Make law, not war

Hunderttausend Demonstranten waren prognostiziert worden; am Ende gingen fünfhunderttausend am 15. Februar in Berlin gegen einen kommenden Irakkrieg auf die Straße. ...

... Die Bundesrepublik erlebte die wohl größte Demonstration ihrer Geschichte; und selbst Springers "Welt", ansonsten klar auf Kriegskurs, musste wohl oder übel eingestehen: "Eine halbe Million ist keine Randgruppe. Eine halbe Million ist ein Politikum." ("Die Welt", 17. 2.) Wie aber mit diesem Politikum umgehen? Bisher ist eine strategische Debatte über die neue Qualität von Protest durch die Aktivisten noch nicht erkennbar. Anders die Gegenseite. Ihrer Bedeutung entsprechend wurde die Demonstration stante pede massiv rhetorisch bekämpft. Richard Herzinger sah ein Land im "Friedenstaumel" und erhob den alten Vorwurf der Naivität und Weltabgewandtheit: "Maßgebliche Teile der Öffentlichkeit steigerten sich in einen Rausch der Selbstgerechtigkeit und Ignoranz." (www. zeit.de/politik/herzinger_170203). In der "Welt" machte Konrad Adam bereits am Tage der Demonstration, also ohne Anschauung des Ereignisses, geistig mobil und vergatterte die Bewegung auf ihren angeblichen "Fundamentalpazifismus" ("Die Welt", 15. 2.). Die Speerspitze der Denunziationsbewegung stellte einmal mehr der leitende Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS), Thomas Schmid (FAS, 16. 2.; FAZ, 21. 2.). Sämtliche Schlagworte der 80er Jahre prasselten wie ein Trommelfeuer auf die Demonstranten nieder: "Die Friedensfreunde interessieren sich nicht für die Welt, sondern für sich selbst, sie kreisen um sich selbst." Für Schmid steht fest, das Motiv der Demonstranten ist nicht die Empörung über Gewalt, sondern "Trägheit des Herzens". Nicht Interesse, sondern Desinteresse, nicht Empathie, sondern Gleichgültigkeit ist am Werk. Der Wunsch nach Abschottung des eigenen kleinen Glücks, kurzum: "geistige Schutzzollpolitik" und "Wohlstandspazifismus" sind es, die den guten deutschen Ohnemichel antreiben. Noch tiefer liegen nach Schmid jedoch die eigentlichen Motive: "Warum diese Ignoranz gegenüber Amerika? Warum diese aufs Äußerste zielende Kriegsgegnerschaft?" Die simple Erklärung folgt auf den Fuß. Das Fundament des deutsche Nationalcharakters steht fest: der Antiamerikanismus. "Es hat die Deutschen tief gekränkt, dass es der Amerikaner bedurfte, um sie aus der Barbarei zu befreien. Sie können das den Amerikanern noch immer nicht verzeihen. Es [...] ist der Grund dafür, dass die Deutschen ihren Befreier noch immer hassen und sie - die grob und zart, realistisch und idealistisch sind - in ihren kollektiven Fantasien zu zerstörerischen, außerhalb der Kultur stehenden Monstern machen." Jenseits aller schwülstigen Umschreibung des Amerikaners an sich erkennt man hier unschwer den abgewandelten Antisemitismusvorwurf: Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen. Allen Kritiken ist der Wunsch gemeinsam, die Demonstranten in ihrer Motivlage zu pathologisieren. Seit 1968, taugt dazu am besten der Vorwurf unterschwelliger nationalsozialistischer Kontinuitäten. Auch für Henryk M. Broder ist die Sache klar: Statt des "totalen Krieges" fordern die Deutschen jetzt eben den "totalen Frieden": "Aber etwas Totales muss es sein." (ZDF-Nachtstudio, 10. 3.) Man könnte diese geschichtsbesessenen Projektionen einstiger teils eigener Positionen als missglückte Bewältigung eigener Vergangenheit getrost vernachlässigen - wenn die Strategie nicht Wirkung zeitigte. Die Einschüchterung verfängt, die Verunglimpfung hinterlässt Spuren. Von der Kritik offensichtlich angekränkelt, hat die Debatte unter den Aktiven um Stellenwert und Interpretation einer derartigen Massenkundgebung noch nicht eingesetzt. Dabei ist die Auseinandersetzung mit den Gegnern und ihrer Kritik überfällig. Wie verhält es sich also mit den Hauptvorwürfen, wir hätten es mit einem tief sitzenden deutsch-nationalen, von antiamerikanischen Motiven gespeisten Friedensfundamentalismus zu tun? Keiner dieser Vorwürfe trifft.

