Die Lüge von der Leistungsförderung im deutschen Bildungssystem
Gemeint ist damit nicht die Fähigkeit, sich im Umgang mit anderen Menschen so zu benehmen, dass größere Katastrophen ausbleiben - also eine gute Kinderstube: „Unter sozialer, gemeinsamer oder gesellschaftlicher Intelligenz [...] verstehe ich nicht die Intelligenz, die sich mit sozialen Beziehungen befasst, sondern jene, die aus ihnen hervorgeht. Es handelt sich dabei, so könnte man sagen, um eine Gesprächs-Intelligenz." Der vielfältige, freie und ungestörte Austausch zwischen intelligenten Menschen lasse „soziale Intelligenz" entstehen. Diese wiederum hält Marina für unverzichtbar bei der Suche nach Lösungen für die Probleme, denen sich die Menschheit stellen müsse.
Marina gehört vielleicht nicht zu den originellsten und zweifellos nicht zu den bekanntesten Vertretern seiner Zunft. Sein zutiefst anti-elitäres Verständnis von Intelligenz aber ist ansprechend, und die Klarheit seines Urteils tut wohl.
Etwa, wenn er verrät, welche Gesellschaften er für „intelligent" hält und welche nicht: „Intelligent sind gerechte Gesellschaften. Und dumm die ungerechten." Punkt.
Der Mythos von „Bildungsgerechtigkeit" und „Leistungselite"
Wenn man „soziale Intelligenz" als das Ergebnis des „Gesprächs" einer möglichst großen Zahl intelligenter Menschen miteinander begreift, dann sorgt das deutsche Bildungssystem erfolgreich für Ruhe. Manchmal sogar für Grabesstille. Gegenwärtig gibt es ein bemerkenswertes Schauspiel zu bestaunen: den Abbau der bürgerlichen Leistungsgesellschaft unter dauernder, lärmender Anrufung ihres obersten Heiligen - der Leistung.
Keine der einschneidenden Maßnahmen im Bildungssektor während der letzten 10 Jahre, vom Bologna-Prozess über die sogenannte Exzellenz-Förderung bis hin zur Vergabe von Elite-Zertifikaten an Universitäten, wäre ohne die Rechtfertigung ausgekommen, auf diese Weise werde die „Leistung" gesteigert und Deutschland „international konkurrenzfähig" gemacht.
Nun ist gegen Leistungsförderung ja im Prinzip nichts einzuwenden. Es ist zum Beispiel vernünftig, wichtige gesellschaftliche Positionen mit Leuten zu besetzen, die dafür besondere Fähigkeiten mitbringen.
Nur müsste ein demokratisches Bildungssystem, das die „soziale Intelligenz" mehren wollte, allen Interessierten die Möglichkeit bieten, zu zeigen, was sie können. „Dummheit", schreibt der französische Soziologe Pierre Bourdieu, „ist eine soziale Vernachlässigung."
Strukturelle Barrieren, die etwa Kindern aus sozial schwachen (sogenannten „bildungsfernen") Familien den Zugang zu höherer Schulbildung oder zur Universität versperren, müssten abgebaut werden.
Möglichkeiten wären zu schaffen, in eigenverantwortlicher Arbeit den Rückstand aufzuholen auf KlassenkameradInnen, die umgeben von Büchern aufgewachsen sind - und sie sich vor allem selber kaufen können! Um ein Bild zu verwenden, das gewiss so manchem neoliberalen „Bildungsreformer" das Wasser in die Augen treibt: Nur, wenn alle von der gleichen Linie starten, kann man sehen, wer der Schnellste ist. Leistungsvergleich erfordert Chancengleichheit.
Hinzu kommt ein weiteres Problem: Als Leistung gilt im durchkapitalisierten Bildungsbetrieb nur noch, was man abfragen (oder verkaufen) kann. Kriterien dafür, was im Leben eines Menschen als „Leistung" zu gelten habe und was nicht, werden von anderen festgelegt - und meist auf Heller und Pfennig umgerechnet.
Das macht die Orientierung im Wirrwarr der Wege, Pfade und Sackgassen, egal, ob beim Lesen einer Studienordnung oder im wirklichen Leben, sicherlich leichter.
Auf der Strecke aber bleibt das Eigenständige; der kreative, unangepasste Gedanke; der individuelle Beitrag zur „sozialen Intelligenz".
