Am 29. März 2007 hatte der frühere Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) wahrscheinlich einen seiner letzten Auftritte vor großem Publikum:
Er wurde als Zeuge im BND-Untersuchungsausschuß zum Fall Kurnaz vernommen. Die Zeitungen schrieben anschließend unisono, man habe einen "typischen Schily" erlebt: herrisch, mürrisch, besserwisserisch. Von oben herab verteilte er Zensuren, schlechte für die Opposition, gute für die Beamten des Repressionsapparates.
Einer der Abgeordneten des Ausschusses hatte Minister Frank Walter Steinmeier und andere, die für die jahrelange Inhaftierung des Murat Kurnaz im Folterlager Guantanamo Bay mitverantwortlich waren, als "furchtbare Juristen" bezeichnet. Schily herrschte ihn an: Das sei eine "unglaubliche Entgleisung".
Für einen hohen Beamten des Bundesinnenministeriums fand Schily dagegen lobende Worte. Dieser sei ein hervorragender Kenner des Ausländerrechts. Der Beamte war nämlich auf die absurde Idee gekommen, das Aufenthaltsrecht des in Deutschland geborenen Türken sei automatisch erloschen, weil Kurnaz sechs Monate nicht mehr in der BRD gewesen sei und auch keinen schriftlichen Antrag auf Verlängerung gestellt habe (Kurnaz war bekanntlich von den Amerikanern verschleppt und jahrelang ohne jeden Kontakt zur Außenwelt eingesperrt worden). Eine solche abwegige, bösartige, auf Abwehr und Ausgrenzung gerichtete Interpretation des Gesetzes fand bezeichnenderweise Schilys Beifall.
Zugleich nutzte Schily seinen Auftritt vor dem Untersuchungsausschuß, um der Öffentlichkeit kundzutun, er sei mit der Politik seines Amtsnachfolgers Wolfgang Schäuble (CDU) voll und ganz einverstanden.
Das glaubt man Schily gern. Denn Schäuble setzt nahtlos den Umbau des Rechtsstaats zum Überwachungsstaat fort. Zudem kümmert er sich absolut nicht um die Warnungen des Bundesverfassungsgerichts vor weiteren Eingriffen in die Grundrechte, sondern macht am laufenden Band Vorschläge, die zu neuen Konflikten mit Karlsruhe führen werden.
Schäuble erweist sich mit seinen neuesten Plänen zur Verschärfung der Sicherheitsgesetze als Schilys williger Vollstrecker. Schon hat die Presse für ihn den Beinamen "Schwarzer Sheriff"gefunden, mit dem sich früher gerne der bayerische Hardliner Günther Beckstein (CSU) geschmückt hat. Der ist aber nun zu Höherem berufen und wird als Lohn für seine Law-and-order-Politik im September bayerischer Ministerpräsident.
Durch eine Vorabmeldung des Spiegel wurde bekannt, daß Schäuble mit schon erteilter Zustimmung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zahlreiche Vorhaben auf den Weg bringen will, die in klarem Gegensatz zu Verfassungsgerichtsurteilen und früheren Beschlüssen des Parlaments stehen. Dazu zählen die Wiedereinführung der Rasterfahndung, die Legalisierung der heimlichen Online-Durchsuchung von Privat-Computern sowie die Nutzung der Daten aus der Lkw-Maut für polizeiliche Zwecke. Des weiteren hat Schäuble in der Koalition durchgesetzt, daß in Reisepässen Fingerabdrücke in RFID-Chips eingespeichert werden. In einer Sachverständigenanhörung des Bundestags wurde nachgewiesen, daß damit die innere Sicherheit nicht verbessert, sondern im Gegenteil gefährdet wird, weil Dritte die Fingerabdrücke unbefugt duplizieren und mißbräuchlich verwenden können. Dies ficht CDU/CSU und SPD nicht an, obwohl sogar die USA wegen solcher Sicherheitsbedenken auf Fingerabdrücke in Reisepässen verzichten.
Damit nicht genug sollen die biometrischen Daten bei den Meldeämtern hinterlegt werden. Das ist der Einstieg in die Zentraldatei mit Informationen über alle Bürgerinnen und Bürger. Noch vor zwei Jahren, als die Biometrie in Pässen eingeführt wurde, hatte die SPD im Bundestag hoch und heilig versichert, eine solche Datei werde nicht kommen. Aber die Sozialdemokraten interessiert ihr Geschwätz von gestern nicht mehr.
Die Koalition bereitet auch eine Gesetzesänderung zum Großen Lauschangriff vor. Damit will sie die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts umgehen, wonach in einer verwanzten Wohnung keine Privatgespräche abgehört werden dürfen.