Keine nationale Angelegenheit

Ungeachtet einiger Anti-Bush-, nicht Anti-Amerika-Plakate: 500 000 Demonstranten allein in Berlin sind über den Verdacht des alt-linken Antiamerikanismus erhaben. Es war kein Protest linker Sektierer, sondern, wie sich schon bei den vorangegangenen Montagsdemonstrationen zeigte, eher der "Aufstand der Etablierten" (Mechthild Küpper, FAZ, 11. 2.), mehr noch: die "tiefgreifende Mobilisierung des Normalbürgers" (so der Politologe und Bewegungsexperte Dieter Rucht, taz, 17. 2.). Die Möglichkeit eines Krieges, forciert durch die USA, löste Besorgnis bis weit in bürgerliche, gerade auch eigentlich pro-amerikanische Kreise aus. Wenn aber zeitgleich in der ganzen Welt über elf Millionen ihren Protest zum Ausdruck bringen, greift auch diese noch immer national-mentale Erklärung zu kurz. Was am 15. Februar in 600 Städten in 60 Ländern, von London, Rom und Barcelona bis Melbourne und Jakarta, seinen Auftritt hatte, war nicht mehr und nicht weniger als die erste Manifestation der neuen globalen Zivilgesellschaft nach dem Ende der Bipolarität. Die "New York Times" ging sogar so weit zu behaupten, der 15. Februar habe die Welt daran erinnert, dass es auf der Erde offenbar "zwei Supermächte gibt, die USA und die Weltöffentlichkeit", der das Weiße Haus "Auge in Auge" gegenüberstehe. Gewiss eine positive Lesart für die Weltöffentlichkeit. Dennoch: Die Demonstrationen haben gezeigt, dass es ein globaler Hegemon heute auch mit einer globalen Öffentlichkeit zu tun bekommt. Seit Vietnam hat die Welt derartige Demonstrationen nicht mehr gesehen. Wir erlebten die länderübergreifende Synchronisierung der Proteste, obwohl die Regierungen unterschiedlichen Lagern zugehörig sind. Millionen protestierten ungeachtet der Frage, ob die eigene Regierung für oder gegen den Krieg ist. Dem lag die Erkenntnis zugrunde, dass in der augenblicklichen Weltordnung für die Entscheidung über den Irak-Kriege nicht das Verhalten der eigenen Potentaten entscheidend ist, sondern vielmehr das der amerikanischen. Der 15. Februar war damit - bereits rein phänotypisch - die Emanzipation des Widerstandes von den jeweiligen nationalstaatlichen Führungen.

Kein Fundamentalpazifismus

Anders als in den 80er Jahren fehlten die apokalyptischen Ängste und das überschießend Gefühlige. Nicht Fundamentalpazifismus, sondern Kriegsgegnerschaft im höchst konkreten Fall brachte die Leute auf die Straße. Die Demonstranten sind im letzten Jahrzehnt andere gewordenen, auch wenn man es ihren Repräsentanten - von Reinhard Mey bis Konstantin Wecker - nicht ansieht. Durch die Erfahrung der Rückkehr des Krieges in Jugoslawien und der Notwendigkeit seiner Bekämpfung hat sich das Diktum des Kalten Krieges "Nie wieder Krieg" zur Prüfung im Einzelfall relativiert. Die Demonstranten waren international geeint in dem Wunsch nach sorgsamer Begründung eines, genauer: dieses spezifischen Krieges. Kriegsgegnerschaft nicht als Gefühls-, sondern als "Verstandessache" (Mark Siemons, FAZ, 17. 2.) - gegen eine Politik aus dem Bauch des George W. Bush, dessen Bei-nahe-Kriegsbegründung zwischenzeitlich lautete: "Ich bin mit meiner Geduld am Ende." Dem amerikanischen Manichäismus, dem "Wer nicht für uns ist, ist gegen uns", stellten sie das Prinzip der Verhältnismäßigkeit entgegen. Bis zuletzt wurde die Alternativlosigkeit des Krieges der Weltöffentlichkeit nicht überzeugend dargelegt. "We are not convinced", mit Joschka Fischer gesprochen, mag Motivation eines Großteils der Demonstranten gewesen sein. Der Konflikt lautet also keineswegs Pazifisten gegen Bellizisten, im Gegenteil: Der Widerstand gegen einen Irakkrieg bedeutet noch nicht einmal einen Widerspruch gegen den Ant-Terror-Krieg, sondern lediglich gegen das dafür - angeblich - notwendige Mittel. Unzweifelhaft handelt es sich bei den weltweiten Demonstrationen um den bisher größten Erfolg der so genannten "Antiglobalisierungsbewegung". Die Demonstrationen wurden auf dem europäischen Sozialforum in Florenz geplant und seither global kommuniziert. Paradoxerweise hat sich jedoch mit dem 15. Februar der wahre Charakter der Bewegung gezeigt: Es ist eine "Globalisierungsbewegung", genauer: eine Bewegung für Globalisierung entstanden, was sowohl Mittel als auch Zweck anbelangt. Anders als bei der Friedensbewegung der 80er Jahre handelt es sich um eine internationale Bewegung, die für ein globales Interesse streitet. Am 15. Februar ging die globale Zivilgesellschaft gegen die Rückkehr nationalstaatlicher Interessenpolitik auf die Straße. Die Demonstrationen transportierten ihren Zweck bereits in sich: die notwendige Herstellung globaler Öffentlichkeit. Während das Kalkül der Staaten Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln zunehmend rehabilitiert, artikuliert sich von unten eine neue Weltöffentlichkeit. Die globale Zivilgesellschaft erkennt, dass sie ihren Potentaten die nationalegoistische Entscheidung über Krieg und Frieden nicht überlassen kann. Die Demonstrationen waren eindeutig ein Protest für die Vereinten Nationen, gegen den nationalen Allmachtsanspruch der USA und deren neo-impe-rialistisches Bestreben, ihre Stellung als einziger Supermacht dank überragender militärischer und wirtschaftlicher Stärke auf unabsehbare Dauer zu stellen, wenn nötig gegen alle internationalen Vereinbarungen. Die neue Bewegung, insbesondere Attac, müsste sich deshalb stärker als bisher die Verteidigung der noch existierenden globalen Strukturen, insbesondere der UNO, auf die Fahnen schreiben.

