Mut zur Gerechtigkeit

Gewerkschaften müssen wieder in die Offensive kommen

I.
Wer heute über eine innovative und vorwärtsgerichtete Arbeitnehmerpolitik redet, macht dies in einer schwierigen Zeit. Geprägt vom fehlenden Wirtschaftswachstum, medialer und reeller Standortverlagerungen haben die Beschäftigten Angst vor dem Arbeitsplatzverlust. Das tagtägliche neoliberale Trommelfeuer einer großer Koalition, von FDP über CDU bis hin in weite Teile der SPD und Grüne, verunsichert die Arbeitnehmer, stimmt sie auf Verzicht ein und stellt alles unter das Primat der Ökonomie. Deutlich wird dies schon an der Spitze des Staates. War früher der Bundespräsident ein Präsident aller Deutschen und ein Wächter über das soziale Zusammenleben, so ist der von CDU und FDP ins Amt entsendete Horst Köhler weiterhin Banker. Die Losung "Vorfahrt für Deutschland" (Köhler 2005) manifestiert eine Auffassung von einer Gesellschaft, die alles dem Markt unterzuordnen hat. Mitbestimmung, Teilhabe, soziale Absicherung bei Krankheit, im Alter oder Arbeitslosigkeit - alles muss hinten anstehen, zum Wohle des Gewinnes und Kapitals.
Gerade in solchen Zeiten, in der ein Klassenkampf von oben geführt wird, sind starke Gewerkschaften gefordert. Sie sind die Schutzmacht der Beschäftigten. Sie gestalten die Gesellschaft mit und kämpfen für gerechte Arbeits- und Lebensbedingungen im Betrieb und Staat. Nicht nur aus diesem Grunde sind die Gewerkschaften gefordert, wieder zur alten Stärke zurück zu finden. Dazu müssen neue Wege gegangen werden, alte Konflikte mit dem Kapital wieder aufgenommen, die Mitglieder einbezogen und gewerkschaftliche Strukturen in Betrieben wiederbelebt werden.
II. Das Interesse am Konsens verloren
15 Jahre nach der deutschen Einheit wird der Paradigmenwechsel auf Seiten der Unternehmen deutlich. Mit dem vermeintlichen Sieg des Kapitalismus über den real existierenden Sozialismus und der damit wegfallenden Systemkonkurrenz hat das Kapital das Interesse an einem sozialen Konsens in den Betrieben und der Gesellschaft verloren.
Anstelle eines sozialen gesellschafts- und tarifpolitischen Konsenses tritt die Orientierung am Shareholder Value. War das Ziel eines Unternehms früher Gewinn zu machen, so wird dieser heutzutage vorrausgesetzt und nur die Höhe als Maßstab gesetzt. Dass dies nicht nur bei den Global Playern der Fall ist - Deutsche Bank will eine Eigenkapitalrendite von 25 Prozent - sondern auch in kleineren Betrieben größerer Konzerne der Fall ist, zeigt die Firma Ultratroc in Flensburg. Der US-Mutter reichte die Rendite von 5 Prozent nicht. Eine höhere Rendite sollen die Beschäftigten durch Zugeständnisse bei ihren Einkommen und vor allem der Arbeitszeit ermöglichen. War es früher selbstverständlich, dass Unternehmen in ihre Standorte investierten, um damit die Firma und die Arbeitsplätze zu sichern, so verlangen die Geschäftsführungen heute Zugeständnisse für Investitionen.
Bei Philips in Hamburg will die Geschäftsleitung nur investieren, wenn die Beschäftigten zu einer Lohnkostensenkung von 25 Prozent bereit sind. Ohne diese Investitionen und den damit neuen Produkten sind aber in den nächsten Jahren mehrere hundert Arbeitsplätze in Gefahr. Die Verantwortung hierfür überträgt das Kapital den Beschäftigten. "Verzichtet, dann kriegt ihr die Investitionen, wenn nicht, dann seid ihr eben selber schuld". Diese Beispiele lassen sich weiterführen. Ob Großkonzern oder Mittelstand, überall werden die Arbeitnehmer unter dem Vorwand einer Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit erpresst. Die Verantwortung für die Arbeitsplätze und die Standorte sollen nur noch einseitig von den Beschäftigten getragen werden. Damit geben die Unternehmen den sozialen Konsens und damit den "rheinischen Kapitalismus", nämlich die soziale Marktwirtschaft zugunsten eines marktradikalen Kapitalismus, in Deutschland auf. Eine Politik des Ausgleichs, in der alle Beteiligten an einer gemeinsamen Lösung arbeiten, ist vorbei.
