Nicht alle Wege des Marxismus führten nach Moskau

Angeklagt: Karl Marx und "die gesamte Linke"
Erhard O. Müllers Essay "Das Totalitäre im Sozialismus" (F. R. 29. 4. 02) enthält drei historisch bedeutsame Aussagen, die einige Anmerkungen verdienen:
1. Die geistigen Wurzeln, und damit die Ursachen, des stalinistischen Totalitarismus und Massenmordes sind nicht erst bei Lenin, sondern schon bei Marx zu finden.
2. Wo auch immer die marxistisch/sozialistische Ideologie eine Chance der Machtergreifung erhielt, "(musste sie) offenbar gesetzmäßig in totalitären und stalinistischen Erscheinungsformen enden". In seiner Antwort in der Frankfurter Rundschau vom 25. Mai 2002 hat Ulrich Schöler den durch diese Aussagen schwer belasteten Karl Marx engagiert verteidigt.
Da die dritte Aussage sehr viel mehr Menschen schwer belastet, sollte anhand der realen Geschichte geprüft werden, ob sich für diese Menschenmassen nicht vor einem endgültigen Urteil einige mildernde Umstände oder sogar entlastende Tatsachen finden lassen. Denn belastet wird
3. "Die gesamte Linke", die sich - nach Müllers Meinung "eine unbestrittene Tatsache" - "an die Kernelemente des sozialistischen Weltbilds ... gebunden fühlte" und daher eine "kollektive Mitverantwortung" für das zurückliegende "Jahrhundert des Totalitarismus" trägt. Und noch schlimmer, diese "gesamte Linke" hat sogar "auch dann, wenn sie sich subjektiv in der Opposition zum 'realen Sozialismus' wähnte - durch ihre extreme Lagermentalität und ihren Bezug auf dasselbe Ideologiegebäude seinen unterdrückerischen Erscheinungsformen zugearbeitet, sie mitzementiert und mitlegitimiert".
Geschichtsdeterminismus und Klassenkampf
Der von Müller als Wurzel des Totalitarismus besonders hervorgehobene "Geschichtsdeterminismus" und der "Klassenkampf" spielen im marxistischen Selbstverständnis der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts in der Tat eine zentrale Rolle. Die massenhafte Rezeption des Marxismus, die 1891 im Erfurter Programm der SPD gipfelte, erfolgte vor allem in der Zeit des Sozialistengesetzes (1878 - 1890), und zwar mit Hilfe populärer und vereinfachender Sekundärliteratur Angesichts der Ohnmacht, der polizeistaatlichen Verfolgung und Unterdrückung durch Bismarcks "Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie", fiel die "geschichtsdeterministische" Botschaft des Historischen Materialismus bzw. Wissenschaftlichen Sozialismus bei den Arbeitern auf fruchtbaren Boden.. Viele tausend Seiten tiefsinniger philosophischer Begründungen für Marxens Geschichtsoptimismus fasste Bebel in der Kurzformel zusammen: "Den Sozialismus in seinem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf!"
Sowohl Bismarck als auch der real existierende Kapitalismus leisteten jedoch mehr Überzeugungsarbeit als die besten marxistischen Agitatoren: Arbeiter, die für einen Hungerlohn täglich 14 Stunden schuften mussten, brauchten nicht Marx zu lesen, um sich ausgebeutet und unterdrückt zu fühlen. Für sie bedeutete "Klassenkampf", dass sich Arbeiter gegen den "Klassenkampf" von oben organisierten und solidarisch zur Wehr setzen. So wurden ohnmächtige Arbeiter zu einem Machtfaktor im "Klassenkampf", so dass sie später schließlich zu "Sozialpartnern" der Unternehmer werden konnten.
