Die Tomate flog noch vorbei

in (01.04.2008)

Den Ostersonntagmorgen im April 1968 verbrachte ich noch in relativer politischer Unschuld. Aber die Selbstbezichtigungskampagne prominenter Frauen in der Illustrierten "Stern" ging mir unter die Haut

Martin Luther King wurde in Memphis ermordet, das war weit weg; Rudi Dutschke wurde am Berliner Ku-Damm zusammengeschossen, das war nah, aber fremd für mich. Axel Springers Medienimperium geißelte die linken Chaoten, die ihre Ostermärsche gegen Wiederbewaffnung und atomare Aufrüstung abhielten. Und ich fand das noch irgendwie in Ordnung. Helke Sander vom Aktionsrat zur Befreiung der Frauen verurteilte im September Â’68 auf der 23. Delegiertenkonferenz des SDS das männliche Machogehabe der Genossen, und als diese ihren Beitrag ignorierten, schmiss Sigrid Rüger die berühmte rote Tomate Richtung Podium. Dies wird als Geburtsstunde der Neuen Frauenbewegung markiert. Viele Frauen verließen enttäuscht den SDS und organisierten Kinderläden und Frauengruppen. Die rote Tomate flog damals, in diesem Jahr der Mythen und der Möglichkeiten, noch an mir vorbei.

Ich lebte damals im Westteil der geteilten Stadt. "Am bedrohlichsten erschienen mir die Demonstrationen. Ich, knappe 25, Hausfrau, vor der Geburt meiner Kinder Schneiderin in einer Fabrik, dann (einzig erschwinglicher Bildungsaufstieg) Krankenschwester; mein Mann AEG-Monteur, also typische Arbeiterklasse. Da zogen sie nun mit ihren schwarzen und roten Fahnen vorbei und schrien ‚Ami go homeÂ’. Berlin bebte. Das war im US-besetzten Teil. Die Aufforderung an die GIs bezog sich nicht auf diese Stadt, sondern auf Vietnam, aber das kapierte ich erst später. Wie so vieles andere Politische. Unglaubliche Wut, dass die mit ihren roten Fahnen sich getrauten, was ich nicht wagte: Aufbegehren und Ordnungen infrage stellen.
So wie ich dachten damals viele. Doch dann plötzlich Schubumkehr.
Die Selbstbezichtigungskampagne von prominenten Frauen "Ich habe abgetrieben" in der Zeitschrift "Stern" erreichte mich zielgenau und bewirkte bei mir eine sympathisierende Achtung vor dem Mut dieser Frauen. In den 1960er Jahren haben junge Frauen eine ungewollte Schwangerschaft entweder ausgetragen, oder sie illegal beendet - mit all den bekannten gesundheitlichen, finanziellen und strafrechtlichen Folgen. Ich war da keine Ausnahme, als ich ungewollt schwanger wurde. Und es war auch nicht ungewöhnlich, dass Frauen in dieser Situation Hausfrauen wurden und vielleicht auch irgendwie froh waren, dem drückenden und karriereknappen Arbeitsleben auf diese Weise zu entkommen. Kinder-Küche-Herd war gesellschaftspolitischer Konsens.

Das Aufbruchsklima der Protestbewegungen Ende der 1960er brach mit diesen Konventionen und Traditionen. Die braven Söhne ließen sich die Haare wachsen, hörten die Beatles und lasen Marx und Marcuse; die artigen Töchter verweigerten sich und ihre Dienste, lasen Simone de Beauvoir und forderten gleiche Rechte. Es kam etwas ins Rollen, das die erstarrten, muffigen Strukturen der Nachkriegsjahre aufbrach.
Meine Ehescheidung im Jahr 1968 war ein Wagnis. Ein Aufbegehren gegen die Sprachlosigkeit und Enge meiner Hausfrauenwelt in einer jener halbfertigen, anonymen Satellitenstädte, die wie aus einem Legobaukasten an den Rändern Westberlins wuchsen. Kindergartenplätze für meine beiden Mädchen gab es keine, eine Wohnung auch nicht, und schon gar nicht Arbeit für mich, jedenfalls keine, die es erlaubte, kleine Kinder zu haben und keinen Mann. Da machte ich eine Kneipe auf. (...) Dieses Beisl entwickelte sich zu einem ‚linken TreffpunktÂ’. Nach den Demos trafen sich dort die Leute, und ich begegnete das erste Mal in meinem Leben politischen Zusammenhängen, die ich auch begriff.