Deutlich wird dies auch an der Tarifbindung der Unternehmen. In der westdeutschen Metall- und Elektroindustrie unterliegen zwar immer noch 74 Prozent der Beschäftigten dem Flächentarifvertrag, trotzdem ist dies ein Rückgang seit 1998 um ca. sechs Prozent. In Ostdeutschland haben nur noch 43 Prozent der Beschäftigten eine Tarifbindung über den Flächentarifvertrag, ein Rückgang gegenüber 1998 um acht Prozent (IAB-Daten für die Investitionsgüterindustrie). Ist der Rückgang bei der Tarifbindung der Beschäftigten vielleicht noch moderat, so wird der zunehmende Bedeutungsverlust des Flächentarifvertrages beim Blick auf die Tarifbindung der Betriebe deutlich. Von 1993 bis 2003 sank die Zahl der Betriebe, die über einen Verbandstarifvertrag tarifgebunden waren, um knapp 17 Prozent. Gleichzeitig hat sich im selben Zeitraum die Anzahl der Firmentarifverträge in der Metall- und Elektroindustrie auf 1.336 erhöht und sich damit mehr als verdoppelt (IG Metall Vorstand/ Funktionsbereich Tarifpolitik).
Wurden in der Vergangenheit in 3/4 der Firmentarifverträgen weitgehend die Regelungen des Flächentarifvertrages übernommen, ist dies heute nur noch in einem Drittel der Fall. Hinzu kommt, dass die Anzahl der Betriebe in den OT-Arbeitgeberverbänden (Ohne Tarif heißt, dass der Verband alle Leistungen bis auf die Tarifpolitik und -bindung anbietet) weiterhin zunimmt. Dass Gesamtmetall nun auf Bundesebene die Vertretung der OT-Verbände unter anderem in den Bereichen der Sozial- oder Berufsbildungspolitik übernimmt, unterstreicht deren wachsenden Einfluss. Die volkswirtschaftliche Wirkung des Tarifvertrages, innerhalb einer Branche für gleiche Konkurrenzbedingungen, Schutz- und Ordnungsfunktionen zu sorgen, wird damit unterlaufen. Statt über Innovationen und bessere Produkte zu konkurrieren, versuchen zu viele Unternehmen durch Lohndumping Wettbewerbsvorteile zu erhaschen. Die dadurch zunehmenden betrieblichen Konflikte führen die Gewerkschaften wieder an die Wurzel ihrer Entstehung, in den Betrieb zurück.
III. Die Menschen mitnehmen
Bei Licht betrachtet müssen die Gewerkschaften zur Kenntnis nehmen, dass sie in vielen Betrieben nicht mehr konflikt- und arbeitskampffähig sind. Die Gründe dafür sind vielfältig. Mitgliederverluste, Angst vor dem Arbeitsplatzverlust, Zerschlagung des Betriebes in einzelne eigenständige Gesellschaften oder Resignation vor einer vermeintlich unlösbaren Situation schwächen die Kampfkraft. Doch gerade, wenn immer mehr Auseinandersetzungen im Betrieb stattfinden, muss dort wieder Gegenmacht organisiert werden Ein Schlüssel hierzu wird eine intensivere und aktivere Beteiligung der Mitglieder sein.
Der Vertrauensverlust der Menschen in Institutionen geht auch an den Gewerkschaften nicht spurlos vorbei. Um diesen Vertrauensverlust wett zu machen, müssen die Gewerkschaften und ihre örtlichen wie betrieblichen Funktionäre die alte Stellvertreterpolitik mit einer neuen beteiligungsorientierten Betriebspolitik erneuern. Es reicht nicht mehr aus, nur grob über die Probleme oder Forderungen der Arbeitgeber zu informieren und später, nach mehr oder weniger langen Verhandlungen, ein Ergebnis zu präsentieren. Die Mitglieder müssen und wollen in diesen Prozess aktiv einbezogen werden. Sie entscheiden über die Aufnahme von Verhandlungen. Sie wählen und stellen die betriebliche Tarifkommission und Verhandlungskommission und werden kontinuierlich über den Verhandlungsverlauf informiert. Ihre Ängste und Befürchtungen müssen aufgenommen werden, ohne auf Orientierung zu verzichten. Ihre Bedenken und Lösungsvorschläge müssen in die Strategie einbezogen werden und die von den Funktionären entwickelten Lösungsmöglichkeiten rückgekoppelt werden. Dies ist wahrlich nicht einfach. Zu komplex kann das Problem, zu differenziert die Interessen der Mitgliedergruppen sein. Doch ohne die Beteiligung der Mitglieder verliert jede Lösung ihre Akzeptanz, was sich in der Vergangenheit durch Mitgliederverluste deutlich machte. Partizipation heißt, zugleich Verantwortung für sich und seine Interessen zu übernehmen.