Empirisch erkennbar ist, dass der von Müller denunzierte Geschichtsdeterminismus ein Geschichtsoptimismus war, der zahlreiche Menschen ermutigte, sich trotz aussichtsloser Lage politisch zu engagieren. In einer extrem ungerechten Gesellschaft motivierte die Vision einer gerechten Gesellschaft zahlreiche "Aktivproletarier", selbstlos und opferbereit für eine bessere Gesellschaft zu kämpfen. Ohne kurzfristig Erfolg oder persönliche Vorteile erwarten zu können, opferten sie ihre knappe Freizeit, nahmen sie Nachteile und Verfolgung in Kauf.
Sozialistische Arbeiterbewegung für Freiheit und Demokratie
Wie entwickelte sich im Verlauf der Geschichte das Verhältnis der Arbeiterbewegung zu Freiheit und Demokratie? Von Anfang an kämpfte sie als politische Partei gegen die "unfreiheitlich-undemokratische Grundordnung" des deutschen Obrigkeitsstaates für politische Freiheit und Demokratie, für "das allgemeine gleiche und direkte Wahlrecht" (Lassalle 1863) und für die "Abschaffung ... aller Gesetze, welche die freie Meinungsäußerung, das freie Denken und Forschen beschränken". (1875, Gothaer Programm der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands). Und auch im Erfurter Programm von 1891, von den marxistischen Jungsozialisten in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts als "das marxistischste Programm, das die SPD je hatte" geadelt, ist das Bekenntnis zu Freiheit und Demokratie so eindeutig und unmissverständlich formuliert wie in allen früheren und späteren Programmen.
Auch die marxistische Sozialdemokratie, also die SPD bis zum Godesberger Programm von 1959, hat nie das Wort "Diktatur des Proletariats" in ihr Programm aufgenommen und sich immer als Partei der politischen Freiheit und Demokratie verstanden. Lenin hat sein Konzept der Diktatur des Proletariats unter Führung der Partei nicht aus der westeuropäischen marxistisch/sozialistischen Tradition heraus entwickelt, etwa nachdem er die von Müller angeführten Stellen in den Marx-Engels-Werken gefunden hatte. Erst nach Ausarbeitung seiner diktatorischen Konzeption wurden zur Legitimierung des Marxismus-Leninismus entsprechende Zitate herangezogen, die in der westeuropäischen Arbeiterbewegung nicht im Sinne Lenins rezipiert und interpretiert wurden. Daher lehnte hier auch "die auf Marxens Weltbild bezogene Linke", vor allem auch der orthodox-marxistische Parteitheoretiker Karl Kautsky, das leninistische Konzept von Anfang an kompromisslos ab, also schon vor der Etablierung des Sowjetkommunismus, und erst recht lange vor seiner Implosion.
Es darf nicht apologetisch unterschlagen werden, dass Marx und Engels tatsächlich das Wort "Diktatur des Proletariats" mehrmals gebraucht haben, allerdings ohne wie Lenin ein konkretes Konzept der Machteroberung und -ausübung auszuarbeiten. Da auch in einigen abstrakten Theoriediskussionen der vage Begriff "Diktatur des Proletariats" auftauchte und Verwirrung stiftete, lehnte es Eduard Bernstein schon vor der vorigen Jahrhundertwende, also noch vor dem Auftreten Lenins, ausdrücklich ab, "die Phrase von der Diktatur des Proletariats festzuhalten", zumal diese nur "die Diktatur von Klubrednern und Literaten" bedeuten würde.
"Die Demokratie ist Mittel und Zweck zugleich"
Auf Müllers Vorwurf, "Demokratie galt ... der Linken seit ihren Anfängen nicht als ein Wert an sich, sondern in erster Linie als Mittel zum ... Zweck" , antwortete Bernstein schon vorbeugend: "Die Demokratie ist Mittel und Zweck zugleich. Sie ist das Mittel der Erkämpfung des Sozialismus, und sie ist die Form der Verwirklichung des Sozialismus." Und dieser Sozialismus schließt nicht nur alle demokratischen, sondern auch alle Werte und Ideen des geistig-politischen Liberalismus mit ein. Denn er ist "nicht nur der Zeitfolge, sondern auch dem geistigen Gehalt nach sein legitimer Erbe". Wenn dennoch Sozialisten in Gegnerschaft zu liberalen Parteien stehen, dann deshalb, weil "die Parteien, die sich den Namen liberal zulegten ... im Verlauf reine Schutzgarden des Kapitalismus (waren oder wurden)".