Definitionsmacht über Leistungsinhalte ermöglicht nicht nur, einen Strauß von Werten aggressiv in einer Gesellschaft zu verankern. Sie sorgt auch dafür, dass diejenigen, die über sie verfügen, für sich und ihresgleichen Vorteile schaffen können. Vorteile, die nicht sofort ins Auge fallen. In einer nach Klassen und Schichten geschiedenen Gesellschaft ist das gewiss nichts Neues. Neu und verräterisch ist nur das Gelärme, dass neuerdings um die „Leistung" gemacht wird. Es lohnt sich also, genauer hinzuschauen. Denn von nichts ist das deutsche Bildungssystem - und nicht nur dieses! - heute weiter entfernt als von einem fairen Leistungsausgleich. Die tiefgreifenden Veränderungen der letzten Jahre haben, vor allem im tertiären Sektor [Erwachsenenbildung und Berufsqualifikation], dazu geführt, dass eine ständig wachsende Zahl von Menschen niemals die Chance bekommen wird, ihre Fähigkeiten zu zeigen oder gesellschaftlich aufzusteigen. Die neoliberalen Reformen zielen auf Ausschluss, nicht auf Einschluss.
Leistungsförderung: die Lebenslüge einer kapitalisierten Bildungspolitik.
Darwin drückt wieder die Schulbank
Denn in Wirklichkeit hat das ständige Gerede von „verschärftem Leistungsdruck" und „Konkurrenz" nur bewirkt, dass sich die gesellschaftlich Privilegierten, die „Habenden und Herrschenden" (Wolf-Dieter Narr), noch tiefer in ihre Wagenburgen zurückgezogen haben. Jene sozialen Filter, die den eigenen Nachwuchs bislang vor missliebiger Konkurrenz in Schule und Universität schützten und ihm eine goldene Zukunft sichern sollten, sind mit der angeblich befreiten „Leistungskonkurrenz" nicht etwa abgebaut worden. Sie arbeiten sogar noch besser und gründlicher.
Gleichzeitig hat sich eine bemerkenswerte Verschiebung in der öffentlichen Wahrnehmung vollzogen. Auf ungerechte Strukturen hinzuweisen, die einer Vielzahl von Menschen den Weg zum (ökonomischen oder gesellschaftlichen) Erfolg verbauen, hat schon fast etwas Subversives. Statt dessen hat eine krude Form des Sozialdarwinismus Einzug gehalten.
Persönlicher Misserfolg erscheint als eine Art „Geburtsfehler", nicht einmal mehr als Folge falscher Entscheidungen oder fehlenden Engagements. Als der (damals noch) SPD-Vorsitzende und Kanzlerkandidat Kurt Beck öffentlich verkündete, die meisten Mitglieder sozial schwacher Familien wollten an ihrer Lage gar nichts ändern, erntete er Widerspruch nur im Kabarett. Der Darmstädter Soziologe Michael Hartmann andererseits hat nachgewiesen, dass die tatsächlichen gesellschaftlichen Eliten - Wirtschaftsbosse, hohe JuristInnen, PolitikerInnen, UniversitätsprofessorInnen - im Grunde relativ „leistungsresistent" sind. Sie rekrutieren ihren Nachwuchs in erster Linie aus den eigenen Reihen. Letztlich geht es also darum, öffentlich zu legitimieren, warum immer weniger Menschen immer mehr besitzen, und warum immer mehr Menschen immer weniger. Denn zur „Elite", das wissen sogar deutsche BildungspolitikerInnen, dürfen nie viele gehören! Wenn nun die Konstruktion einer „neuen Geisteselite" - und darum geht es schließlich bei den Reformen im Bildungssektor - mit ein wenig Sozialdarwinismus gewürzt daherkommt, ist das für die Wohlhabenden und Etablierten tröstlich: Strukturen, die ihre Privilegien schützen, gelten nicht länger als ungerecht oder dem Leistungsprinzip entgegengesetzt, sondern schlicht und einfach als „natürlich": Die anderen hätten es ja ohnehin nicht geschafft...
Soziale Filter: Herkunft, Klüngel und das liebe Geld
Die strukturelle Benachteiligung von Kindern aus „bildungsfernen" Elternhäusern beginnt bereits auf der Straße - dort, wo man ihnen die Möglichkeit nimmt, überhaupt einmal auf Entdeckungsreise zu gehen in die Welt der Bücher.
Von Stadt zu Stadt hat eine rigide Sparpolitik die Stadtteilbibliotheken schwinden lassen. Dort, wo sie der Schließung entgehen konnten, lag dies meist an massivem Widerstand der Bevölkerung, die die Bibliotheken teilweise in Eigenregie weiter betrieb.
Trotz allen Geredes über E-Learning und Informationsgesellschaft sollte niemand das Internet für einen gleichwertigen Ersatz halten: Gerade in problematischen Stadtteilen waren die Stadtteilbibliotheken oft unersetzliche kulturelle Treffpunkte und boten die Möglichkeit, sich notfalls heimlich mit Dingen zu beschäftigen, die der Vater zuhause für Zeitverschwendung hielt. Dass mittlerweile selbst konservative, europäische BildungspolitikerInnen das dreigliedrige Schulsystem in Deutschland als „zu selektiv" kritisieren, sei hier nur am Rande erwähnt. Fest steht, dass auch an der Schule oft die Herkunft die Bewertung der Leistung entscheidet.
