Der neonazistische »Trauermarsch« in Bad Nenndorf
In den letzten Jahren hat sich der Naziaufmarsch im niedersächsischen Bad Nenndorf zu einem der größten und wichtigsten Aufmärsche der extremen Rechten in Westdeutschland entwickelt. Mehr und mehr entwickelt er sich zum Ersatz für die seit 2005 verbotenen Rudolf-Heß-Gedenkmärsche in Wunsiedel. Am 6. August steht der nächste Aufmarsch an.
Waren es am 6. Mai 2006 lediglich die lokalen Neonazis der Nationalen Offensive Schaumburg (vgl. LOTTA #29 Seite 22) um Marcus Winter, die vor dem Wincklerbad, einem ehemaligen Internierungslager der Alliierten, eine Kundgebung unter dem Motto „8. Mai: Gefangen, gefoltert, gemordet. Damals wie heute – Besatzer raus“ abhielten, beteiligten sich im Juli 2006 bereits 100 Neonazis an dem „Trauermarsch“. Die TeilnehmerInnenzahl stieg in den folgenden Jahren kontinuierlich. 2010 waren es um die 900 Neonazis, die sich in Bad Nenndorf versammelten.
In dem kleinen Kurort Bad Nenndorf befand sich von 1945 bis 1947 ein Internierungslager des britischen militärischen Geheimdienstes. Die Internierungspolitik der Alliierten war Teil der Struktur zur Bekämpfung des Nationalsozialismus nach der militärischen Niederlage Deutschlands. Die Internierungspolitik ergänzte die Entnazifizierung, also die Entlassung von NationalsozialistInnen aus öffentlichen und einflussreichen Postionen und die Verfolgung und Verurteilung von KriegsverbrecherInnen, die sich vor allem gegen NS-Eliten richtete und auf die individuelle Schuld der Angeklagten abzielte. Im Rahmen der Internierungspolitik inhaftiert wurden Personen, die in paramilitärischen NS-Organisationen wie der SS, der SA, dem BDM oder der HJ leitende Positionen inne gehabt hatten. Darüber hinaus wurden höhere BeamtInnen der unterschiedlichen Polizeibehörden und der Geheimdienste interniert. Dazu gehörten auch BeamtInnen des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA), das die Deportationen der europäischen Jüdinnen und Juden organisiert hatte, sowie die NSDAP-Parteifunktionäre und das Lehrpersonal der nationalsozialistischen Eliteschulen und „Ordensburgen“.
Das Verhörzentrum im Wincklerbad
Das Internierungslager in Bad Nenndorf diente als Verhörzentrum. Dort wurden in erster Linie bedeutende NS-Funktionäre, Offiziere der Wehrmacht und NS-DiplomatInnen interniert, doch auch als Sowjetspione beschuldigte GrenzgängerInnen befanden sich unter den Häftlingen. Insgesamt waren zwischen 1945 und 1947 416 Personen inhaftiert, unter ihnen auch NS-Größen wie Kurt Parbel, ein enger Vertrauter Joseph Goebbels, oder der Leiter des SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamtes Oswald Pohl, der verantwortlich für die Organisation der Zwangsarbeit in den Konzentrationslagern war.
Die ersten Berichte über Misshandlungen der Insassen im Wincklerbad kamen an die Öffentlichkeit, als im Frühjahr 1947 Häftlinge aus Bad Nenndorf in das Internierungslager in Fallingbostel verlegt wurden. Nachdem der britische Unterhausabgeordnete Richard Stokes aus Kreisen der englischen Kirche über die Misshandlungen in Bad Nenndorf informiert worden war, reiste er im Mai 1947 unangemeldet nach Bad Nenndorf, um sich ein Bild von der Situation im Verhörzentrum zu machen. In der britischen Presse und im Parlament wurde daraufhin über die Foltervorwürfe diskutiert, und Scotland Yard nahm die Ermittlung gegen das Lagerpersonal auf. Das Lager wurde in Folgen dessen geschlossen. Ein Jahr später begann in London der Prozess gegen den Lagerkommandanten Colonel Stevens, den Lagerarzt Captain Smith und einige weitere Vernehmungsoffiziere. Der Prozess endete mit der Verurteilung des Lagerarztes und seiner Entlassung aus der Britischen Armee. Colonel Stevens, der nach Zeugenaussagen persönlich an Misshandlungen von Gefangenen teilgenommen hatte, wurde hingegen freigesprochen. Er behauptete, von den Vorgängen im Wincklerbad nichts gewusst zu haben.
Die Misshandlungen in Bad Nenndorf stellen einen Einzelfall in der Geschichte der Internierungslager dar und lassen keineswegs auf eine systematische Folter und Terrorisierung der deutschen Häftlinge in den Lagern schließen.
