Wie weiter nach der Wahl?

Arbeitskampf in Krisenzeiten

Wie weiter nach der Wahl? Für die Gewerkschaften ist eines bereits klar: Die entscheidenden Herausforderungen beginnen erst jetzt – und zwar in einer denkbar ungünstigen wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Konstellation.

Während des Wahlkampfes haben sich die Gewerkschaften wie in den vergangenen Jahren deutlich eingemischt: zwar mit keiner klaren Empfehlung für die ein oder andere Partei, wohl aber mit einer entschiedenen Warnung vor einer schwarz-gelben Koalition. 1 Inwieweit diese Aktivitäten letztlich Einfluss auf das Wahlergebnis hatten, wird noch zu analysieren sein.

Absehbar ist bereits heute, dass die deutsche Gesellschaft und speziell die Gewerkschaften einer schwierigen Legislaturperiode entgegensehen. Nach einem Wachstumseinbruch von sechs Prozent in der ersten Jahreshälfte 2009 scheint das Ende der Talfahrt vor allem in der Industrie zwar erreicht, aber noch ist weder in der Automobilindustrie, noch bei den Ausrüstungsinvestitionen ein Aufschwung erkennbar.

Im Gegenteil: Nach einer Umfrage des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) im zweiten Quartal 2009 ist über die Hälfte der Betriebe des verarbeitenden Gewerbes von der Krise betroffen: am stärksten die Betriebe der Metallindustrie mit 70 Prozent, von ihnen sehen sich 20 Prozent sogar existenziell bedroht; den zweiten Rang nehmen mit 61 Prozent Betriebe der Chemieindustrie ein, davon zehn Prozent mit existenziellen Schwierigkeiten. 2 Mit dem Auslaufen der Abwrackprämie muss mit einem erneuten Einbruch im verarbeitenden Gewerbe gerechnet werden. Das wird sich erheblich auf den Arbeitsmarkt auswirken und zu einem starken Anstieg der Arbeitslosenzahlen führen. Dies wird sich, so ist zu befürchten, dann auch mehr und mehr bei den Stammbelegschaften bemerkbar machen. Immerhin 150 000 Beschäftigte (minus 2,3 Prozent) verloren seit August 2008 ihren Arbeitsplatz. 3 Wohlgemerkt: Einbezogen sind hier nur die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Bei den Beschäftigten ohne Absicherung liegt die Zahl noch wesentlich höher. Einen weit tieferen Beschäftigungseinbruch verhinderten bisher nur der hohe Anteil von Leiharbeitern speziell in der Metall- und Elektroindustrie, die umgehend entlassen wurden, sowie die Inanspruchnahme des verbesserten Kurzarbeitergeldes und die in den letzten Jahren aufgebauten Zeitguthaben der Beschäftigten. Wenn im vierten Quartal die Unternehmen ihre Jahresbilanzen ziehen – sprich: die Geschäftsaussichten prüfen, die Kosten und die Möglichkeiten, an günstige Kredite zu kommen, abschätzen und dann die voraussichtlichen Produktions- und Personalkosten gegenrechnen – dürften Ausgabenkürzungen die Folge sein. Damit könnte der Kampf der Industriegewerkschaften um den Erhalt der industriellen Substanz und der Beschäftigung in eine neue und härtere Phase treten: Standortsicherungsvereinbarungen, Arbeitszeitverkürzungen ohne Lohnausgleich und weitere Lohnsenkungen stünden dann auf der Tagesordnung. 4

Wie aber stellt sich die Lage in den verschiedenen Branchen konkret dar?

Der Dienstleistungssektor als Hauptkampfplatz

Der Dienstleistungssektor war von der Krise in sehr unterschiedlichem Maße betroffen: Direkt spürten vor allem die unternehmensnahen Dienstleistungen die ersten Auswirkungen von Produktionseinbrüchen: 300 000 Leiharbeiter verloren nach Einschätzungen der Branche bisher ihren Arbeitsplatz, das sind mehr als 40 Prozent. Mit „nur“ rund 20 000 neuen Arbeitslosen konnte der Transport- und Logistik-Bereich die Auftragseinbrüche von teilweise 30 Prozent infolge der Automobilkrise noch recht gut abfangen. 130 000 Menschen verloren in den industrienahen wirtschaftlichen Dienstleistungen ihren Arbeitsplatz – gemessen an der Gesamtzahl aller dort Beschäftigten sind es aber nur 1,3 Prozent.

