Außenminister Fischer forciertes und mit Frankreich abgestimmtes, Projekt war die „Weiterentwicklung“ der Europäischen Union zu einer eigenständigen außenpolitischen Akteurin. Auch deshalb forcierte die Bundesregierung damals den EU-Beitritt der Türkei. Mit der Türkei sollte die EU in einer als wichtig erachteten Region unmittelbar präsent sein, zugleich wurde ihr militärisches Potenzial als unabdingbar für eine unabhängigere EU erachtet. Die Beziehungen Deutschlands und der EU zu Russland und China sollten nach dem Willen des Bundeskanzlers ebenfalls ein stärkeres Gewicht bekommen.

Doch die eigenen außenpolitischen Ambitionen standen zunehmend im Widerspruch mit den Interessen der Anfang 2001 ins Amt gekommenen Bush-Administration. Diese formulierte insbesondere für Westasien einen Gestaltungsanspruch, der für eine stärkere europäische Außenpolitik unter Führung Frankreichs und Deutschlands wenig Raum ließ. Die Bush-Administration liebäugelte schon vor den Anschlägen des 11. Septembers 2001 mit der Idee eines »Regime Change« für einige Länder der Region. Es war also absehbar, dass die Interessen der damaligen Bundesregierung mit denen der USA kollidieren würden.

Insofern die Souveränität der Bundesrepublik, wie auch aller anderen Staaten der EU, sich wesentlich auf den Schultern der transatlantischen Ordnung entfalten, konnte das transatlantische Verhältnis nicht über Gebühr belastet werden, ohne das eigene machtpolitische Potenzial zu schwächen. Vor diesem Hintergrund bot die Bundesregierung ihre Solidarität vor allem dort an, wo sie keine Interessenskonflikte mit den USA sah. Das war der Grund, warum sich die rot-grüne Regierung im Herbst 2001 darum bemühte, gemeinsam mit den USA in Afghanistan präsent zu sein. Sie wollte das transatlantische Verhältnis festigen und gleichzeitig Einsatzerfahrung für die weitergehenden außenpolitischen Aspirationen Deutschlands sammeln. Gerhard Schröders Versprechen der „bedingungslosen Solidarität“ nach 9/11 wurde häufig als impulsiv und als außenpolitisch naiv kritisiert. Das mag sein, doch mit diesem Superlativ bezweckte er vor allem, sich von anderen Regierungen abzuheben, welche den USA ebenfalls ihre Solidarität angeboten hatten. Die USA hatten um eine solche Unterstützung aus Deutschland indes nicht gebeten, zumal die deutsche Armee auf solche Einsätze bis dato nicht ausgerichtet war, sondern vielmehr ein entsprechendes Profil erst ausbilden musste. Die USA wurden zur Akzeptanz des deutschen Engagements überredet.

Wenn der Afghanistaneinsatz also bündnispolitische Gründe hatte, wie Schröder und Fischer versicherten, so ging es nicht darum, der Bitte eines Bündnispartners nachzukommen. Vielmehr war die Bundesregierung darum bemüht, nicht an der sich abzeichnenden Invasion des Iraks teilnehmen zu müssen, die den außenpolitischen Bestrebungen Deutschlands und Frankreichs nur wenig Raum zubilligte ­ bedeutete er doch einen noch stärkeren US-Einfluss in der nah an Europa grenzenden Region auf Kosten der deutschen und französischen wirtschaftlichen, wie diplomatischen, Einflusspotenziale. Mit scheinbar vorauseilendem Gehorsam in Afghanistan sollten die sich in der Irakfrage anbahnenden Risse im transatlantischen Verhältnis gekittet werden. Im Wahlkampf des Spätsommers 2002 stellte Bundeskanzler Schröder, dessen Regierung zuvor mehrere Bundeswehrmissionen auf den Balkan und nach Afghanistan beschlossen hatte, klar, dass es keine deutsche Beteiligung am Irakkrieg geben werde und gerierte sich als Vertreter einer friedlichen Außenpolitik. Eine maritime Absicherung des Truppenaufmarsches gegen den Irak fand derweil unter dem Deckmantel einer Antipirateriemission am Horn von Afrika sehr wohl statt.

Das begrüßenswerte deutsche »Nein« zum Irakkrieg war aber keine friedensethische, sondern eine machtpolitische Entscheidung – es wurde mit einem 20 Jahre währenden deutschen Militäreinsatz in Afghanistan erkauft. Über die Jahre waren 160 000 deutsche Soldaten in Afghanistan eingesetzt, von denen 59 mit ihrem Leben bezahlten. Am Ende des Einsatzes steht nun eine umfassende Niederlage. Die in Afghanistan – auch von der Bundeswehr – getöteten Zivilist*innen zahlten den Preis für einen außenpolitisch naiv und gegen den Willen der USA eigefädelten Kuhhandel, mit dem die rot-grüne Regierung versucht hatte, die EU unter deutscher und französischer Führung als eigenständig agierende außenpolitische Macht auszurichten. Dieses Projekt scheiterte in den Folgejahren, völlig abgeschrieben ist es aber noch nicht. Und wer es neu lancieren will, sollte um die Fallstricke einer europäischen Außenpolitik wissen, die durch ihr Bestreben einer stärkeren strategischen Autonomie klassisch machtpolitische Logiken übernimmt anstatt Alternativen zu ebendiesen entwickeln. Auch dies gilt es für die Formulierung einer emanzipatorischen und friedensorientierten Außenpolitik zu reflektieren – insbesondere da der Sieg der Taliban nunmehr als realpolitisch vertretbar eingeschätzt wird und sich eine De-fakto-Anerkennung des Regimes durch westlichen Regierungen abzeichnet.

Erschienen in LuXemburg Online.