Europas Interessen in der Region

Die EU steht ohne Wenn und Aber auf der Seite Georgiens

"Der Europäische Rat ist zutiefst besorgt über den in Georgien ausgebrochenen offenen Konflikt, die damit verbundene Welle der Gewalt und die unverhältnismäßige Reaktion Russlands." Mit diesen Worten beschönigten die europäischen Staats- und Regierungschefs auf ihrem Brüssler Sondergipfel am 1. September den Angriff Georgiens auf Südossetien. Während Russland allein an den Pranger gestellt wird, werden Georgien Wiederaufbauhilfe, Visaerleichterungen sowie die Prüfung der "Errichtung einer uneingeschränkten und umfassenden Freihandelszone" versprochen. Ganz offensichtlich ordnet die EU den Georgien-Konflikt in den Kontext einer geopolitischen Auseinandersetzung mit Russland ein.

"Die jüngsten Ereignisse" hätten gezeigt, "dass Europa seine Bemühungen im Bereich der Sicherheit der Energieversorgung verstärken muss", so die EU-Staats- und Regierungschefs in Brüssel. Ein Blick auf die Karte reicht, um zu erkennen, worum es geht: Sollen Gas und Öl aus dem zentralasiatischen Raum, sollen Waren und Güter auf dem Landweg aus China und Kasachstan nach Europa gebracht werden, ohne den russischen Einflussbereich zu durchqueren, ist man auf Georgien angewiesen.

Planungen für entsprechende Transportwege sind längst auf den Weg gebracht. So soll etwa durch das milliardenschwere Nabucco-Pipeline-Projekt Westeuropa über die Türkei mit zentralasiatischem Erdgas versorgt und dadurch die "Abhängigkeit" Europas von russischen Gasimporten vermindert werden. Vor allem die USA bemühen "sich schon lange um die Errichtung von Öl- und Gaspipelines, die aus dem Kaspischen Meer an Russland vorbeiführen und vor allem durch Georgien verlaufen". (euractiv, 25.8.08)

Transitland für Gas, Öl und chinesische Waren

Bezugnehmend auf das Nabucco-Projekt erklärte allerdings Ed Chow vom Center for Strategic and International Studies nach den Kämpfen in Georgien gegenüber der Washington Post, dass Russland ernste Zweifel in den Köpfen der westlichen Kreditgeber und Investoren gestreut habe, ob so eine Pipeline durch Georgien vor Angriffen geschützt oder vor der Kontrolle des Kremls sicher sei. (zit. nach euractiv, 25.8.08) Das Pipeline-Projekt, über das Gas ohne russische Kontrolle nach Europa gelangen sollte, scheint (sich) nun aufgrund "der Krise zwischen Moskau und Tiflis in der Schwebe zu befinden". (ebd.)

Dass einer der Hauptgründe für den russischen Angriff die Tatsache gewesen sei, dass Georgien bereits über eine entsprechende Ölleitung verfüge, behaupte Georgiens Präsident Michail Saakaschwili. Die in ihrer gesamten Länge einen Meter unter der Erde verlegte Baku-Tiflis-Ceyhan-Pipeline (BTC) war allerdings schon seit einem Anschlag westlich von Erzincan am 5. August, zu dem sich die PKK bekannte, außer Betrieb - also drei Tage vor Beginn der Kämpfe in Georgien. Die Lieferungsunterbrechung zeigt deutlich, wie anfällig eine Energietransportroute in der Region ist - selbst wenn russische Truppen nicht bis Gori und zur zentralen georgischen Verkehrsachse vorstoßen.

Gleiches gilt für die Anfang August 2008 fertiggestellte Eisenbahnlinie von Kars (Osttürkei) über Tiflis nach Baku. Mit der Eisenbahnlinie Kars-Achalkalaki-Tiflis-Baku (KATB) soll Georgien unter Umgehung der bestehenden russischen und armenischen Transportrouten zum zentralen Gütertransportverkehrsland von China und Kasachstan nach Europa werden. Die KATB führt jedoch wie die Nabucco-Trassierung durch ein Gebiet Georgiens, in dem die armenische Bevölkerungsmehrheit in den vergangenen Jahren ihren Ruf nach politischer Autonomie immer lauter erhebt.