Anders sieht es hingegen in der Druckindustrie, in der Papierverarbeitung und im Verlagswesen aus. Aufgrund erheblicher Überkapazitäten führte die Krise in der Druckindustrie durch den krisenbedingten Verlust von Aufträgen und die Verschlechterung der Kreditkonditionen zu zahlreichen Insolvenzen: Rund 10 Prozent der noch vorhandenen 180 000 Arbeitsplätze sind bedroht, die Betriebe fühlen sich laut IAB zu 58 Prozent betroffen, davon 10 Prozent existenziell. Auch hier hat nur die Inanspruchnahme des Kurzarbeitergeldes einen tieferen Beschäftigungseinbruch bisher verhindert. Jedoch wird derzeit aufgrund des gesunkenen Anzeigenaufkommens überall im Verlagsbereich und bei den Printmedien rationalisiert und Personal abgebaut.

Konjunktur bei den Finanzdienstleistungen und die Krise des Staates

Obwohl von der Krise der Finanzmärkte existenziell betroffen, verzeichnete der Sektor der Finanzdienstleistungen zwischen 2008 und 2009 sogar ein leichtes Beschäftigungsplus von 13 761 Beschäftigten (plus 1,4 Prozent). Der staatliche Rettungsschirm für die Banken in Höhe von 500 Mrd. Euro hat entscheidend dazu beigetragen. Zwar war dieser Rettungsschirm nicht, wie von Verdi gefordert, mit einem Verbot betriebsbedingter Kündigungen für die 250 000 Bankangestellten verbunden worden, aber Massenentlassungen fanden bisher dennoch nicht statt. Für die 20 000 Beschäftigten der mit der Dresdner Bank fusionierten Commerzbank wurden in einer Betriebsvereinbarung betriebsbedingte Kündigungen bis 2013 ausgeschlossen. Zudem fühlen sich nur 30 Prozent aller Betriebe des Kreditgewerbes von der Krise überhaupt tangiert. (Diese relative Sicherheit am Rande des Abgrundes mag dazu beigetragen haben, dass Verdi Tarifverträge für den Bankensektor wie für die Versicherungen mit moderaten Einkommenserhöhungen um zwei Prozent erzielen konnte.)

Mit dem Winter 2009/10 wird jedoch auch in weiteren Dienstleistungsbranchen die Krise an Dynamik gewinnen: Die Insolvenz von Arcandor mit bis zu 50 000 Betroffenen wie auch das Ende von Woolworth und Hertie verdecken die Tatsache, das der Handel insgesamt bisher noch gut durch die Krise gekommen ist. Jedoch dient auch hier, ebenso wie in der Industrie, der hohe Anteil prekär Beschäftigter (insbesondere von Teilzeitbeschäftigten, Minijobbern und Leiharbeitern) als Puffer, durch den die Stammbelegschaften noch verschont werden.

Auch der private Konsum hat erheblich dazu beigetragen, dass der Handel und andere personennahe Dienstleistungen bisher stabil geblieben sind. In den letzten zwei Jahren wurden bundesweit tarifliche Einkommenssteigerungen von drei Prozent wirksam, die in der Endphase des Aufschwungs, beispielsweise im öffentlichen Dienst, durchgesetzt werden konnten. Da der Anstieg der Verbraucherpreise bis Mitte 2009 auf null Prozent sank, führte dies erstmals seit Jahren zu steigenden Reallöhnen. Zudem verhinderten Kurzarbeitergeld und Arbeitszeitkonten einen tiefen Einbruch bei den Nettoeinkommen; und schließlich gab es durch die Aussetzung des Nachhaltigkeitsfaktors der Riester-Reform wieder eine Rentenerhöhung. 5 Alles Faktoren, die bisher die Arbeitslosigkeit in Grenzen hielten. Dies wird aber nicht so bleiben.

