Gescheiterte Befreiung

Beprechung des Buches "Algerien. Frontstaat im globalen Krieg? Neoliberalismus, soziale Bewegungen und slamistische Ideologie in einem nordafrikanischen Land" von Bernhard Schmid.

Keine andere nationale Bewegung - außer der vietnamesischen - hat seit Ende der 50er Jahre weltweit so viele Sympathien geweckt wie die algerische. Die Erwartung, dass die FLN, die nationale Freiheitsbewegung, auch zu einer sozialistischen Revolution führen werde, war weit verbreitet.
Bernhard Schmid zeigt in seinem Buch auf, welche Folgen es hatte, wenn kurz vor der Unabhängigkeit 560000 französische Bürger, unter ihnen 450000 Christen und 100000 algerische Juden das Land verließen - durchaus nicht zur Freude der FLN, denn das Land ging des größten Teils der Führungskräfte verlustig, und dies in einer ohnehin darniederliegenden Ökonomie. "Glanzzeit und Niedergang eines antiimperialistischen Entwicklungsmodells" nennt Schmid die Zeit von 1962 bis 1989, und es gelingt ihm aufzuzeigen, wieviele Akteure und "unklare Frontverläufe" die damit verbundene Gewalt in Algerien hatte. Kleingruppen und Banden der verschiedensten Art: islamistische, sektenähnliche, kriminelle und/oder terroristisch agierende spielen hier ebenso eine Rolle wie - mit mal mehr und mal weniger (oder keiner) Deckung durch die Staatsorgane - gegen diese gebildete Milizen oder private Akteure mit vorwiegend wirtschaftlichen Interessen. Bis zu einem gewissen Grade könne man von einer Privatisierung der Gewalt sprechen, was aber nicht bedeutet, dass alle diese Akteure in ihrem Handeln und ihrer Bedeutung miteinander gleichgesetzt werden könnten.
Es gab in Algerien radikale Islamisten, die ihre aktiven wie passiven Gegner durch ègorgement (Durchschneiden der Kehle) töteten. Es gab hochrangige Militärs, die sich hemmungslos bereicherten "- und es immer noch tun". Aber es gab auch eine andere Wirklichkeit: Hunderttausende von Mädchen, die auch dann weiterhin zur Schule gingen, als bewaffnete Islamisten ihnen das verbieten wollten, und die die Zwangsverschleierung nicht befolgten. Es gab die Lehrerinnen, die oftmals ihr Leben riskierten, nachdem dieselben Gruppen untersagt hatten, die "gottlosen Schulen des Regimes" zu betreten. Es gab volle Diskotheken am Meeresstrand von Algier, auch wenn diese - aus ökonomischen Gründen - oftmals einer Jeunesse vorbehalten blieben. Es gab Frauen, die mitten im Algerien des Bürgerkriegs vor einem Publikum aus Zehntausenden Männern in kurzen Hosen Fußball spielten, und es gab vor allem die unzähligen Namenlosen, die sich in keiner der um die Macht - oder um einen ihrer Zipfel - ringenden Parteien wiedererkennen mochten.
"Wie das Besondere des algerischen Falles mit dem allgemeinen zusammenhängt, mit dem Weltmarkt, mit dem internationalen Kapitalismus und mit der Politik der westlichen Großmächte - auch darum soll es in diesem Buche gehen", schreibt Schmid. Und er deckt nicht nur die innerparteilichen Kämpfe auf, den Versuch, die Gewerkschaftsorganisation UGTA, den Studentenverband, sowie die Bauernorganisationen durch die Zerstörung aller Versuche einer Selbstverwaltung von oben her der FLN-Führung zu unterwerfen.
Algerien wurde aber auch zum Kampffeld westlicher Großmächte und deren Wirtschaftsinteressen, die keineswegs die Interessen der algerischen Menschen im Sinn hatten. Obwohl die Einnahmen aus den Ölquellen nach der Befreiung wenigstens teilweise der Verbesserung des Lebensstandards dienten, scheiterte der Versuch, eine eigene Industrie aufzubauen, am Mangel von Fachkräften. Ein neoliberaler "Experte" setzte sich mit seinem Vorschlag durch, sich auf die Förderung des Tourismus zu konzentrieren. Die Verschuldung des Staates stiege, der Lebensstandard verschlechterte sich. Das schuf die Grundlage des islamistischen Terrorismus.
Als vorläufige Bilanz der sozialen Bewegungen und Proteste im Algerien der letzten Jahre stellt Bernhard Schmid fest: "Einerseits ist auch nach Jahren traumatisierender Konflikte nicht damit zu rechnen, dass sich die Bewohner des Landes passiv dem Diktat der Oligarchie, des nationalen und internationalen Kapitals beugen werden. Andererseits aber ermangelt es bisher auch an jeglicher Perspektive für einen unterschiedliche gesellschaftliche Sektoren zusammenführenden, gemeinsamen und über die unmittelbaren Forderungen hinausreichenden sozialen Kampf. Der ›offizielle‹ Einheitsgewerkschaftsverband kann eine solche Perspektive wohl nicht bieten."