Attac und der Krieg

Lange gingen die Strategen von Attac sehr zurückhaltend mit dem Kriegsthema um, stets befürchtend, dass die Sektierergruppen in der Kriegsfrage das Erscheinungsbild einseitig prägen könnten. Spätestens seit dem 15. Februar ist diese Einschätzung überholt. Der Krieg ist zum zentralen Thema geworden. Mehr noch: Von den Motiven der Friedensbewegung ist vieles anschlussfähig für die globalisierungskritische Bewegung. Susan George beschreibt zu Recht den Neoliberalismus als die "Software" und die Militarisierung als die "Hardware" der Globalisierung. Wie sehen die Chancen für eine dauerhafte Bewegung aus? Sie haben sich nicht erst seit dem 15. Februar, sondern bereits seit dem zweiten Golfkrieg von 1991 massiv verbessert. Stand der damalige Krieg noch ganz im Zeichen der neuesten Unübersichtlichkeit, ausgelöst durch die Zeitenwende von 1989, die viele von einer Friedensdividende und Zeiten der Entspannung träumen ließ, sind wir gute zehn Jahre später um viele Ernüchterungen reicher. Im letzten Jahrzehnt haben die Menschen die neue Entwicklung in Richtung auf eine Pax Americana begreifen und fürchten gelernt. Die 90er Jahre wurden zu einem Jahrzehnt der ungeheuren Desillusionierung: der Kriege, des Crashs an den Börsen, des Desasters der New Economy. Endgültig seit dem 11. September 2001 kristallisiert sich die neue Weltordnung heraus. Anders als 1991 ist heute, mit den Büchern von Joseph Stiglitz und Naomi Klein und der globalisierungskritischen Bewegung, auch ein intellektueller Assoziationsraum vorhanden. Zunehmend begreifen die Bürger, dass die UN-Nachkriegsord-nung auf dem Spiel steht. Bereits das US-Verhalten zum Kyoto-Protokoll und dem Internationalen Gerichtshof, spätestens aber die Nationale Sicherheitsstrategie 2002 mit dem proklamierten Recht zum Präemptivschlag wurden als einseitige Kündigung der Weltgemeinschaft begriffen. Wenn Richard Herzinger insinuiert, die Kriegsgegner zeichneten ein "Zerrbild von der Weltfriedensgefahr USA" und brächten "den dramatischen Bruch in der deutschen Nachkriegsgeschichte - die Abkehr von der engen Partnerschaft mit Amerika" zum Ausdruck, unterschlägt er die eigentliche Dramatik, die die Menschen auf die Straße treibt: den Bruch der USA mit der auf den Vereinten Nationen beruhenden Rechtsordnung. Was aber fängt die Bewegung mit dieser Politisierung in Zukunft an? Eines ist deutlich geworden: Der entscheidende Punkt der neuen globalen Bewegung muss die Verteidigung der globalen Rechtsordnung sein, des Multilateralismus und der UN. Entscheidend für die zukünftige Legitimation wird es sein, eine internationale Bewegung zu bleiben, gegenläufig zu der derzeit stattfindenden Renationalisierung der Außenpolitik. Das schließt den Widerstand gegen nationalstaatliche Alleingänge, seien es amerikanische oder deutsche Wege, ein. Eine globale Bewegung muss die Delegitimierung der eigenen Position gewärtigen, wenn sie sich zu sehr mit nationalen Regierungen gemein macht, die letztlich alle, ob Frankreich, Großbritannien oder Deutschland, ihrer Funktion entsprechend im nationalen Interesse entscheiden. Ihre Stimme zu erheben und die Füße in Gang zu setzen als "Vertretung" der in Auflösung befindlichen globalen Völkergemeinschaft: hierin liegen dagegen Aufgabe, Bedeutung und Chance einer zukünftigen Globalisierungsbewegung. Der 15. Februar war dafür ein verheißungsvoller Anfang.