Maut-Desaster und Rheinischer Kapitalismus

Die Kommunen, überhaupt die öffentlichen Gebietskörperschaften (Staat), pfeifen in den hochentwickelten kapitalistischen Ländern - also nicht nur in Deutschland - finanziell aus dem letzten Loch.

... Durch die Krise der öffentlichen Finanzen wird der Druck zum Abbau der öffentlichen Dienstleistungen, dem Verkauf der öffentlichen Unternehmen und der Verlagerung von Aufgaben auf das Terrain der privatkapitalistischen Ökonomie immer größer. Eine besondere Form der Lösung der öffentlichen Finanznöte ist die Public Private Partnership (PPP). Der öffentliche Sektor bedient sich auf vertraglicher Grundlage der Kompetenz und der Finanzkraft kapitalistischer Unternehmen, um im Grunde öffentliche Aufgaben erfüllen zu können. Klassischer Fall einer solchen Partnerschaft ist die LKW-Maut. Um eine möglichst gleichmäßige Besteuerung des privatkapitalistischen Transportgewerbes zu erreichen, hat der Bundesverkehrsminister mit der Firma Toll Collect einen Vertrag zur Erfassung und Abrechnung einer Straßenbenutzungsgebühr abgeschlossen. Bekanntlich ist diese konkrete Gestalt der PPP keine Werbeveranstaltung für die Fähigkeiten des Kapitals geworden, sondern ein grandioses politisch-ökonomisches Desaster. Auf rund 6,5 Mrd. Euro beziffert allein der Staat seinen Verlust, was sich angesichts eines fragilen Konjunkturaufschwungs zu einem gefährlichen Rückschlag in der gesamtgesellschaftlichen Wertschöpfung ausweiten könnte. Was sind die Hintergründe und Konsequenzen?

Finanzkrise des Staates

Die Erosion der finanziellen Fundamente der öffentlichen Haushalte basiert zunächst auf einer Verschiebung in den Verteilungsverhältnissen zu Lasten der Arbeitseinkommen und zu Gunsten der Kapital- und Vermögenseinkommen. Diese sich immer weiter öffnende Schere in der Primärverteilung zwischen Lohnarbeit und Kapital resultiert aus dem Zuwachs der Arbeitsproduktivität und dem Anwachsen des Kapitalstocks (Fixkapital). In der Konsequenz dieser Entwicklung - soweit nicht durch Besteuerung etc. politisch interveniert wird - verlängert sich die Schieflage in der Einkommensverteilung durch entsprechende Strukturen in die Vermögensverteilung. In der weiteren Konsequenz schwächt sich der Konsum ab und die binnenwirtschaftliche Entwicklung leidet unter entsprechendem Nachfragemangel, was letztlich die Massenarbeitslosigkeit verursacht und der chronischen Überakkumulation zum Ausbruch verhilft. Die Steuerbelastung hat dieser Tendenz nicht entgegen gewirkt, sondern sie durch Begünstigung von Kapitalanlagen und Vermögen verstärkt. Der Großteil der politischen Klasse zieht in Übereinstimmung mit der wirtschaftlichen Elite aus der Finanzkrise folgende Schlussfolgerungen:
  • radikale Aufgabenkritik des Staates und konsequente Verschlankung des öffentlichen Sektors;
  • Ausbau von Public Private Partnerschaft-Modellen und Stärkung der Eigenvorsorge der BürgerInnen;
  • Ergänzung der Arbeitseinkommen durch breite Streuung von Vermögens- und Kapitalbesitz, weil die BürgerInnen künftig weder vom Lohn noch von den so genannten Lohnersatzzahlungen (Arbeitslosenunterstützung, Rente) allein leben können.