„Schöne Aussichten“ für 2009

Noch rechnet die Bundesagentur für Arbeit bei einer offiziellen Arbeitslosenzahl von derzeit 3,4 Millionen für 2009 mit einer Unterbeschäftigung von rund 4,5 Millionen. Nicht eingerechnet sind dabei die Solo-Selbstständigen, deren Aufträge zurückgehen, und die kleinen Geschäftsleute, die sich nur mit Mühe über Wasser halten. Kommt es 2009 tatsächlich zu den prognostizierten Massenentlassungen – und werden zudem in großem Umfang Lohnsenkungen zur Beschäftigungssicherung vereinbart –, dann kann der Konsum schneller einbrechen als gedacht. Weitere Entlassungen wären die Folge, eine Abwärtsspirale käme in Gang.

Mit Verspätung würde die Krise dann auch den öffentlichen Dienst erreichen. Der letzte Aufschwung, der Ende 2008 abrupt abbrach, spülte immerhin noch bis in das Jahr 2009 Steuermehreinnahmen in die öffentlichen Kassen. Nach jahrelangem Personalabbau verzeichnete der öffentliche Sektor sogar ein Beschäftigungsplus von 24 000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Aber bereits für 2009 erwarten die Finanzminister für die Haushalte von Staat und Sozialversicherungen ein Defizit von 110 Mrd. Euro und für 2010 von über 130 Mrd. Euro. In ihrem Positionspapier zur Finanzkrise vom September 2009 rechnen Peer Steinbrück und Frank-Walter Steinmeier mit Einnahmeausfällen in den öffentlichen Kassen von 300 Mrd. Euro für die kommende Legislaturperiode. „Zudem muss der Staat 500 Mrd. Euro Bürgschaften und Kapitalhilfen für die Banken bereitstellen und Wirtschaft und Konsum mit zwei Konjunkturpaketen von 80 Mrd. Euro stabilisieren. Darüber hinaus umfasst das Kredit- und Bürgschaftsprogramm für Unternehmen 100 Mrd. Euro.“ 6

Diese durchaus realistische Bilanz der Krisenkosten bis zum September 2009 verdrängt allerdings die Tatsache, dass die Autoren zusammen mit Union und FDP die Weichen für den Kostenabbau bereits gestellt haben: nämlich durch Sozialabbau mit Hilfe der Schuldenbremse. Diese zwingt die Länder, bis 2015 einen schuldenfreien Haushalt vorzulegen, und den Bund, bis 2020 das Defizit auf 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu begrenzen. Deshalb muss die Sparpolitik möglichst bald beginnen, auch wenn von Aufschwung oder einer dauerhaften Stabilisierung der Banken noch nicht die Rede sein kann. 7

All das sind „schöne Aussichten“ für die Beschäftigten und ihre Gewerkschaften – ob in der Industrie oder im Dienstleistungssektor. Und sie werden noch dramatischer, wenn sich der Blick auf jene richtet, die bisher schon prekär beschäftigt oder arbeitslos waren. Von 40 Millionen Erwerbstätigen sind bereits heute nur noch 27 Millionen sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Und nur noch ein Drittel aller Arbeitslosen bezieht Arbeitslosengeld I, während zwei Drittel bereits auf Hartz IV angewiesen sind. Besserung ist dabei nicht in Sicht. Denn auch die Dynamik auf dem Arbeitsmarkt hat nachgelassen: So ist die Zahl der gemeldeten Stellen seit einem Jahr um über 20 Prozent zurückgegangen. Das belegt: Die Krise ist längst auf dem Arbeitsmarkt angekommen.

Die neuen Arbeitslosen werden dann auf jene Langzeitarbeitslosen stoßen, die ohnehin kaum noch Chancen auf Integration in den Arbeitsmarkt haben. Der weitere Erosionsprozess der „gesellschaftlichen Mitte“, also der Arbeiter, Angestellten und Selbstständigen, ihr Abstieg in die auf Unterstützung angewiesenen Unterschichten wird sich beschleunigen. Dies dürfte Abstiegsängste und zugleich die Konkurrenz untereinander fördern. Die ohnehin existierenden Spaltungstendenzen in der Gesellschaft, konkret erfahrbar im Zerfall von sozialen Zusammenhängen speziell in den Städten, werden weiter zunehmen. Zudem wird sich das Problem der Ausgrenzung eines erheblichen Teils der Migranten weiter verschärfen, deren Armutsrisiko bereits heute doppelt so hoch ist wie das der übrigen Bevölkerung.