Auch August Bebel, bis zu seinem Tod 1913 unbestrittener Führer der marxistischen Sozialdemokratie, betonte immer wieder, alle Prinzipien der "bürgerlichen Demokratie" zu akzeptieren, aber darüber hinaus im Sinne der "Sozialen Demokratie" von der Einsicht auszugehen: Damit alle Bürger die demokratischen Grund- und Freiheitsrechte nutzen können, sind besondere soziale und ökonomische Voraussetzungen notwendig: "Was nützt ihm (dem Arbeiter) die bloße politische Freiheit, wenn seine Lage sich nicht verbessert, er vor wie nach der vom Kapitalisten ausgebeutete Mensch ist, der sein ganzes Leben sich plagen und abrackern muss, um schließlich elend zu Grunde zu gehen?" (Bebel 1870)
Den Praxistest für das Bekenntnis zu Freiheit und Demokratie bestand die "gesamte Linke" im Dezember 1918. Die Mitglieder der Arbeiter- und Soldatenräte, denen im November die Macht zugefallen war, entschieden sich auf ihrem Kongress mit großer Mehrheit für Wahlen zur Nationalversammlung, also für die parlamentarische Demokratie. Und das, obwohl die meisten jener "sozialistischen Ideologie" anhingen, die nach Müllers geschichtsdeterministischer Meinung "gesetzmäßig in totalitären und stalinistischen Erscheinungsformen enden musste".
Stalins "Sozialfaschismustheorie"
Im Verlauf der Weimarer Republik hat allerdings die KPD das außerhalb der westeuropäischen marxistisch/sozialistischen Arbeiterbewegung entwickelte leninistisch-stalinistische Diktaturkonzept übernommen. Aber selbst damit hat sie nicht dem stalinistischen System "zugearbeitet", sondern nur dem Totalitarismus Hitlers zur Macht verholfen. Denn unter Stalins Parole von der "Sozialfaschismustheorie" bekämpfte sie als Hauptfeind jene "gesamte Linke", die zwar "Marxens Weltbild" anhing, aber Freiheit und Demokratie gegen ihre rechts- und linksextremistischen Feinde verteidigte. Oder haben sich die "Marxens Weltbild" anhängenden Reichstagsabgeordneten am 23. 3. 1933 doch im Sinne der Anklage "objektiv" schuldig gemacht? Auch wenn sie "subjektiv" glaubten, mit ihrer Ablehnung des Ermächtigungsgesetzes die Demokratie zu verteidigen, wollten sie damit "objektiv" nur Hitler daran hindern, das deutsche Volk wirksam vor dem marxistischen Totalitarismus Stalins zu schützen?! Drängt sich diese Deutung Müllerschen Musters nicht angesichts der unbestrittenen Tatsache auf, dass für dieses "Gesetz" nur alle - ohne Ausnahme - Reichstagsabgeordneten stimmten, die nicht zur "gesamten Linken" mit "Marxens Weltbild" gehörten!?
Prüfen wir noch die "Mitverantwortung" der "gesamten Linken" für die Entwicklung nach 1945. Obwohl es Stimmen gibt, die der marxistischen SPD in der SBZ die Schuld für die Etablierung eines kommunistischen Systems in der DDR zuweisen, besteht doch weitgehend Konsens über eine andere Deutung: Während Hitler in freien Wahlen durch das deutsche Volk an die Macht gewählt worden war, wurde die Etablierung der kommunistischen Diktatur in der DDR, und zuvor die "Vereinigung" von KPD und SPD zur SED, von der sowjetischen Besatzungsmacht gewaltsam durchgesetzt.