Mindestens genauso übel wie der große Lauschangriff ist die heimliche Online-Durchsuchung von Computern. Trotz vieler Anfragen der Opposition hatte die Bundesregierung monatelang vernebelt, daß der "Verfassungsschutz" genannte Geheimdienst diese Durchsuchungen längst praktiziert. In einer denkwürdigen Sitzung des Innenausschusses des Bundestags am 25. April mußte Geheimdienstkoordinator Klaus-Dieter Fritsche zugeben, daß Otto Schily schon am 21. Juni 2005 diese Durchsuchungen per Dienstanweisung genehmigt hat. Amtsnachfolger Schäuble sah keinen Anlaß, von der verfassungswidrigen Praxis abzugehen. Der Bundesbeauftragte für Datenschutz, Peter Schaar, kritisierte dies als Verstoß gegen Art. 13 GG (Unverletzlichkeit der Wohnung), Art. 10 (Fernmeldegeheimnis), Art. 2 (Datenschutz) und Art.1 (Menschenwürde). Auf die beißende Kritik der gesamten Opposition hin erklärten sogar Koalitionsabgeordnete, es müsse bei den rechtlichen Grundlagen "nachgebessert" werden. Die richtige Konsequenz, solche Eingriffe in die Intimsphäre ganz zu unterlassen, will die Koalition nicht ziehen.
Dies ist auch nicht zu erwarten von einem Innenminister, der bewußt provozierend in einem Interview mit dem Stern am 17. April 2007 sogar die Unschuldsvermutung in Frage stellte - einen tragenden Grundsatz des Rechtsstaates. Vor-übergehend sah Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) die Chance, sich als Bürgerrechtlerin zu profilieren. Als solche war sie bisher nicht aufgefallen. Sie wird diese Rolle auch nicht glaubwürdig ausfüllen können, denn schon am Tag nach dem Schäuble-Interview stimmte sie im Kabinett der Vorratsdatenspeicherung zu. Damit werden künftig Abermillionen Telefonverbindungsdaten unverdächtiger Bürgerinnen und Bürger für polizeiliche Zwecke gespeichert - ein eklatanter Verstoß gegen das Fernmeldegeheimnis.
All dies ist, wie Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung vom 3. April plakativ und zutreffend formuliert hat, ein "Angriff auf die Bastion des Rechts". Schäuble steuert einen innenpolitischen Kurs, der bewußt der Entwicklung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nach dem 11.9.2001 zuwiderläuft. Das höchste deutsche Gericht hält nämlich immer noch an der Geltung der Grundrechte für jeden einzelnen Bürger fest. Zunächst Schily und jetzt sein Nachfolger Schäuble stellen dagegen die Bevölkerung unter Generalverdacht, um jeglichen staatlichen Eingriff in die Privatsphäre zu legitimieren.
Nur in zwei Fällen ist der Bundestag diesem sicherheitspolitischen Amoklauf geschlossen entgegengetreten. In einer gemeinsamen Resolution aller Fraktionen forderte er im Jahre 2005 die Bundesregierung auf, keiner EU-Richtlinie zur Vorratsspeicherung der Telekommunikationsdaten zuzustimmen. Und bei der Einführung der Lkw-Maut entschied das Parlament - auch mit den Stimmen der CDU/CSU, die andernfalls um die Akzeptanz des neuen Maut-Systems fürchtete -, daß die Mautdaten nur für Zwecke der Abrechnung und Bezahlung und nicht für polizeiliche Zwecke genutzt werden dürfen.
Aber das Parlament ist wankelmütig. Längst hat die große Koalition mit ihrer Mehrheit aus CDU/CSU und SPD den Weg für die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung freigemacht. Das war die Vorstufe zu dem erwähnen Kabinettsbeschluß vom 18. April 2007. Und nach jeder Straftat auf einem Autobahnparkplatz schwindet bei den Abgeordneten der Mut, noch zu der früher beschlossenen strikten Zweckbindung der Mautdaten zu stehen.
Das Bundesverfassungsgericht hingegen setzt Schlag auf Schlag Pflöcke zur Bewahrung der Bürgerrechte. Am 3. März 2004 verwarf Karlsruhe den großen Lauschangriff und zog damit klare Grenzen gegenüber dem Versuch des Staates, heimlich mit Wanze und Richtmikrofon in den Kernbereich der privaten Lebensführung einzudringen. Am selben Tag erklärte das Gericht die Ausweitung der Befugnisse des Zollkriminalamts zur Überwachung des Brief- und Fernmeldeverkehrs für verfassungswidrig. Am 18. Juli 2005 scheiterte der "Europäische Haftbefehl" in Karlsruhe. Kurz darauf wurde das Niedersächsische Polizeigesetz gewogen und zu leicht befunden; die CDU/FDP-Regierung in Hannover hatte versucht, eine vorbeugende Telefonüberwachung zu installieren. Im Mai 2006 entschied das Bundesverfassungsgericht gegen die Rasterfahndung, wie sie nach dem 11.9.2001 durchgeführt worden war. Am 15. Februar 2006 hob Karlsruhe das Luftsicherheitsgesetz (die so genannte Lizenz zum Abschießen von Passagierflugzeugen) auf, das mit den Grundrechten auf Leben und Menschenwürde unvereinbar war. Schließlich wurde im Cicero-Urteil vom 27. Februar 2007 das Grundrecht auf Pressefreiheit höher gewichtet als das polizeiliche Interesse, Informanten von Journalisten ausfindig zu machen.