Debakel des Maut-Projektes

Die Großkonzerne DaimlerChrysler und Telekom sind zu jeweils 45% an Toll Collect beteiligt. Bekanntlich funktioniert das satellitengestützte Erfassungs- und Abrechnungssystem nicht; statt von einer Erhebung der LKW-Maut zum 4. Quartal 2003 ist jetzt von einem eingeschränkten Betrieb zum Jahr 2005 die Rede. DaimlerChrysler-Chef Schrempp hält daran fest, dass man das beste Maut-System der Welt zum Laufen bringe. Wenn das bislang nicht geklappt habe, liege das an unzureichenden Systemkomponenten von anderen Lieferanten. In absehbarer Zeit werde man - auch durch Einbindung anderer Partner - dieses System vollenden: "Es ist exportierbar, wird vielleicht Standard in der Europäischen Union." Freilich hat DaimlerChrysler im Geschäftsjahr 2003 schon 250 Mio. Euro wegen des Maut-Debakels abschreiben müssen; Toll Collect hatte zum Jahreswechsel Gesamtverbindlichkeiten von 1,1 Mrd. Euro. Wenn der Staat mit seinen Regress-Forderungen durchkommt, zusätzlich auch dem Speditionsgewerbe seine Fehlinvestitionen ersetzt werden müssen und das Maut-Projekt endgültig scheitert, wird das erheblich negative Auswirkungen auf die Konzerne DaimlerChrysler und Telekom haben. Schaden entsteht schließlich durch den Einnahmeausfall beim Bundesverkehrsministerium, das damit andere Großinvestitionsprojekte finanzieren wollte. Aber mit der kläglichen Operation ist die Politik der PPP erneut ins Gerede gekommen. So höhnt die rechtskonservative FAZ: "In einer Mischung aus Berechnung und Unverschämtheit haben Schrempp und Ricke, die Konzernlenker, Verkehrsminister Stolpe auflaufen und den Bund auf offenen Maut-Rechnungen in Milliardenhöhe sitzen lassen... Der Imageschaden für Daimler und Telekom und der Ansehensverlust für die gesamte deutsche Industrie drückt die Konzernlenker der selbsternannten globalen Technologieführer kaum." (20.2.04) Ohne weitere Verweise auf den Chef der Deutschen Bank, Ackermann, das Transrapid-Desaster, die Wertberichtigungen bei Banken, Versicherungen und Immobilien-Konzernen wird resümiert: Die wirtschaftliche Elite hat offenkundig ihre Bodenhaftung verloren. "Hochmut und Habgier einiger weniger Manager bringen unzählige Kaufleute, Unternehmer und Manager in Deutschland in Verruf, die nicht nur auf den Aktienkurs schielen, sondern die auch das Wohl der Mitarbeiter, Kunden, Lieferanten und der Gemeinde im Auge haben." (FAZ) Dieses engagierte Plädoyer für eine Stakeholder-Orientierung ist reines Wunschbild. Auch die wirtschaftliche Elite der "Berliner Republik" ist längst zur Orientierung am Shareholder Value übergegangen. Die Milliarden-Skandale einer vermeintlich kleinen gierigen Minderheit sind längst nicht mehr auf die USA beschränkt. Enron, Worldcom oder Global Crossing stellen zweifellos das Modell des "angelsächsischen Kapitalismus" in Frage. Aber auch die Geschäftspraktiken und Kontrollmechanismen des "Rheinischen Modells" sind weitgehend zerstört. Parmalat, DaimlerChrysler, Deutsche Bank, Telekom etc. haben bei gleichzeitiger persönlicher Bereicherung Milliardenwerte vernichtet. Die Siegespose von DB-Chef Ackermann vor Gericht hat die vorherrschende Mentalität aufgedeckt. Die Berater von McKinsey, Roland Berger und Hunzinger sind mit ihrer Plünderungsmentalität von Konzernen und öffentlichen Kassen zum Theaterstoff und Gespött geworden. Die Antwort der intellektuellen Wasserträger des Kapitalismus heißt: Rückkehr zur Bescheidenheit, keine Präsentation vom immensem Reichtum und Luxus. Der Gier soll abgeschworen werden, wo doch faktisch das gesamte Gefüge der Checks and Balances in den Großunternehmen ins Rutschen geraten ist. Ziel der Veränderung der Corporate Governance ist die Steigerung des Shareholder value, also sowohl die Erhöhung der Notierung an den Kapitalmärkten als auch eine überdurchschnittliche Kapitalrendite. Bei der radikalen Renditeorientierung im Interesse der Aktionäre wird das Führungspersonal mit bedient, die Interessen der Beschäftigten und der Kommunen, wo sich die Fabriken befinden, blieben auf der Strecke. Der Leistungsdruck auf die Lohnabhängigen wurde nach oben geschraubt, ohne entsprechende Anpassung der Arbeitseinkommen. Die betrieblichen Sozialleistungen wurden systematisch abgebaut bis hin zur Verscherbelung der Werkswohnungen. Die gesamten Strukturen des betrieblichen Wertschöpfungsprozesses wurden zerlegt und neu zusammengesetzt mit dem Ergebnis: Gewinner waren die Shareholder und das Management, Verlierer die Beschäftigten und die regionalen Zusammenhänge der Produktionsstandorte. Diese Entwicklung lässt sich nicht einfach zurückdrehen. Selbst der Sozialwissenschaftler Bude, geübter Surfer auf allen modischen Zeitgeistwellen, ahnt, dass der wissenschaftlich verbrämte Rat - Rückkehr zum Realbetrieb und zum ehrbaren Kaufmann - frommer Wunsch bleiben wird. "Für viele war die Telekom unser Enron, aber das zeigt nur, dass wir uns bisher nicht mit dem wirklichen Ausmaß des Zusammenbruchs dieser wilden Zeit am Ende des 20. Jahrhunderts beschäftigen mussten. Aber das Gespür ist trotzdem untrüglich: Dieses manische Modell des sozialen Wandels ist uns abhanden gekommen. Und die Lotsen dieses Wandels müssen jetzt von Bord gehen." (SZ 19.2.04) Die wirtschaftliche Elite - oder Lotsen - können weder zurück zum fordistischen Industriekapitalismus, noch werden sie von Bord gehen und auf ihre Gier und ihre Vermögenserträge verzichten.

Was folgt?

Das Loblied auf die "echten Unternehmer", ehrbaren Kaufleute und die schöne Welt des Stakeholder werden wir noch häufiger vorgesungen bekommen. "Echte Unternehmer nehmen hohe Risiken auf sich, setzen ihr Kapital ein und haften oft auch noch mit ihrem Familienvermögen. Im Unterschied dazu sind auch Spitzenmanager großer Konzerne nur leitende Angestellte, die das Geld anderer Leute ausgeben. Diese müssen kontrolliert werden." (FAZ 20.2.04) Die Veränderung der Corporate Governance, der Regeln für Wirtschaftsprüfer und Finanzmarktaufsicht bringt uns weder den Familien- noch den Industriekapitalismus zurück. Wenn wir an Innovation, sozialer Sicherheit und Ausbau des Wohlstandes festhalten wollen, dann müssen wir das gegenwärtige System gründlich verändern, nicht nur die Verteilungsverhältnisse. aus: Heft Nr. 3 (März 2004), 31. Jahrgang, Heft Nr. 275