"Totalitarismus" - Kampfbegriff gegen Entspannungspolitik
Wie hat sich "die gesamte Linke" in der Bundesrepublik Deutschland verhalten, die ja auf Bundesebene bis zur Großen Koalition 1966 von der Regierungsverantwortung ausgeschlossen war? Schon kurz nach dem Mauerbau 1961 begannen Teile dieser "gesamten Linken", unterstützt von zahlreichen sozialistischen, liberalen und liberal-konservativen Intellektuellen außerhalb der SPD (vor allem in Medien wie Frankfurter Rundschau und Die ZEIT) den "antitotalitären Konsens" des Kalten Krieges aufzukündigen, indem sie die Rolle der Totalitarismustheorie kritisch hinterfragten. Denn während die wissenschaftliche Totalitarismustheorie kaum eine Rolle spielte, war in den politischen Auseinandersetzungen das Schlagwort Totalitarismus ein Kampfbegriff für die ideologische Konfrontationspolitik des Kalten Krieges und gegen Ansätze einer pragmatischen Entspannungspolitik.
Für die Entspannungspolitik entschieden sich im September 1972 nicht nur die Wähler der sozialliberalen FDP, sondern auch die 45,8% SPD-Wähler, die darüber hinaus noch einer Partei "zuarbeiteten", die sich nicht nur in ihrem Godesberger Grundsatzprogramm, sondern auch in ihrem Wahlprogramm von 1972 ausdrücklich zum "demokratischen Sozialismus" bekannte. Damals war übrigens nur Südkorea, wo die in Westeuropa so einflussreiche "gesamte Linke" ausgeschaltet war, dem "antitotalitären Konsens" gegenüber dem Feind Nordkorea treu geblieben.
Während für Müller aus dem sozialistischen Weltbild der "gesamten Linken" erst "NACH dem Zusammenbruch der entsprechenden gesellschaftlichen Realität eine `kollektive Mitverantwortung` (resultiert)", hat die große Mehrheit der Linken schon lange vor Etablierung des Sowjetsystems und während seiner über siebzig Jahre dauernden Existenz das ihm zugrundeliegende ideologische Weltbild abgelehnt und in permanenter Kritik ihre Verantwortung für Freiheit und Demokratie rechtzeitig wahrgenommen.
Freispruch für "die gesamte Linke"
Da der historische Rückblick alle Anklagepunkte Müllers empirisch widerlegt hat, ist für "die gesamte Linke" Freispruch wegen erwiesener Unschuld zu beantragen. Mit "marginalen Ausnahmen" allerdings: Denn während Müller bei seiner Anklage gegen "die gesamte Linke" nur von "marginalen Ausnahmen abgesehen" hatte, trifft sein Vorwurf vom "Totalitären im Sozialismus" gerade auf "marginale Ausnahmen" zu: Die als Zerfallsprodukte der antiautoritären Studentenbewegung nach 1968 entstandenen stalinistisch-maoistischen Mini-Parteien waren in der Tat totalitär, in ihrer inneren Struktur und gesellschaftspolitischen Zielsetzung. Nur das stalinistische und das maoistische Terrorsystem anerkannten sie als "Sozialismus", während sie die Entstalinisierung unter Chrustchow, vor allem die Öffnung der Lager und die Rehabilitierung von Stalins Opfern, als Verrat am Sozialismus und Restauration des Kapitalismus denunzierten.
Dennoch sollte auch gegen diese "marginalen Ausnahmen" von einer Anklage abgesehen werden. Denn ihnen vorzuwerfen, sie hätten damit dem stalinistischen und maoistischen Totalitarismus "zugearbeitet", hieße sie maßlos überschätzen. Die großen Tragödien der Menschheit, stalinistischer und maoistischer Terror, wiederholten sich in der Performance der stalinistisch-maoistischen Mini-Parteien, glücklicherweise - im Sinne einer Marx'schen Einsicht - nur als Farce. Und das einzige Vergehen, das man ihnen vorwerfen könnte, nämlich grober Unfug, ist inzwischen längst verjährt.