„Inzwischen", schreibt Anett Mängel in den Blättern für deutsche und internationale Politik (2/2008), „haben diverse Studien nachgewiesen, dass bei gleicher intellektueller Leistung die Chance für ein Kind aus bildungsfernem Elternhaus, eine Gymnasialempfehlung zu erhalten, wesentlich geringer ausfällt als für ein Kind aus der bildungsnahen Mittelschicht."
Aber selbst, wenn wir einmal annehmen, diese Empfehlung sei ausgesprochen: Am Eingang der Universitäten wartet der letzte, vielleicht gründlichste Filter. Geld. Studiengebühren sind für ärmere Familien eine oft nicht tragbare finanzielle Belastung - und immerhin werden nach einer aktuellen Erhebung des Deutschen Studentenwerks noch immer 89% der Studierenden von ihren Eltern unterstützt. Ein Stipendiensystem, das (zumindest bis vor kurzem noch) in Ländern wie Großbritannien oder den USA den Zugang von Kindern aus ärmeren Schichten zur Hochschule leidlich sicherstellte, existiert in Deutschland nicht. Statt dessen werben Fiskus und windige Geschäftsleute mit sogenannten „Studienkrediten". Viele von ihnen wurden bereits als Gaunereien entlarvt. Aber selbst „nicht-kriminelle" Angebote sind haarsträubend.
Ein Beispiel: Wer über sieben Jahre - also für die Dauer eines Bachelor- und Masterstudiums - einen Studienkredit mit der (seit 1986 staatlich gestützten) Höchstförderung von monatlich 690 Euro aufnimmt, säße nach Abschluss seines Studiums auf einem Schuldenberg von sage und schreibe 121.706 Euro (!!) - immer gesetzt den Fall, der Zinssatz bliebe bei 5,95%. Bei einem Durchschnittsfördersatz von 490 Euro blieben immerhin noch 91.856 Euro abzuzahlen. Angesichts der erbärmlichen Aussichten für AkademikerInnen auf dem Arbeitsmarkt sind das wahrlich keine reizvollen Aussichten.
Private Anbieter locken mit noch dubioseren „Schnäppchen", so dass mittlerweile schon Warnungen seitens der Universitäten ergehen, sich keine unseriösen Studienkredite aufschwatzen zu lassen. Wer seine Studiengebühren sofort bezahlen kann, studiert also sehr viel billiger als jemand, der auf Studienkredite oder ähnliche Zuwendungen angewiesen ist. Die „Gnade der reichen Geburt", hier wird sie wirklich greifbar. Die soziale Zusammensetzung der Studierendenschaft spricht, wie die erwähnte Studie des Deutschen Studentenwerks zeigt, eine deutliche Sprache: Von Kindern aus einkommensstarken Familien schaffen es vier Fünftel an eine Hochschule. Bei Kindern aus einkommensschwachen Familien ist es lediglich ein Zehntel. Tendenz fallend.
Eine strohdumme Gesellschaft
Man könnte den Bogen noch weiter spannen, über eine wissenschaftliche Nachwuchsförderung, die diesen Namen kaum verdient, bis hin zu Berufungsverfahren für ProfessorInnen. Das Bild wäre immer dasselbe. Wer öffentlich über die Notwendigkeit philosophiert, angesichts der Konkurrenz eines weltweiten „Bildungsmarktes" den „verschärften Leistungswettbewerb" zu fördern, meint augenscheinlich nie, auch er und seine Sippschaft könnten an der wilden Hatz nach „Leistung" teilnehmen, zumindest nicht ohne gehörigen Vorsprung. Neoliberale Bildungspolitik bedeutet die massive Verschärfung des Privilegienschutzes der Habenden und Herrschenden und ihrer Kinder, nicht mehr und nicht weniger.
In Wahrheit wird eine Zwei-Klassen-Gesellschaft zementiert, und die Türe zu den Fleischtöpfen der Gesellschaft dürfte bald nur noch für eine neofeudale Geld-Elite passierbar sein. Mit lügenhaften Versprechungen wird gleichzeitig eine Leistungshetze vorangepeitscht, die selbst für diejenigen, die an ihr teilnehmen „dürfen", meist nur auf die Arbeitsämter führt. Der Rest der Bevölkerung, kein bisschen weniger klug, kreativ und leistungsfähig, darf zuschauen. Nach den Kategorien von José Antonio Marina müsste man Deutschland angesichts solch himmelschreiender und stetig zunehmender Ungerechtigkeiten also wohl den dummen Gesellschaften zurechnen. Den strohdummen Gesellschaften.
Joseph Steinbeiß
Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 333, Monatszeitung für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft, 37. Jahrgang, November 2008, www.graswurzel.net