Dieselbe klare Linie würde man sich von den "Richtern in den roten Roben" auch in außenpolitischen Fragen wünschen, vor allem wenn es darum geht, die Beteiligung der Bundeswehr an völkerrechtswidrigen Kriegen zu stoppen. Vor dem Thron des amerikanischen Präsidenten scheint die Karlsruher Richter bisher der Mut verlassen zu haben. Aber immerhin, in der Innenpolitik haben sie den Fehdehandschuh aufgenommen.
Der Grundkonflikt lautet: Gilt Schilys Credo "in dubio pro securitate - im Zweifel für die Sicherheit", also die bewußte Abkehr vom freiheitlichen Gehalt der Verfassung? Oder muß der Staat bei seinen Maßnahmen für die innere Sicherheit grundrechtliche Schranken einhalten? Das Bundesverfassungsgericht hat mit der Verbindlichkeit, die seinen Entscheidungen zukommt, eindeutig die zweite These favorisiert.
Darüber setzt sich nun Schäuble hinweg. SZ-Kommentator Prantl spricht bereits von einem "massiven Verfassungskonflikt". Neuerdings erhalten die Verteidiger der Bürgerrechte sogar unerwartete Verbündete. Klaus Jansen, Vorsitzender des extrem konservativen Bundes Deutscher Kriminalbeamter, erklärte: "Die Rasterfahndung hat sich nicht bewährt." Sogar die Bundesanwaltschaft sieht eine Neuauflage der Rasterfahndung kritisch: Das "Bild der islamistisch motivierten Gewalttäter" sei für eine solche Fahndungsmethode zu diffus. Aber das sind gewissermaßen "technische" Einwände, die nicht zum Kern des Problems vordringen.
Im Grunde geht es nämlich darum, daß Schäuble die aus der Verfassung folgenden Grenzen staatlicher Prävention und Repression mißachtet. Die Folgen sind absehbar: Sind beispielsweise erst die Lkw-Mautdaten für die Polizei verfügbar, droht irgendwann einmal auch die Einführung der Pkw-Maut, und dann können von Millionen von Menschen Bewegungsbilder aufgezeichnet werden. Die von Schäuble propagierte Speicherung von Fingerabdrücken aller Paßinhaber in Meldebehörden läuft auf die Aufnahme der gesamten Bevölkerung in eine Verdächtigendatei hinaus. Es ist oft gesagt worden, aber man muß es doch wiederholen: Big Brother läßt grüßen!
Die Regelungen zum großen Lauschangriff hat Karlsruhe als verfassungswidrig verworfen, weil damit in den Kernbereich der Privatsphäre eingegriffen worden war. Die CDU/CSU hält dennoch daran fest, in bestimmten Verdachtsfällen alles auf Band aufzunehmen, was in einer Wohnung gesprochen wird; sie will nur anschließend einen Richter entscheiden lassen, was als "privat" zu gelten habe und wieder gelöscht werden müsse. Dies wird "Richterband" genannt. Auch die neue Bezeichnung kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß hierfür nach den Vorgaben des höchsten Gerichts kein Platz ist. Der Schutz der unbefangenen Kommunikation in der Privatsphäre ist nichts mehr wert, wenn es dem Staat erlaubt wird, heimlich mitzuhören und erst einmal alle Gesprächsinhalte aufzuzeichnen.
Es bedarf daher des entschiedenen Opponierens der Zivilgesellschaft, um eine Wende zu erreichen. Die Chancen dafür stehen, wenn man es realistisch betrachtet, nicht gut. Denn es gehört zur Logik einer nach außen aggressiven, militarisierten Politik, daß sie mit einem Ausbau des Repressionsapparates im Inneren korreliert (über Schäubles Pläne für den Einsatz der Bundeswehr im Innern und der Polizei im Ausland hat Ossietzky in Heft 8/07 berichtet). Je schärfer die Widersprüche im neoliberalen Kapitalismus zu Tage treten, desto deutlicher wird auch dieser Zusammenhang. Daher muß sich der Widerstand gegen Schäubles Politik auf eine umfassende Systemkritik stützen.