Fehler, Irrtümer und Fehleinschätzungen der Linken
Die "gesamte Linke" von der Anklage freizusprechen, aus geistiger Verwandtschaft dem Stalinismus zugearbeitet zu haben, heißt nicht, ihr einen "Persilschein" auszustellen. Denn in ihrer langen Geschichte hat sie durchaus gravierende Fehler gemacht, Irrtümer und Fehleinschätzungen haben fatale Folgen gehabt; und im Weltbild der demokratisch-marxistischen Linken gab es auch Gemeinsamkeiten mit dem Marxismus-Leninismus. Dieser hat zwar das Konzept der Diktatur des Proletariats unter Führung der Partei nicht aus der marxistischen Tradition der westeuropäischen Arbeiterbewegung übernommen. Aber der Geschichtsdeterminismus und das Patentrezept "Sozialismus = Sozialisierung plus Planwirtschaft" waren durchaus weltanschauliche Grundlagen der marxistischen Sozialdemokratie, insbesondere des Erfurter Programms von 1891.
Der Zusammenbruch des Sowjetkommunismus hat in der Tat sowohl das marxistische Sozialismuskonzept als auch einen Leitgedanken der ökonomischen Kritik am Kapitalismus widerlegt, nämlich die angeblich wissenschaftliche Erkenntnis von Marx: Die kapitalistischen Produktionsverhältnisse, also Privateigentum an Produktionsmitteln und Marktwirtschaft, werden zu Fesseln für die Weiterentwicklung der Produktivkräfte und beschleunigen den wirtschaftlichen Niedergang und den unabwendbaren Zusammenbruch des Kapitalismus. Sozialistische Produktionsverhältnisse dagegen, also vergesellschaftete Produktionsmittel und Planwirtschaft, werden die Produktivkräfte wieder entfesseln und zu einem stürmischen ökonomischen und wissenschaftlich-technologischen Fortschritt führen.
Dieser Grundirrtum des Marxismus hatte zur Folge, dass bis in die jüngste Vergangenheit die meisten Marxisten die Lebens-, Entwicklungs- und Innovationsfähigkeit des Kapitalismus unterschätzt haben und nicht erkannten: Eine kapitalismuskritsche Politik muss nicht die Produktivkräfte entfesseln, sondern versuchen, die im Kapitalismus entfesselten Produktivkräfte unter gesellschaftliche Kontrolle zu bringen, um die destruktiven Nebenwirkungen einzudämmen.
Die reale Geschichte hat die Prognosen von Marx umgekehrt: Die sozialistischen Produktionsverhältnisse, vergesellschaftete Produktionsmittel und Planwirtschaft, wurden zu Fesseln für die Produktivkräfte und führten zu jenem ökonomischen Niedergang und Zusammenbruch, den Marx für den Kapitalismus vorausgesagt hatte.
Doch lange bevor die Geschichte den Geschichtsdeterminismus und das marxistische Sozialismuskonzept widerlegt hat, hatten große Teile der Linken in intensiven kontroversen Diskussions- und Lernprozessen zahlreiche Irrtümer und Fehleinschätzungen selbstkritisch korrigiert. Als Eduard Bernstein in einer Aufsatzserie und 1899 in seinem Buch "Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie" den revolutionären Geschichtsoptimismus und die einfache Formel "Sozialismus = Sozialisierung plus Planwirtschaft" revidierte, d. h. kritisch überprüfte und korrigierte, löste er einen Entrüstungssturm und die langandauernde Revisionismus- und Reformismusdebatte aus.
Während im theoretischen Selbstverständnis der Sozialdemokratie das revolutionär-marxistische Konzept noch lange vorherrschend blieb, näherte sich nach der vorigen Jahrhundertwende die praktische Politik der SPD, vor allem auch der Gewerkschaften, immer mehr dem revisionistisch-reformistischen Konzept Bernsteins an. Eine klare programmatische Entscheidung gegen das marxistische und für das reformistische Sozialismuskonzept fällte die SPD erst 1959 mit dem Godesberger Programm. Theoretische Grundlage für die Reform- und Wirtschaftspolitik der sozialliberalen Koalition unter Brandt war dann weniger Marx, sondern weit mehr John M. Keynes.