Ich denke, die Verknüpfung von gesellschaftspolitischer Analyse und direkter Betroffenheit ist das Unterzündholz, das politische Bewegungen entfachen kann, vor allem, wenn man auch Menschen trifft, die einen stärken. "Als Alleinerziehende erfuhr ich viel Solidarität. Dass kleine Kinder in den Kinderläden verraten und verkauft würden, dieses Vorurteil war zäh. Die kollektive Kindererziehung war für mich zunächst eine bittere und erst später eine lustvolle Notwendigkeit. Das politische Tun wurde Teil meines Lebens. In Berlin baute ich ein selbstverwaltetes Jugendzentrum zur Wiedereingliederung von haftentlassenen Jugendlichen mit auf" und engagierte mich in der Kinderladenbewegung. Es war eine Zeit der unglaublichen Kreativität und des Aufbruchs, ein Experimentierfeld jugendlicher Protestbewegungen. Die Nischen und Freiräume, die sich im Wirtschaftswunderland Deutschland auftaten, haben viele - und, wie die RAF, bis zur Gewalttätigkeit - für ihre Ideen zu nutzen versucht.

Ich fand in den diversen linken Strömungen dieser Zeit, letztendlich in der kommunistischen Partei SEW, die Kinder der Arbeiterklasse gehätschelt hat, politischen Unterschlupf. Das Ernstnehmen meiner Sprachlosigkeit machte mir Mut, meine Gedanken zu artikulieren und nichts als gegeben hinzunehmen. Erste Artikel von mir wurden veröffentlicht.
Vor allem über die jüngere deutsche Vergangenheit erfuhr ich erst in diesen Kreisen Genaueres. Wir fragten unsere Eltern, was sie denn während der Hitlerei gemacht hätten - habt ihr euch denn nicht gewehrt? Habt ihr denn nicht Widerstand geleistet? Das Schweigen über die Nazizeit, mehr noch: die Rückkehr vieler alter Nazis in Amt und Würden war vielen meiner Generation Initialzündung, die bestehende Nachkriegsordnung mit ihren Konsumversprechen, ihrer sexuellen Verzopftheit und ihrer familiären Kleingartenmentalität infrage zu stellen.

Es ist ein Mythos, dass die Proteste der 68er sich auf Studierende und die Unis beschränkt hätten. Diese Zeit war, zumindest in Westberlin, der Aufbruch einer neuen Jugendkultur, die ihren Ausdruck in Musik, bildender Kunst, Pädagogik, Konsumkritik, Film fand - und letztendlich im Aufbegehren der Frauen in linken Zusammenhängen gegen patriarchale Verhaltensweisen, gegen männliche Geschichtsschreibung und deren Aneignung der Welt. Doch erst in Wien, wohin ich 1973 übersiedelte, fand ich den "Draht" zur Frauenbewegung. Das war dann schließlich der Zeitpunkt, wo mich der Tomatenwurf - symbolisch - voll erreichte. Mit Lust denke ich an diverse Vorbereiten der Frauendemos zum 8. März in Hermi Hirschs Lokal zurück; an die Auseinandersetzungen mit den katholischen Frauen um den Schwangerschaftsabbruch, zu dessen Legalisierung sich die Kreisky-Regierung auf dem Villacher Parteitag 1972 auf Druck der Frauen gezwungen sah; an meine Arbeit als Redakteurin der "stimme der frau", der ersten Frauenzeitschrift der 2. Republik, die vom Bund Demokratischer Frauen herausgegeben wurde und 1993 eingestellt wurde.

Ich denke, das Jahr 1968 war ein Markstein für vielfältige Umbrüche. Zum einen wurde die Protestbewegung in den USA gegen den Vietnam-Krieg mit ihrer eindringlichen Forderung "Make love not war" zum Symbol und Schlachtruf einer breiten Jugendbewegung, die auch in Österreich beispielsweise in der WUK-Besetzung und Arena-Bewegung Ausdruck fand; zum anderen wurde durch die Neue Frauenbewegung mit ihrer Forderung "Das Private ist politisch" der Vorhang vor einer spießigen Familienidylle zurückgezogen und das Ausmaß an Gewalt und Unterdrückung sichtbar. Es entstanden Gruppen, Initiativen und Projekte, die sich dieser Thematik widmeten. Ein Resultat davon sind beispielsweise die Frauenhäuser, Frauenberatungsstellen oder andere, mittlerweile als "normal" wahrgenommene frauenspezifische Angebote von Institutionen, um welche die Frauenbewegung heftige Kämpfe führte. Und nicht zuletzt bewirkte die Kinderladenbewegung ein Infragestellen autoritärer Erziehungsmethoden in Familie und Schule.

Dieser schwer erkämpfte, erweiterte Freiraum und die Stärkung der Zivilgesellschaft im Sinne von Gramsci geraten heute zunehmend unter rechtskonservativen Druck: die Fristenlösung wird infrage gestellt, Frauenprojekte werden finanziell ausgehungert und abgedreht, der freie Markt feiert seine Grenzenlosigkeit. Anscheinend haben Konsumverzicht, die Betonung des Lustprinzips und politischer Aktionismus der 68er auch dazu gedient, den Weg freizumachen für die Zurichtung einer neuen Generation von Konsumtrotteln, wie der kapitalistische Markt sie in seiner gnadenlosen Verwertungslogik braucht.

Dieser Artikel erschien in: an.schläge, das feministische Magazin,
www.anschlaege.at