Extrem rechte Geschichtsumdeutung
Die lokalen Neonazis in Schaumburg griffen das Thema auf, nachdem der britische Journalist Ian Cobain im Dezember 2005 in der Zeitung The Guardian einen Artikel über die Misshandlungen in Bad Nenndorf veröffentlicht hatte, was auch in deutschen Medien thematisiert wurde. Der jährliche Aufmarsch in Bad Nenndorf ist ein weiterer Versuch der extremen Rechten, die Alliierten als „Kriegsverbrecher“ darzustellen und die Deutschen als „Opfer“ zu betrauern. 2010 sollten neben den Anmeldern der Demonstration, Marcus Winter und Sven Skoda (vgl. LOTTA # 32 S. 19ff.), auch die HolocaustleugnerInnen Ursula Haverbeck (vgl. LOTTA # 33 S. 19f.) und Rigolf Henning auf der Kundgebung sprechen, was ihnen jedoch von der Polizei untersagt wurde. Haverbecks und Hennings Beiträge wurden jedoch in der extrem rechten Postille Stimme des Reiches (Nr. 5/2010) aus dem Umfeld des 2008 verbotenen Collegium Humanum abgedruckt.
Henning behauptet, die Insassen seien „in aller Regel Unschuldige“ gewesen, während er auf der anderen Seite die Briten als „unmenschliche Täter“ und die Misshandlungen in Bad Nenndorf als „britische Schwerverbrechen“ bezeichnet. An anderer Stelle spricht er von „wehrlosen Deutschen“, die einem „gezielten Vernichtungswillen“ der Alliierten ausgesetzt gewesen seien. Zum Abschluss seiner Rede fordert Henning „Raus mit den Besatzern, [...] Raus auch aus der EU und lieber ein Europa der Vaterländer.“ Die Alliierten werden so nicht nur als Kriegsverbrecher dargestellt, sondern auch als noch bestehende Besatzungsmacht, welche die Deutschen unterdrücken würde. Haverbeck beklagt sich in ihrem Beitrag über eine angebliche systematische Vertuschung der „alliierten Nachkriegsverbrechen“ und die Missachtung der deutschen Opfer: „Was aber ganz fehlt, ist eine würdige zentrale Gedächtnisstätte für die Millionen Opfer von Vertreibung, Verschleppung und Bombenterror.“
Damit schlägt der Aufmarsch in Bad Nenndorf inhaltlich in die gleiche Kerbe wie die Aufmärsche der extremen Rechten anlässlich der Bombardierung Dresdens oder zu den „Rheinwiesenlagern“ bei Remagen in Rheinland-Pfalz (vgl. LOTTA # 41 S.32f.).
Professionelle Vorbereitung
In den letzten Jahren haben die AktivistInnen der als Gedenkbündnis Bad Nenndorf firmierenden Veranstalter die Mobilisierung professionalisiert. Kaum ein größeres Event von „Freien Kameradschaften“ oder NPD, auf dem nicht für den Aufmarsch geworben wird. Im Vorfeld des Marsches reisten Neonazis durch die Republik und führten Mobilisierungsveranstaltungen durch. Ein Engagement, das auch von der NPD honoriert wurde: Auf dem Deutsche Stimme-Pressefest im August letzten Jahres überreichte der NPD-Verlag seinen „Widerstandspreis 2010“ an Marcus Winter und Sven Skoda als Vertreter des Gedenkbündnis.
Die lokalen Neonazis, die sich inzwischen von Nationale Offensive Schaumburg in Aktionsbündnis Weser/Leine umbenannt haben und im Rahmen der Vernetzung Westfalen Nord aktiv sind, werden unterstützt von „Freien Kräften“ vor allem aus NRW und Norddeutschland. Info- und Propagandamaterial werden im Rahmen der Mobilisierung verteilt, teils auf Veranstaltungen aus der extremen Rechten, teils auch in den Briefkästen umliegender Orte.
2009 sprach als Vertreter der „Autonomen Nationalisten“ (AN) Dennis Giemsch, obwohl seine Dortmunder Kameraden nicht an der Demonstration teilnehmen durften. Sie hatten sich geweigert, der polizeilichen Auflage nachzukommen und von der Polizei gestellte weiße T-Shirts zu tragen. Entgegen der Motivation der Polizei, mit dieser Auflage das durch den „Schwarzen Block“ der AN dominierte Bild der Demonstration zu brechen, wirkte das Auftreten der Nazis ganz in weiß jedoch noch uniformierter. Im Folgejahr reisten die meisten TeilnehmerInnen freiwillig in weißen Hemden an. Gerade die AN sehen sich in der Tradition der SA, und diese war während der kurzen Phase ihres Verbotes 1932 in weißen Hemden aufmarschiert. Neonazis vertrieben vor dem Aufmarsch weiße T-Shirts, die mit einem aus der Feder des SA-Dichters Heinrich Anacker stammenden Spruch bedruckt waren: „Im braunen Hemd, im weißen Hemd. Brennt gleich für Deutschland unser Blut.“ Die Polizei verlangte zwar, die Shirts auf links anzuziehen, die Traditionslinie wurde aber trotzdem deutlich.
Das Betrauern „deutscher Opfer“, die damit einhergehende Geschichtsverdrehung und Holocaustrelativierung, der positive Bezug zum NS sowie der Kampf gegen angebliche „Fremdherrschaft“ sind zentrale Ideologieelemente der heutigen extremen Rechten. Das wird sich vermutlich auch in diesem Jahr nicht ändern: Für den 6. August 2011 ist der nächste „Trauermarsch“ in Bad Nenndorf geplant.
Der Artikel erschien in der Ausgabe Nr. 44/Sommer 2011 der antifaschistischen Zeitschrift Lotta.