Seit Ende der sechziger Jahre lösten Neue Linke und Studentenbewegung eine unerwartete Marxismus-Renaissance aus, in der auch alte revolutionäre Illusionen und Dogmen den klaren Blick auf die gesellschaftliche Realität und die politischen Handlungsmöglichkeiten trübten. Das äußerst heterogene Spektrum neolinken Denkens war tendenziell nicht nur antikapitalistisch, sondern auch antirevisionistisch (jede Revision und Korrektur marxistischer Positionen ist zu verurteilen) und antireformistisch ( nicht Reformen, nur die "Revolution" führt zum Sozialismus). Aber auch die Wiederkehr eines realitäts- und praxisfernen Weltbildes hat keineswegs dem Stalinismus zugearbeitet, sondern eher die Handlungsfähigkeit dieser akademischen Linken gegen die Rechte eingeschränkt. Andererseits wirkte aber das motivierende und mobilisierende "revolutionäre Bewusstsein" einer intellektuell einflussreichen akademischen Linken wie ein Stachel im Fleisch der pragmatischen Reformpolitiker. Antireformistisches Bewusstsein (auch bei den damals medienwirksamen Jungsozialisten) hat paradoxerweise sogar das Reformpotenzial und -bewusstsein der sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt gestärkt.
Trotz dieser kurzfristig indirekt positiven Wirkungen sind dogmatische Positionen im marxistischen Denken kritisch zu bewerten. Obwohl einerseits seit Ende der siebziger Jahre selbstkritisch über eine "Krise des Marxismus" diskutiert wurde, entfernte sich die reale Welt immer mehr vom dogmatischen Weltbild vieler Marxisten. Aus dem Vorwurf von Marx an die Philosophen, die Welt nur verschieden interpretiert zu haben, zogen sie den Kurzschluss, dass Marxisten die Welt nicht zu interpretieren brauchen, weil es darauf ankomme, den Marxismus "richtig" zu interpretieren. Und während sie den Marxismus nur verschieden interpretiert haben, bemerkten sie nicht, wie der "anschwellende Bocksgesang" der Neoliberalen die Welt interpretierte und veränderte.
Identitätsverlust der sozialistischen Linken
Nur eine Teilwahrheit enthält Müllers Feststellung: "Der vom marxistischen Weltbild geprägten West-Linken ging die Desillusionierung von 1989 zwar an die Nieren, aber selten wirklich an die Identität." Tatsächlich führte die bedeutendste historische Zäsur nach 1917 für viele zum Identitätsverlust, zur völligen Verwerfung aller früheren identitätsstiftenden sozialistischen und marxistischen Positionen. Die meisten marxistischen Sozialisten, die bis 1989 im Revisionisten Bernstein ein Haupthindernis auf dem Weg zum Sozialismus sahen, verwarfen seine Überzeugung, "dass der Sozialdemokratie ein Kant Not tut, der einmal mit der überkommenen Lehrmeinung mit voller Schärfe kritisch-sichtend ins Gericht geht, ... der mit überzeugender Schärfe bloßlegte, was von dem Werke unserer großen Vorkämpfer wert und bestimmt ist fortzuleben und was fallen muss und fallen kann".
In einem gewissen linken Milieu war es bis 1989 opportun, auch an nachweislichen Irrtümern von Marx und Engels als ewige Wahrheiten festzuhalten. 1989 wurde es plötzlich opportun, auch die heute noch gültigen Einsichten von Marx und der gesamten sozialistischen Tradition, auch das "was wert und bestimmt ist fortzuleben", als ewige Irrtümer zu verwerfen.
