Grüne auf der rechten Überholspur

in (02.03.2004)

Der Bundeskanzler tritt vom SPD-Vorsitz zurück, weil er seine Agenda 2010 und den von ihm betriebenen Sozialabbau seinen eigenen Parteimitgliedern nicht mehr vermitteln kann. ...

... Das Ansehen der Regierung ist in den Keller gerutscht, ebenso der Umfragewert der Sozialdemokratie. Immer mehr Menschen wenden sich von einer Politik ab, die ihnen bisherige Sozialleistungen und gesellschaftliche Solidarität entzieht und sie in Existenzangst stürzt. Das ist verständlich. Erstaunlich aber ist dieses Phänomen: Die Grünen werden davon kaum tangiert. Ihnen gelingt es, so zu tun, als hätten sie mit alledem nichts zu tun. Sie regieren aber mit. Bei vielen der sogenannten Reformen sind sie sogar die Antreiber. In der Koalition halten sich die Grünen strikt auf der rechten Überholspur.
Wenn Schröder sagt, man dürfe die Menschen nicht weiter belasten, weil es sie überfordern würde, kontert Angelika Beer, Noch-Bundesvorsitzende der Grünen: "Der Reformbedarf ist offensichtlich. Wer davon spricht, daß es zu viele Reformen gibt, der riskiert gesellschaftlichen Stillstand."
Was unter grün-initiierten "Reformen" zu verstehen ist, lehren die Erfahrungen der vergangenen Jahre. Die Gesundheitsreform, die manchen Arbeitnehmern mit schmalem Einkommen mehrere hundert Euro pro Monat kosten kann, wird zwar in der Öffentlichkeit hauptsächlich Ulla Schmidt (SPD), allenfalls noch Horst Seehofer (CSU) zugeschrieben. Freimütig erklärte aber die grüne Rednerin Biggi Bender kürzlich im Bundestag: "Wir haben - dazu stehen wir auch - diese Gesundheitsreform letztlich im Konsens verabschiedet." Und ihre Kollegin Petra Selg rühmte den Beitrag der Grünen: "Wir haben mit dem Gesetz in vielen Bereichen große, weitreichende Strukturreformen vorangebracht." Nachdem sie die umstrittene Praxisgebühr verteidigt hatte, verstieg sie sich zu hohem Pathos: "Ich denke, dieses Reformwerk war ein wirklich großes Vorhaben, das den allergrößten Respekt verdient."
Birgitt Bender, die Sozialexpertin fürs Asoziale, kündigte auch Einschnitte bei der Rente an, versteckt in einem Plädoyer für den "Nachhaltigkeitsfaktor", der nichts anderes bedeutet als permanente Rentenkürzung. Die unter Mitwirkung der Grünen bereits beschlossenen Erleichterungen der "kapitalgedeckten Vorsorge" führen zum Abschied von einem solidarisch finanzierten Altersvorsorgesy-stem. Dazu paßt, daß die Grünen die Lebensarbeitszeit verlängern wollen: "Angesichts der Tatsache, daß die Bevölkerung bei einem immer besseren Gesundheitszustand immer älter wird, spricht vieles dafür, daß das gesetzliche Renteneintrittsalter auf längere Sicht angehoben werden muß" (Birgitt Bender). Arbeiten bis 67 oder 70 oder noch drastischere Reduzierung der Rente - so muß man dieses Politikerdeutsch übersetzen.
Daß die Grünen die eigentlichen Neoliberalen in der Koalition sind, haben sie oft genug in der Steuerpolitik bewiesen. Hier liefern sie sich seit Jahren mit der FDP einen Wettbewerb darum, wer am effektivsten dem Staat die Steuermittel zur Finanzierung der Gemeinwohlaufgaben entzieht. Ein finanziell "schlanker" Staat aber kann sozial Schwachen nicht unter die Arme greifen. Karin Göring-Eckart, grüne Fraktionsvorsitzende, versüßt die auf Sozialhilfeniveau gesenkte Arbeitslosenhilfe so: "Bei den Schwierigkeiten, die wir haben, treffen wir auch Menschen, die wir lieber ausgenommen hätten." Die Millionen von Betroffenen, denen nach einem arbeitsreichen Leben wegen unverschuldeter Arbeitslosigkeit kaum mehr das Existenzminimum bleibt, werden es wie ein Bonbon genießen, daß die Grünen sie eigentlich gerne von den Kürzungen ausgenommen hätten.