Ohne Mitglieder ist alles nichts
Ob bei der Abwehr von Arbeitgeberforderungen im Betrieb oder einer offensiven betrieblichen Interessenpolitik, ohne Mitglieder fehlt der Gewerkschaft die Mächtigkeit, Forderungen durchzusetzen oder abzuwehren. Es ist nicht das Know-how der Funktionäre oder der große Apparat, der eine Lösung ermöglicht. Allein die Mitglieder im Betrieb entscheiden über den Ausgang von Konflikten. Die Arbeitgeber werden den Druck in den Betrieben noch erhöhen und weiter versuchen die Beschäftigten gegeneinander auszuspielen. Wer sich gegen diesen Druck behaupten will, wer dem etwas entgegen setzen will, der muss sich organisieren.
Auch die gesellschaftliche Akzeptanz der Gewerkschaften entsteht durch ihre Mitgliederzahl. Aus diesem Grund müssen die Gewerkschaften wieder vermehrt ihr Handeln an die Frage der Mitgliedschaft knüpfen. Was bedeutet dies konkret? Die Gewerkschaften sind kein Sozialverein und keine Behörde zur Durchführung von tarifvertraglichen oder betrieblichen Leistungen. Sie sind von Mitgliedern für Mitgliedern gegründet worden und darauf beruht ihr Handeln. In Betrieben, in denen der überwiegende Teil der Belegschaft organisiert ist, wird die Gewerkschaft weiterhin alles mögliche unternehmen. Sie wird personelle und finanzielle Ressourcen zur Verfügung stellen, vor Ort aktiv werden, in Verhandlungen die Interessen der Mitglieder vertreten. Sie wird Interessenvertreterpolitik quasi Tag und Nacht durchführen. In den Betrieben, in denen die Beschäftigten meinen, sie kommen ohne die Gewerkschaft aus, da müssen sie es auch. Gewerkschaftlich organisierte Interessenvertreter und Mitglieder aus diesen Betrieben bekommen individuellen Service (zum Beispiel Rechtsberatung oder Rechtsschutz) rund um die Uhr. Aber die Gewerkschaft wird dann keine Verhandlungen im Namen der Belegschaft führen, keine Betriebsvereinbarungen ausarbeiten oder Gespräche mit Investoren oder Banken führen. Sie wird für diese Betriebe keine Ressourcen erübrigen können, es sei denn, die Belegschaft fängt an, sich zu organisieren. Ohne Mitgliedschaft wird es keine Bewegung in den Betrieben mehr geben können.
Mehr für Mitglieder?
Durch den im Sommer vom IG Metall Bezirk Nordrhein-Westfalen initiierten Mitgliederbonus, also tarifvertragliche Leistungen, die nur den Mitglieder gewährt werden, wird die Frage, für wen Tarifverträge gelten, wieder verstärkt öffentlich diskutiert. Dies ist gut so, denn einen direkten Anspruch auf die tarifvertraglichen Leistungen haben nur Gewerkschaftsmitglieder.
Der Arbeitgeber gibt diese nur aus einem Grund an alle Beschäftigten weiter, weil er die Gewerkschaften unattraktiv machen und schwächen will. Würde er den Nicht-Mitgliedern nicht das gleiche zahlen, dann würde wohl über kurz oder lang fast der ganze Betrieb in die Gewerkschaft eintreten. Bei der Bonusregelung, die es auch schon vorher in anderen Bezirken gab, wird dies ausgeschlossen und nur für die Mitglieder garantiert. Ohne auf die rechtliche Lage eingehen zu wollen (diese erschwert eine bundesweite bzw. eine weitreichende Anwendung die Exklusiv-Reglungen), wird mit dem Bonus eines deutlich: Mitglieder bekommen mehr. Dies wird auch, Bonus hin oder her, über kurz oder lang auf alle Beschäftigten zukommen.