Exemplarisch für tausende Fälle der undifferenzierten und pauschalen Distanzierung von allen marxistischen und sozialistischen Traditionen sei hier nur Joschka Fischer zitiert, der schon 1989 den Endsieg des Kapitalismus über den Sozialismus verkündete und 1992 in seinem Buch "Die Linke nach dem Ende des Sozialismus" den Eindruck erweckte, dass der stalinistische Massenmord aus der sozialistischen Idee hervorgegangen sei, so wie der Massenmord der Nazis aus der Rassenideologie; denn "ohne diese großen Ideen hätten vermutlich selbst die Täter und ihre Mitläufer nicht die innere, die 'moralische' Kraft zum Massenmord gehabt".
Zwischen den nach 1989 massenhaften Pauschalverurteilungen marxistischer und sozialistischer Denktraditionen und den aktuellen Klagen über programmatische und intellektuelle Leere und Desorientierung besteht ein enger Zusammenhang.
Linke und Neoliberalismus
Die Ursache für die Serie von Wahlniederlagen der Sozialdemokraten in Europa sieht Albrecht Müller in deren Anpassung an die neoliberalen Glaubenssätze. Die neoliberale Hegemonie ist dabei vor allem auch eine Herausforderung für die intellektuellen Diskurse, in denen mittelfristig die Weichen für die praktische Politik gestellt werden. Dort hat im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts die selbstbewusste neoliberale Rechte die Hegemonie und schließlich Alleinherrschaft nicht dank ihrer intellektuellen Überzeugungskraft gewonnen, sondern nur deshalb, weil "die gesamte Linke" ihre Positionen aus dem geistigen Wettbewerb zurückgezogen hat.
Was viele als bedauerliche, aber unvermeidliche "Kollateralschäden" der an sich heilsamen Globalisierung beklagen, ist in viel stärkerem Maße die gewollte Folge der neoliberalen Hegemonie: Wachsende Kluft zwischen Reich und Arm, Zurückweichen des sozialstaatlichen "rheinischen" vor dem expandierenden neoamerikanischen Kapitalismus. Schon 1992 sah Michel Albert in seinem Buch "Kapitalismus contra Kapitalismus" die Ursache für den Rückzug des ökonomisch effizienteren und sozial gerechteren "rheinischen Modells" darin, dass "die grundsätzlichen Gedanken und Werte, die ihm vorangehen, weitgehend ignoriert und bestritten werden". Und das sind "die grundsätzlichen Gedanken und Werte" aus der pluralen sozialistischen Tradition.
Um ein Urteil von Erhard O. Müller abzuwandeln: Für das Vordringen des Neoliberalismus und des neoamerikanischen Kapitalismus mit verheerenden sozialen Folgen nach 1989 trägt "die gesamte Linke (von marginalen Ausnahmen abgesehen)", durchaus "kollektive Mitverantwortung". Durch die pauschale Absage an ihre sozialistischen Traditionen hat sie den weltweit verheerenden Erscheinungsformen des entfesselten Kapitalismus "zugearbeitet, sie mitzementiert und mitlegitimiert". In diesem Sinne sieht Albrecht Müller die "Modernisierer" der Sozialdemokratie in Europa als "Gefangene ihrer Anpassung" an die neoliberale Ideologie. "Sie sind deshalb blind dafür, dass Millionen Menschen Orientierung suchen. Und sie merken gar nicht, wie modern die traditionellen Erkenntnisse der Sozialdemokratie, ihre Werte und Konzeptionen sind und wie desavouiert und gescheitert die Wirtschaftsliberalen und Konservativen mit ihrer Ideologie sind." (F. R. 27. 5. )

Literatur
Albrecht Müller, in: Frankfurter Rundschau vom 27. 5. 02
Erhard O. Müller, Das Totalitäre im Sozialismus, in: Frankfurter Rundschau vom 29. 4. 02
Ulrich Schöler, Eine immer noch treffende Analyse des Kapitalismus - Antwort an Erhard O. Müller, in: Frankfurter Rundschau vom 25. 5. 02
Franz Walter: An der Macht und in der Sinnkrise", in: Frankfurter Rundschau vom 22. 4. 02

Der Beitrag ist erschienen in: spw 131, Mai/Juni 2003