Georgien ist für die EU- wie NATO-Staaten von zentraler Bedeutung, um Russland vom Energieexport abzuschneiden. Mit den Pipeline-Projekten North-Stream und South-Stream versucht Russland gegenzusteuern. Über direkte Energieleitungen nach West- und Südeuropa soll ein ungestörter Energieexport ohne die Kontrolle von äußerst US-freundlichen ehemaligen Ostblockstaaten sichergestellt werden. Vor diesem Hintergrund hatten insbesondere die USA auf die georgische Karte gesetzt. Ziel war und ist es, Russlands politischen Einfluss zurückzudrängen sowie den Aufstieg Russlands zur Industriemacht zu verhindern.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist Russland mittlerweile wieder zur weltweit elftgrößten Wirtschaftsmacht aufgestiegen. Für das kräftige Wachstum seiner Wirtschaft - im Jahr 2007 betrug es 8,7% - ist es dabei auf die westeuropäischen Industriestaaten und im besonderen Maße auf Deutschland angewiesen. Allerdings wird der rasante Anstieg des Handels Deutschlands mit Russland auf der anderen Seite des Atlantiks mit zunehmender Sorge betrachtet.

Ein zentraler Bauer auf dem geopolitischen Schachbrett

Im ersten Halbjahr 2008 stieg der deutsch-russische Warenverkehr um 23%. Russische Energielieferungen stehen dabei der Export deutscher Industrieerzeugnisse und -anlagen gegenüber. Bei gleichbleibenden Steigerungsraten könnten die deutschen Exporte nach Russland bald die Ausfuhren in die USA überholen. Bei den Einfuhren könnte ein Gleichstand bereits im nächsten Jahr erreicht werden. Die Importe aus Russland nach Deutschland stiegen im ersten Quartal 2008 um 29,9% auf 8,4 Mrd. Euro, während die Importe aus den USA mit 10,9 Mrd. Euro um 5,2% zurückgingen.

Die deutschen Direktinvestitionen in Russland liegen derzeit bei rund 15 Mrd. Euro jährlich. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass die deutsche Wirtschaft die Ankündigung des russischen Präsidenten Dimitri Medwedew bei seinem Vortrag vor dem Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft am 5. Juni 2008 in Berlin begrüßte, "die Abhängigkeit Russlands von Öl- und Gasexporten" verringern zu wollen und "Russland bis 2020 in die Top 5 der größten Volkswirtschaften zu befördern". Dafür seien "große Investitionen in innovative Industrien, in Forschung und Bildung und in den Aufbau einer modernen Infrastruktur geplant". (Pressemittelung des Ost-Ausschuss, 5.6.08) Ost-Ausschuss-Vorsitzender Klaus Mangold regt denn auch eine "enge Partnerschaft zur Modernisierung und Diversifizierung der russischen Wirtschaft" an. Und zeigt sich überzeugt, dass "Deutschland und Russland natürliche Partner sind".

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Georgien zu einem der zentralen Bauern auf dem geopolitischen euro-asiatischen Schachbrett wurde. Das Land wird von den USA, aber auch von anderen NATO-Staaten seit der sogenannten Rosenrevolution 2003/2004 massiv aufgerüstet. Dabei übernahm die EU vor allem die zivile Komponente. Gleichzeitig unterstützt trotz Nachrichten über ein zunehmend autoritäres Regime in Tiflis die EU Georgien ohne Wenn und Aber im Rahmen ihrer sogenannten Nachbarschaftspolitik. Allein 120,4 Mio. Euro sind für den Zeitraum 2004-2010 aus dem Fond für Europäische Nachbarschaftspolitik als Hilfe für Georgien eingestellt; darunter auch Hilfen für sicherheitspolitische Belange - wie z.B. den Ausbau des Grenzschutzes.

Daneben wird von der EU Georgien in Aussicht gestellt, "über die Zusammenarbeit hinaus zu einem erheblichen Grad an wirtschaftlicher Integration zu gelangen, zu der auch eine Beteiligung am EU-Binnenmarkt und die allmähliche Ausweitung der vier Freiheiten in Georgien zählen". Zudem soll "das Land schrittweise an zentralen Aspekten der Politiken und Programme der EU teilnehmen" können. Insbesondere wurden Georgien "verbesserte Möglichkeiten für eine engere Zusammenarbeit in den Bereichen Außen- und Sicherheitspolitik, insbesondere in Bezug auf die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (v.a. regionale Stabilität und Krisenmanagement, Europäische Nachbarschaftspolitik Aktionsplan Georgien)" versprochen.

Um die Widerstände gegen einen Beitritt Georgiens sowie der Ukraine zur NATO zu umgehen, verstärkten EU-Verantwortliche zudem Überlegungen, beide "sektoriell" im Bereich der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu integrieren, was nach einer Ratifizierung des Vertrags von Lissabon auch einen Schutz dieser Staaten durch die dort fixierte Beistandsklausel (Art. 42 Abs. 7) bedeuten würde.