Wenn sich die Krise weiter zuspitzt und zu größeren Spaltungen und Verwerfungen führt, werden die Kämpfe um die Frage zunehmen, wer für die Kosten der Krise am Ende aufkommt. Schon jetzt bezahlen die Arbeitslosen mit abnehmenden Integrationschancen, die Leiharbeiter mit Entlassungen, die Beschäftigten insgesamt mit Kurzarbeit oder Verzicht auf übertarifliche Leistungen massiv für die Krise. Die Konjunkturprogramme könnten bestimmten Beschäftigtengruppen nützen, wenn sie ausreichend dimensioniert wären. Jedoch zeigen die eingeführte Schuldenbremse, aber auch die bereits vor der Wahl in Teilen der Union anhebende Diskussion über eine Erhöhung der Mehrwertsteuer, dass die konservativ-liberalen Kräfte nach wie vor eine klare Vorstellung davon haben, wem die Kosten der Krise aufgebürdet werden sollen: nämlich den unteren und mittleren Einkommensschichten. Infolgedessen dürften auch die Verteilungskämpfe im Lande zunehmen.

Unterschiedliche Gewerkschaften, unterschiedliche Strategien

Damit stellt sich die Frage nach der Strategie der Gewerkschaften in den kommenden Monaten in aller Schärfe. Auf einer gemeinsamen industriepolitischen Konferenz am 26. Juni d. J. in Oberhausen haben sich IG Metall und IG Bau, Chemie, Erde (BCE) für eine klare Priorität staatlichen Handelns zugunsten der Industrie ausgesprochen. Gefordert werden ein öffentlicher Beteiligungsfonds, eine nachhaltige Industriepolitik, umfassende demokratisch-gesellschaftliche Beteiligungsrechte, gute Arbeit auf einem regulierten Arbeitsmarkt sowie eine koordinierte Industriepolitik in Europa.

Mit diesen allgemein gehaltenen Forderungen verbinden sich jedoch unterschiedliche Konzepte: ein umfassendes industrie- und mitbestimmungspolitisches Konzept der IG Metall sowie ein eher auf Sozialpartnerschaft in den Betrieben und staatliche Bürgschaften ausgerichtetes Konzept der IG BCE. 8 Im Wege der Durchsetzung ihrer Konzepte sind sich beide Gewerkschaften dagegen einig: Sie sind zu einem „konstruktiven Dialog bereit, der Handlungsspielräume öffnet und neue Entwicklungen fördert“. Auch wenn die IG Metall auf ihrer Frankfurter Kundgebung am 5. September scharfe Töne in der Bewertung der Krise anschlug und soziale Gerechtigkeit einforderte, so deutet sich doch an, dass die Industriegewerkschaften auf staatliche Hilfen zur Rettung der industriellen Substanz setzen werden, um die Auswirkungen der Krise korporativ zu lösen.

Eine andere Strategie verfolgt dagegen Verdi. Schon lange vor Ausbruch der Krise hatte Verdi zur Stützung der Binnenkonjunktur und zum Aufbau der Beschäftigung vor allem im Bereich der öffentlichen Dienstleistungen ein Konjunkturprogramm im Umfang von 40 Mrd. Euro gefordert. Auch sahen jene, die sich einen kritischen Blick auf den Neoliberalismus bewahrt hatten, schon seit langem eine Krise der globalen Finanzmärkte vorher. Aber dennoch waren selbst die größten Kritiker von der Geschwindigkeit, der Dynamik und vor allem der ungeheuren Dimension der Krise überrascht. Berichte beispielsweise des Verdi-Vorsitzenden Frank Bsirske über die ungeheuren Finanzmarktspekulationen, die 2007 die IKB ins Straucheln gebracht hatten, wurden anfangs ebenso ungläubig aufgenommen wie der rapide Zusammenbruch der Hypo Real Estate. Als deutlich wurde, dass ohne staatliche Hilfe das Finanzmarktsystem vor dem Kollaps stand, wurden umfassende Forderungen nach einer wirksamen Regulierung der Finanzmärkte erhoben: eine strenge Aufsicht für Banken und das gesamte Finanzsystem, das Verbot hochrisikobehafteter Geschäfte und die schnelle Reduzierung der Banken auf ihre Kernaufgabe, nämlich Verbraucher und Unternehmen mit Geld und Kredit zu versorgen. Kurz gesagt: Das Kasino sollte schnell geschlossen werden.