Wer nun glaubte, daß die neoliberalen Grünen wenigstens in der Bürgerrechtspolitik ihre alten Ideale hochhalten würden, rieb sich verwundert die Augen, als Bundesvorstandsmitglied Omid Nouripour dieser Tage in einer Presseerklärung zur Sicherungsverwahrung jedes kritische Wort über die Tendenz zum dauerhaften Wegsperren vermied. Dort war zu lesen: "In der letzten Woche haben die Karlsruher Richter die dauerhafte Unterbringung gefährlicher Straftäter über die Haftzeit hinaus für verfassungsgemäß erklärt. Nun stellen sie fest, daß die Bundesländer in diesem Bereich nicht zuständig sindÂ… Wir begrüßen das Urteil zur nachträglichen Sicherheitsverwahrung."
Da erscheint es logisch, daß neuerdings häufiger der Ruf nach schwarz-grünen Bündnissen ertönt. Wer bei sich verschärfenden sozialen Krisen meint, mit Knast und harten Strafen Probleme "entsorgen" zu können, beweist seine Nähe zu autoritär-konservativem Denken.
Grüne tragen jetzt auch einen Gesetzentwurf mit, der es dem Verteidigungsminister erlaubt, (entführte) Passagierflugzeuge abzuschießen, was für die Insassen den sicheren Tod bedeutet. Verletzung des Grundrechts auf Leben? Für die Grünen offenbar kein Problem. Ihre innenpolitische Sprecherin Silke Stokar von Neuforn konstatierte am 30. Januar im Bundestag: "Das Luftsicherheitsgesetz ist verfassungskonform." Hans-Christian Ströbele versuchte vergeblich, den Sündenfall zu vertuschen. Er verstieg sich zu der kühnen Interpretation, dieses Gesetz regle gar nicht den Abschuß von Flugzeugen, obwohl genau dies in Paragraph 14 steht. Wenige Minuten zuvor hatte der Abgeordnete aus Berlin-Kreuzberg der deutschen Öffentlichkeit noch erklärt, nach dem 11. September 2001 müsse man leider auch an solche extremen Maßnahmen denken. Ströbeles Wort-akrobatik kann nicht darüber hinwegtäuschen: Die Grünen haben im Kabinett einem Gesetz zugestimmt, das - wie von der CDU/CSU gefordert - den Einsatz der Bundwehr im Inneren und unter Mißachtung des Grundrechts auf Leben den Abschußbefehl zuläßt. Silke Stokar bat gar die CDU/CSU, sich nicht etwa anders zu entscheiden, sondern bei dem Luftsicherheitsgesetz zu bleiben: "Sie würden sonst dem gemeinsamen Anliegen schaden."
Bei so viel Gemeinsamkeit will Bärbel Höhn, grüne Umweltministerin in Düsseldorf, eine schwarz-grüne Koalition in Nordrhein-Westfalen nicht aus-
schließen. Sie lobt die kommunale Zusammenarbeit in Köln; die richtig Spaß mache. Da könnte man fast schon dem CSU-Rambo Michel Glos dankbar sein, daß er die traute schwarz-grüne Zweisamkeit mit Verbalinjurien gegen Joseph Fischer und Jürgen Trittin gestört hat ("Ex-Terrorist", "Ökostalinist"). Kurz vorher hatte auch GlosÂ’ Parteivorsitzender Stoiber laut über Bündnisse mit Grünen nachgedacht.
Haben denn aber die Grünen nicht immerhin in der Flüchtlingspolitik Rückgrat bewiesen? Ja, sie setzen sich im Vermittlungsauschuß für die Anerkennung nichtstaatlicher und geschlechtsspezifischer Verfolgung ein. Aber man darf nicht übersehen, daß dieselben Grünen einem Entwurf Schilys für ein Zuwanderungsgesetz mit massiven Verschlechterungen für Migrantinnen und Migranten zugestimmt haben. Wenn Schilys Entwurf Gesetz wird, heißt das: Abbau von Sozial-leistungen für Asylsuchende, Unsicherheiten über das Bleiberecht für anerkannte Asylbewerber, Wegfall der Duldung und drohende Abschiebung für Tausende; all dies und noch einiges mehr wurde zweimal mit den Stimmen der Grünen im Bundestag so beschlossen.
Über den "langen Lauf zu mir selbst" hat Joseph Fischer ein Buch geschrieben. Die Grünen haben einen langen Lauf von der außerparlamentarischen Bewegung zur Regierungsfraktion zurückgelegt. Ihre einstigen Ideale sind auf der Strecke geblieben. Pazifistisch, basisdemokratisch - längst passé. Und ökologisch? Heute ist Bundesumweltminister Trittin damit beschäftigt, Atommülltransporte zu administrieren. Die Grünen sind inzwischen so grün wie die CDU/CSU christlich. Insofern passen sie zusammen.
Ulla Jelpke war Bundestagsabgeordnete der Grünen, später der PDS.

aus: Ossietzky 04/04