Dessen ungeachtet gibt es bereits heute eine rege Zusammenarbeit Georgiens mit der NATO. Die georgische Armee war bzw. ist sowohl am Irakkrieg als auch in Afghanistan und im Kosovo prominent beteiligt. Im Irak stellt Georgien 2008 mit 2.000 SoldatInnen das drittgrößte Kontingent der "Koalition der Willigen" nach den USA und Großbritannien. Bereits im Abschlussdokument des NATO-Gipfels in Riga 2006 hatte sich ein explizites Lob "des georgischen Beitrags zu internationalen Peacekeeping-Einsätzen und Sicherheitsoperationen" gefunden. Auf dem NATO-Gipfel in Bukarest am 3. April 2008 war Georgien dann zusammen mit der Ukraine eine Beitrittsperspektive zur NATO eröffnet worden, auch wenn die endgültige Entscheidung über den konkreten Heranführungsplan (Membership Action Plan, MAP) auf Dezember 2008 vertagt wurde.

Deutschland spielt derzeit eine Doppelrolle

War Georgien noch auf dem NATO-Gipfel 2006 zu einer "friedlichen Lösung der offenen Konflikte auf seinem Territorium" ermuntert worden, galt diese Zurückhaltung Anfang August nicht mehr. Nachdem die georgische Armee in Südossetien zurückgeschlagen worden war, flog die US-Luftwaffe, noch während die Kämpfe im Gange waren, die im Irak stationierten georgischen Einheiten zurück an die Heimatfront. Angesichts der massiven Ausrüstungskampagne durch die USA und ihre Verbündeten ist es denn auch kaum glaubhaft, dass, wenn nicht grünes Licht, so doch umfassendes Wissen auf US-Seite über den bevorstehenden Angriff vorlag und Stillschweigen gewahrt wurde.

Damit in Einklang stehen Berichte von US-MilitärausbilderInnen, dass die georgischen Brigaden schon im Aufbruch waren, als sie am Morgen des 7. August zur Arbeit kamen: "Die Soldaten saßen auf ihren Rucksäcken und sangen zu den Segnungen eines orthodoxen Priesters, schon bald brachten Busse sie zur Front. Georgien startete eine Militäroffensive, um die Kontrolle über die abtrünnige Region Südossetien wiederzuerlangen." (AP,19.8.08)

Ziel der von den USA vorangetriebenen Politik in Georgien ist es, einen neuen kalten Krieg gegen Russland auf den Weg zu bringen. Mit der NATO-Erweiterung und der Raketenstationierung soll Russland durch eine Politik der Nadelstiche herausgefordert werden. Durch die Störung der Wirtschaftsbeziehungen mit Westeuropa sollen Russlands weltpolitischer Einfluss zurückgedrängt sowie sein Aufstieg zur neuen Industriemacht verhindert werden. Sollte dieses Szenario gelingen - und alles spricht im Moment dafür -, wäre zugleich gewährleistet, dass die NATO-Verbündeten in Westeuropa mit in eine gemeinsame Eskalationsstrategie eingebunden werden könnten und sich noch stärker auf militärische Energiesicherungsprojekte einlassen müssten.

Deutschland spielt dabei im Moment eine Doppelrolle. Während man auf der einen Seite auf den Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen zu Russland setzt, unterstützt man, wenn auch in vorsichtigerer Form, als dies bisher insbesondere Polen und die baltischen Staaten vorantreiben, eine Strategie der Spannung im Rahmen von EU und NATO. Die jüngste Etappe dieser geopolitischen und geostrategischen Herausforderung Russlands fand am 9. September auf dem EU-Ukraine-Gipfel statt, auf dem dem Land eine privilegierte Partnerschaft in Aussicht gestellt wurde.

Die geplante Stationierung einer EU-Mission in Georgien und die trotz des georgischen Angriffs auf Südossetien bedingungslose Unterstützung des NATO-Beitritts Georgiens und der Ukraine durch Bundeskanzlerin Angela Merkel - der von nahezu 60% der Bevölkerung in Deutschland abgelehnt wird: Die militärische Wiederaufbauhilfe der NATO für Georgien und die permanente Präsenz einer NATO-Kriegsflotte im Schwarzen Meer lassen für die Zukunft eine weitere Zuspitzung der Lage befürchten.

Martin Hantke

Quellen: Ratsdok. 12594/08 v. 1.9.08; Europäische Kommission: Europäischen Nachbarschafts- und Partnerschaftsinstrument, Georgien, Länderstrategiepapier 2007-2013; Europäischen Nachbarschaftspolitik, Aktionsplan EU-Georgien.