Unter dem Vorzeichen eines sozialökologischen Umsteuerns sollen mit einem Konjunkturpaket III im Umfang von 75 Mrd. Euro durch Investitionen in „Beton und Köpfe“ qualitatives Wachstum generiert und zugleich die überzogene Abhängigkeit Deutschlands vom Export abgebaut werden. Zur Stärkung der Binnennachfrage und aus sozialpolitischen Gründen verlangt Verdi den gesetzlichen Mindestlohn, die verlängerte Altersteilzeit, einen längeren Bezug des ALG I und Regelsätze des SGB II von 435 Euro. Zugleich verbindet Verdi diese Forderung mit einer Umverteilungskomponente durch die Erhebung der Vermögensteuer, einer Gemeindewirtschaftsteuer und eines höheren Einkommensteuersatzes.

Im Unterschied zu den Industriegewerkschaften setzt Verdi somit primär auf den Ausbau der öffentlichen und privaten Dienstleistungen, ein qualitatives und ökologisch verantwortbares Wachstum sowie eine tiefgreifende Umverteilung.

In unterschiedlichem Maße fanden beide Konzepte – die der Erneuerung der industriellen Basis wie die eines Ausbaus der Dienstleistungsökonomie – Eingang in die beschäftigungspolitischen Konzepte von SPD, Grünen und Linkspartei. Welche der beiden Strategien sich am Ende durchsetzt, wird vom Verlauf der Krise und dem Druck auf die Politik abhängen, die letztlich entscheiden muss, ob sie der Sanierung der industriellen Basis Vorrang einräumt vor einem dauerhaften Ausbau der Dienstleistungen.

Wie weiter? Gewerkschaften und NGOs

Gerade jetzt, nach der Wahl, kommt es darauf an, die Politik der neuen Regierung genau zu beobachten, um einen möglichen grundsätzlichen backlash zu verhindern, der sich mit der verheerenden Einführung der Schuldenbremse bereits andeutet. Dafür bedarf es letztlich eines konzertierten Auftretens aller Gewerkschaften und ihrer Mitglieder. Die dafür erforderliche Einigkeit sollte, allen existierenden Differenzen zum Trotz, durchaus herzustellen sein. Denn die unterschiedlichen Strategien der Gewerkschaften zielen letztlich alle darauf, die tiefe Krise von Wirtschaft und Arbeitsmarkt und auch der Gesellschaft zu verhindern und einen grundsätzlich anderen Entwicklungspfad einzuschlagen, um künftige Krisen zu vermeiden: sowohl durch kontrollierte Finanzmärkte und die Beseitigung von weltwirtschaftlichen Ungleichgewichten und binnenwirtschaftlichen Ungerechtigkeiten, als auch durch die Reaktivierung sozialstaatlicher Handlungsmacht.

Leider nur als Minderheitsposition artikuliert sich dagegen bisher die Forderung nach einer Rolle der Gewerkschaften als Katalysator oder – noch weiter gehend – als Träger sozialen Protestes und systemüberwindender Forderungen. Derartige Ansätze bleiben jedoch dringend erforderlich, wenn die Gewerkschaften dem Übel des enthemmten Kapitalismus wirklich an die Wurzel gehen und sich nicht mit kurzfristigem Krisenmanagement zufrieden geben wollen. Der jüngste DGB-Kapitalismuskongress im Mai war ein erstes Zeichen für eine grundsätzlichere und gesellschaftspolitischere Einschätzung der Krise. Auf breiter Ebene ist dergleichen aber noch nicht erfolgt. Bei der Mehrheit der Gewerkschaften gibt es noch keine Anzeichen für eine ernsthafte Vertiefung der Diskussion. Die Zusammenarbeit mit globalisierungskritischen Akteuren ging bisher über die traditionell kooperierenden Kräfte in den Gewerkschaften kaum hinaus, was sich auch an der nur „maßvoll“ seitens der Gewerkschaften unterstützten großen Attac-Demonstration am 28. März zeigte. Die eigene Demonstration am 16. Mai war dagegen eher ein Ergebnis der gewohnten, routinierten Organisationskunst, als eine dem Ausmaß der Krise angemessene Massendemonstration. Für die Zukunft, gerade in Anbetracht der eskalierenden Krise, wird derartiges business as usual zu wenig sein.

