Der Wendepunkt der Weltpolitik hin zu mehr Gewalt
Tübingen, den 12.09.2001
Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V.
Aktualisierte Fassung vom 18.09.2001 (Erstfassung vom 12.09.2001)
1. Die Mega-Anschläge und die Opfer
Die brutalen Flugzeug-Anschläge bzw. Mega-Attentate (keines dieser Worte trifft die riesige Tragödie richtig) auf das World Trade Center, das Pentagon etc. in den USA am 11. September 2001 sind aufs Schärfste zu verurteilen. Es hat wohl Tausende Tote gegeben. Es ist entsetzlich. In diesen Tagen und Stunden sind unsere Gedanken und Mitgefühle bei den Toten, den Ermordeten, den Verletzten und ihren Angehörigen und Freund/innen. Die Anschläge und ihre Folgen hinterlassen einen in Fassungs- , Rat- und Sprachlosigkeit. Wer meint, solche Mega-Morde politisch begründen zu können, irrt total. Jegliche Rechtfertigung, Genugtuung oder Freude ist völlig fehl am Platz. Solche Anschläge sind ausschließlich menschenverachtend und barbarisch.
2. Die möglichen Täter
Für eine Durchführung dieser unvorstellbaren Anschläge sind umfassendes Know-How (als Piloten, als Techniker etc.), genaue Koordination, Logistik und totale Skrupellosigkeit erforderlich. Wer ist dazu in der Lage? Direkt nach den Anschlägen war in den Medien über die "üblichen Verdächtigen" spekuliert worden. Zuerst waren "die Palästinenser" im Blickfeld. Es ist fatal ganze Gruppen von Menschen bestimmter Herkunft für diese Mordanschläge verantwortlich machen zu wollen oder sie zu verdächtigen. Die Form der Spekulationen in einigen Medien war und ist zum Teil hochproblematisch. Es ist dringend vor Vorverurteilung zu waren. Derzeit (18.09.2001, 00.00 Uhr) geben die us-amerikanischen Ermittlungsbehörden an, hinter diesen Mega-Anschlägen auf Symbole der US-Macht stecke Osama bin Laden. Im Gegensatz zur US-Regierung und US-Polizei sieht der bundesdeutsche Generalbundesanwalt Kay Nehm "noch keine eindeutige Verbindung zum Hauptverdächtigen Osama bin Laden" (AP, 16.09.2001). Offensichtlich sind weitere Fakten und Hintergründe notwendig, um wirklich sagen zu können, wer hinter den Terroranschlägen steckt. Andere Spuren z.B. in Richtung rechtsextreme Kreise wurden offensichtlich nie in Betracht gezogen.
Die Frage, was jemanden oder eine Gruppe dazu bringt, solche Mega-Anschläge durchzuführen, muß gestellt werden. Auch muß die Frage erlaubt sein, warum gerade die USA (und dort gerade das World Trade Center und das Pentagon) Ziel dieser Mega-Anschläge geworden sind. Sollte Osama Bin Laden hinter diesen Anschlägen stecken, muß kritisch angemerkt werden: Die US-Regierung haben über Jahre ihn und seine Komplizen finanziert und aufgebaut, als er nützlich erschien, um in Afghanistan gegen die Invasion der Armee der Sowjetunion zu kämpfen. Ähnliches gilt für die Unterstützung von Saddam Hussein durch die USA und für andere Gruppen, die einst "nützlich" erschienen. Jetzt zeigt sich der Effekt, dass die herbeigerufenen Zauberlehrlinge nicht mehr beherrschbar sind und sich gegen ihre einstige Ziehväter wenden. Es muß endlich Schluß sein mit einer doppelbödigen Moral in der internationalen Politik, die die Attribute "gut" und "böse" je nach aktueller Weltlage oder Opportunität verteilt.