Fläche - Häuserkampf
In Zukunft wird die Tarifpolitik betrieblicher. Der Flächentarifvertrag, wie wir ihn kennen, wird an Bedeutung verlieren und nicht mehr wie in der Vergangenheit wie selbstverständlich von allem akzeptierte und anerkannte Mindestregelungen verbindlich festlegen. Ob wir allerdings auf ein Ende des Flächentarifvertrages oder auf eine andere Form - wie zum Beispiel in Skandinavien, wo in der Fläche eine Art Rahmentarifvertrag vereinbart wird, der dann jeweils betrieblich ausgestaltet wird - zulaufen, bleibt abzuwarten. Eines zeichnet sich allerdings jetzt schon ab: Die Regelungen werden vermehrt in den Betrieben entschieden. Ob die betrieblichen Angriffe der Arbeitgeber u.a. auf das Urlaubs- oder Weihnachtsgeld zurückgewiesen werden können, entscheiden die Beschäftigten über ihre Mitgliedschaft und ihre Kampfkraft in den Betrieben. Es wird der Grundsatz gelten: Nur in den gut organisierten Betrieben bekommen die Beschäftigten einen guten Tarifvertrag. Schlecht organisierte Betriebe erhalten andere - schlechtere - Bedingungen.
IV. Angriff ist die beste Verteidigung
Nichts ist für eine Organisation schlimmer, als über einen langen Zeitraum in der Defensive zu stecken. Wenn man nur abwehrt, das Schlimmste versucht zu verhindern, und trotzdem am Ende des Konfliktes etwas abgeben muss, also etwas verliert, entsteht ein Verlierer-Image. Ein solches Image ist für die Beschäftigten wenig attraktiv. Als Verlierer gewinnt man keine neuen Mitglieder. Die Gewerkschaften sind gefordert wieder offensiver zu werden. Also den Angriffen der Arbeitgeber offensiv und aggressiv zu begegnen, genauso wie selbst offensiv im Betrieb eigene Forderungen zu stellen. Mit einer Offensive kann man wieder erfolgreich werden. Eine erfolgreiche Organisation ist auch für die Beschäftigten interessant und attraktiv für eine Mitgliedschaft.
Die Themen für eine solche Offensive liegen auf der Hand. In der Arbeitszeitdebatte könnten die Gewerkschaften und Betriebsräte die Wünsche der Beschäftigten, z. B. nach einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf, nach mehr eigene Entscheidungsfreiheiten, aufgreifen; oder Arbeitszeitregelungen fordern, die den Arbeitnehmern mehr Freiräume zur Weiterqualifizierung ermöglichen. Das neue Entgeltrahmenabkommen (ERA), ein Tarifvertrag, der die Gleichstellung von Angestellten und Arbeitern bei der Bezahlung und zugleich moderne Bedingungen und Kriterien bei der Entgeltgestaltung einführt, muss bis 2008 in den Betrieben umgesetzt werden. Hierin besteht die Chance die Beschäftigten offensiv zu beteiligen. ERA darf nicht technokratisch umgesetzt werden, sondern mit den Beschäftigten und ihren jeweiligen unterschiedlichen Interessen. Mit dem von der IG Metall initiierten Projekt "Gute Arbeit" könnte man Verbesserungen in der Gestaltung von Arbeitsplätzen einfordern und umsetzen. Das Einfordern von Innovationen sowie Investitionen und dadurch die Sicherung von Beschäftigung im Betrieb würde eine Zukunftskompetenz aufzeigen. Es liegt nicht an den Themen. Für jeden Betrieb findet man das passende, wenn man denn will. Gewerkschaften und Betriebsräte müssen wieder von den Getriebenen zu den Treibenden werden.
Fazit
Vom Judo wissen wir, dass auch der vermeintlich Schwächere den Starken besiegen kann. Mit der richtigen Technik wendet man die Energie des Stärkeren gegen ihn und bringt ihn so zu Fall. Wenn uns derzeit dass Kapital übermächtig erscheint, sollten wir uns darauf besinnen, dass die Stärke der Gewerkschaften sich auf zwei Grundpfeiler stützt: Die Solidarität der Beschäftigten und die Stärke im Betrieb für eigene Forderungen zu streiten und zu kämpfen. Schaffen es die Gewerkschaften hieran wieder anzuknüpfen und darauf neue Antworten zu geben, dann müssen sie sich um ihre Zukunft keine Sorge machen. Dann werden sie aus einer erstarkten Betriebspolitik heraus wieder gesellschaftliche Gestaltungskraft gewinnen und mit ihren Bündnispartnern gemeinsam öffentlich Arbeitnehmerpolitik durchsetzen sowie Einfluss auf die Entwicklung eines sozialen europäischen Gesellschaftsmodell nehmen. Kurzum, die Gewerkschaften haben es selber in der Hand wieder eine wichtige, ernstzunehmende Gegenmacht zu sein.