In den Gewerkschaften selbst bleibt die Frage nach ihrer Rolle und Strategie weiterhin offen und politisch umkämpft. Viele setzen darauf, mit Unterstützung des Staates und durch Kooperation mit Unternehmern die Krise zu überstehen, um sich dann wieder dem Kerngeschäft der Tarifpolitik und der Mitgliedergewinnung widmen zu können. Andere diskutieren Forderungen nach einer Alternative im System, durch eine makroökonomisch angelegte Politik des sozialökologischen Umbaus und einer neuen ordnungspolitischen Bestimmung von Markt und Staat, etwa im Sinne einer Revitalisierung der Idee der Wirtschaftsdemokratie oder der unternehmenspolitischen Erweiterung der Mitbestimmung, verbunden mit dem gesellschaftspolitischen Gedanken der Vergesellschaftung von Arbeit. Wieder andere wollen das Thema radikaler Arbeitszeitverkürzung auf die Tagesordnung setzen.

Insgesamt befindet sich die gewerkschaftliche Bewegung deshalb noch immer in einem Suchprozess, der als solcher anerkannt und ausgetragen werden muss.

Machtgewinn oder Machtverlust in der Krise?

Ebenso offen bleibt die Frage nach Machtgewinn oder Machtverlust in der Krise. Fest steht: Die institutionelle Macht der Gewerkschaften ist seit Einführung der Agenda 2010 wieder gewachsen. Vor allem die industrie- und arbeitsmarktpolitische Lobbyarbeit der Gewerkschaften zeitigte Erfolge; die konjunkturpolitische Arbeit steckt dagegen derzeit fest. Gerade an diesem Punkt wird es darauf ankommen, gegenüber der neuen Regierung durch kluge Initiativen an Boden gutzumachen.

Denn bei alledem bleiben Organisations- und strukturelle Macht der Gewerkschaften mehr denn je (wenn auch in sektoral unterschiedlichem Maße) grundsätzlich gefährdet: Gerade in der kommenden Legislaturperiode werden die Industriebeschäftigen und ihre Gewerkschaften einen harten Abwehrkampf um die Substanz, die Arbeitsplätze und die Zukunft ihrer Branchen führen müssen – und damit immer auch um ihre eigene aktuelle und zukünftige Bedeutung.

Die gemeinsame machtpolitische Herausforderung der Gewerkschaften aber wird darin liegen, ob sie sich – über ihre Schutzfunktion in der Krise hinaus – gemeinsam mit Bündnispartnern aus Gesellschaft und Politik einbringen können: als Katalysator sozialer Bewegung und Träger einer tiefgreifenden wirtschaftsdemokratischen und sozialökologischen Umgestaltung der westlich-kapitalistischen Industriegesellschaft. Angesichts der kommenden Verschärfung der Wirtschafts- und Gesellschaftskrise wird sich daran letztlich die Frage nach der Zukunft der Gewerkschaften entscheiden.

 

1 Dabei waren die Unterschiede in den Auftritten unübersehbar: Während Verdi und die Gewerkschaft „Nahrung – Genuss – Gaststätten“ (NGG) mit großen roten Wahlwürfeln, einem bundesweiten Flashmob und einer umfangreichen Internetkommunikation um „Stimmen für den Mindestlohn“ warben, rief die IG Metall zur Abstimmung für das „Gute Leben“ auf und versammelte am 5.9.2009 rund 45?000 Menschen in der Frankfurter Fußballarena zu Kundgebung und Konzert.
2 Vgl. den IAB-Kurzbericht, 18/2009.
3 Vgl. Bundesagentur für Arbeit, Arbeitsmarktbericht, August 2009.
4 Vgl. etwa das vorläufige Beschäftigungspapier des von den Industriegewerkschaften geprägten DGB-Bezirks Nordrhein-Westfalen.
5 Vgl. Verdi, Wirtschaftspolitische Informationen, August 2009.
6 Vgl. Frank-Walter Steinmeier und Peer Steinbrück, Die Lasten der Krise fair verteilen, S. 3.
7 Wie Bundesbankpräsident Axel Weber in der „Zeit“ vom 20.8.2009 feststellt.
8 Vgl. zur IG Metall Hans-Jürgen Urban, Die Mosaik-Linke, in: „Blätter“, 5/2009, S. 71-78.
Analysen und Alternativen - Ausgabe 10/2009 - Seite 57 bis 64