3. Die mögliche Reaktion der US-Regierung
Die weltpolitische Lage hat sich nun grundlegend geändert. Der 11. September 2001 ist wohl der Wendepunkt der Weltpolitik hin zu mehr Gewalt. Eine zentrale Frage lautet nun: Wie wird die US-Regierung reagieren? Es ist zu befürchten, daß sie in heftigster Form Rache üben wird. Die aussen- und friedenspolitischen Implikationen dieser Mega-Anschläge könnten furchtbar sein. Die Aussen- und Wirtschaftspolitik, aber insbesondere auch die Militärpolitik der Administration des derzeitigen US-Präsidenten George W. Bush waren schon bisher so, daß sie selten nach den Folgen ihrer Politik für Menschen außerhalb der USA, insbesondere in Gebieten ausserhalb der westlichen Staaten fragte. Die Schwelle für die Anwendung von (militärischer) Gewalt war für die(se) Regierung der USA bisher immer sehr niedrig. Es ist zu befürchten, daß sich die Militärpolitik der USA weiter verschärfen wird. Weitere und direktere Kriege der US-Regierung gegen vermeintliche oder tatsächliche Gegner, staatlicher oder nichtstaatlicher Art, sind nach den brutalen Mega-Anschlägen leider sehr viel wahrscheinlicher geworden.
4. Terroranschläge als NATO-Bündnisfall?
Die NATO hat entschieden die Anschläge als "gemeinsamen Verteidigungsfall nach Art. 5 des NATO-Statutes" zu interpretieren, wenn sich "erweise, dass die Anschläge aus dem Ausland auf die USA gerichtet waren." Im Artikel 5 des NATO-Vertrages ist aber von einem "bewaffneten Angriff" die Rede", auch bezieht sich der Artikel 5 auf Angriffe von außen von anderen Staaten.
Wir befürchten jetzt eine noch größere Eskalationsgefahr auch in diesem Land. Mit der Ausrufung einer Artikel 5 Situation der NATO werden zugleich eine ganze Reihe von innenpolitischen Regelungen und außenpolitischen Beistandsverpflichtungen wirksam. Deutschland zieht bei einem militärischen Vergeltungsschlag und direkter oder indirekter deutscher Hilfe mit in einen Rachefeldzug. Rache und Vergeltung sind vollkommen falsche Antworten auf Terroranschläge. Die Reaktion der USA und der NATO wird zeigen, ob die Regierungen der westlichen Staaten wirklich "zivil" bzw. "zivilisiert" sind.
5. Verwundbarkeit der hochtechnisierten Welt
Die Mega-Anschläge zeigen die Verwundbarkeit der hochtechnisierten Welt. Der zivile und militärische Flugverkehr werden nach dem 11. September 2001 nicht mehr so durchgeführt werden können wie zuvor. Kommunikation, Mobilität und Finanzverkehr - drei zentrale Momente der westlichen Welt waren und sind durch diese Mega-Anschläge deutlich beeinträchtigt (Telefonverkehr und Internet waren und sind wegen Überlastung zum Teil zusammengebrochen, die Finanzmärkte spielen verrückt - nein, sie folgen ihrer eigenen immanent makabren Logik: die Kurse der Rüstungsfirmen und der Ölmultis steigen!) .
6. Die innenpolitischen Implikationen der Anschläge
Die innenpolitische Situation in den USA wird sich stark verschlechtern. Aber auch das innenpolitische Klima in Deutschland wird sich enorm verschärfen. Repressionen gegen Menschen bestimmter Herkunft und gegen alle die berechtigte Kritik an der Politik der US-Regierung haben, sind zu befürchten. Erste Übergriffe auf Menschen arabischer Herkunft in den USa aber auch in Deutschland werden gemeldet. Jetzt werden viele diese Anschläge für ihre Politik instrumentalisieren, z.B. für eine verstärkte innen- und aussenpolitische Aufrüstung. Eine weitere Stärkung von Polizei und Militär, die Militarisierung wird wieder weiter vorangetrieben werden.
Nein, es sind keine militärischen Reaktionen vonnöten, notwendig ist der Abbau wirtschaftlicher Ungleichheiten in der Welt. Statt repressiver und militärischer Reaktionen ist eine Veränderung von politischen Strukturen hin zu mehr Gerechtigkeit vonnöten.
Die groß erklärte Freiheit, die Globalisierung, ist zumeist nur eine Freiheit, eine Globalisierung, des Handels, nicht der Menschen und dieser Handel, diese Globalisierung hat seine/ihre Opfer.
Es ist Gerhard Schröder und Joschka Fischer entschieden zu widersprechen: Nein, es geht nicht um Solidarität mit dem Staat USA, oder der Regierung der USA, um Solidarität der "zivilisierten Welt". Nein, es geht um Solidarität mit den Menschen, die von den Anschlägen betroffen sind.