Zehn Jahre nach dem Ende der Bipolarität - Verpasste Chancen

Einleitung zum Schwerpunkt SPW

Das Ende der Blockkonfrontation geht ins nunmehr zweite Jahrzehnt. Zeit für eine Bilanz der vergangenen Dekade und den Blick auf die gegenwärtigen außen- und sicherheitspolitischen Herausforderunge

Dirk Meyer, Historiker, arbeitet in Düsseldorf, er ist Mitglied der spw-Redaktion;
Dr. Joachim Schuster, Politikwissenschaftler, Mitglied der Bremer Bürgerschaft, er ist Mitglied der spw-Redaktion;

Das Ende der Blockkonfrontation geht ins nunmehr zweite Jahrzehnt. Zeit also für eine Bilanz der vergangenen Dekade und den Blick auf die gegenwärtigen außen- und sicherheitspolitischen Herausforderungen. Konkret gefragt: Was ist aus den Hoffnungen auf die Friedensdividende und den "Weltfrieden" geworden?

Die Antworten der vier Autoren fallen zum Teil sehr verschieden aus. Alle gemeinsam werfen eine Reihe zusätzlicher und komplexer Fragen auf. Enttäuschter Rückblick dominiert, bleibt aber nicht ohne Hoffnung. Alle Autoren suchen gemeinsam nach einem gesellschaftlichen Resonanzboden und fordern die Zeitgenossen zur Diskussion auf.

Gerade letzteres muss stutzig machen - und deutet zugleich ein Paradoxon an, das weit über die Fragen von Außen- und Sicherheitspolitik hinausgeht.

Es lautet: Während das relativ schlichte Ordnungsmuster des Ost-West-Konfliktes seit den 50er Jahren in Wellen immer wieder die Gemüter bewegt und Gesellschaften polarisiert hat, man erinnere sich nur der "Ohne-mich"-, der Ostermarsch-, der Friedens- und der Dritte-Welt-Bewegung, so schwindet das gesellschaftliche Interesse an existenziellen Fragen just zu einem Zeitpunkt, wo die internationale Kräftekonstellation zukunftsoffener und damit zumindest theoretisch gestaltbarer geworden ist. Die Welt bewegt sich, das aber bewegt die Menschen immer weniger!?

Dies deutet auf ein zweites Paradoxon hin: Denn dieses Interesse schwindet just zu einem Zeitpunkt, wo global wie international eigentlich immer mehr entschieden werden müßte, auch ohne das starre bipolare Koordinatensystem entschieden werden könnte, zugleich aber immer weniger entschieden wird, oder zu spät, oder offenkundig falsch.

Konkret: Die zivilen Herausforderungen, die bei Lichte besehen Herausfordungen sind, die die Zukunft der Zivilisation in Frage stellen, nur schleichender daherkommen, entfernter scheinen, vielleicht noch weniger vorstellbar sind als ein atomarer Weltkrieg, sind von mindestens ebenso herkulischen Ausmaßen, wie es die atomare Bedrohung zwischen NATO und Warschauer Vertragsorganisation dereinst war.

So schreitet der weltweite Klimawechsel schneller voran als befürchtet. Die Weltbank rät den schon heute bekannten Verlierern zu weitreichenden Vorsorgemaßnahmen. Die großen Versicherungsgesellschaften beginnen die Liste der von der Erstattung ausgeschlossenen Schadensfälle zu verlängern.

Gleichzeitig überbieten sich die Nationen der Ersten Welt darin, bei der profitablen Kopie ihres offenkundig nicht übertragbaren Wirtschaftsmodells auf Länder wie China und Indien eigennützig und hilfreich zur Seite zu stehen.

Und: In Den Haag siegt die Arroganz der vermeintlich vom Klimawechsel weniger Betroffenen, scheitert vorläufig der Versuch, in globaler Verantwortung wenn auch nur minimale, so doch verbindliche Schritte zu unternehmen, die selbtverschuldete Katastrophe abzuwenden.

Dabei wissen alle, dass zum Beispiel auf Veränderungen des Wetters neue politische Instabilitäten folgen und dass zum Beispiel aus Klima-Verlierern flüchtende Menschen werden und dass zum Beispiel flüchtende Menschen in ohnehin schwer getroffenen Regionen zu weiteren Instabilitäten beitragen werden usw.usf.

Ein anderes Beispiel: Für den afrikanischen Kontinent ganz sicher und für Asien wohl auch hat sich AIDS längst zur Schwarzen Pest des 20. und 21. Jahrhunderts ausgewachsen. Eine reale Apokalypse, die verhinderbar gewesen wäre, hält man die erfolgreichen aber eben kostspieligen Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung in der Ersten Welt entgegen.

Ein drittes Beispiel: Aus der britischen BSE-Krise wird gerade eine europäische BSE-Krise. Wider besseres Wissen haben von mächtigen Interessengruppen geführte nationalstaatliche Egoismen über frühzeitiges und vor allem präventives und ergo verantwortungsbewußtes kollektives Handeln gesiegt, mit der Folge, dass sich vermutlich schon in wenigen Jahren das Hirn unzähliger Menschen schwammartig auflösen wird.

Und ein letztes Beispiel: Nimmt man eine streng vom Einzelnen aus gesehene Perspektive ein dann hat sich wohl für die Mehrheit der Menschen in den ehemals realsozialistischen Ländern das Ende ihres Gesellschaftsmodells keineswegs gelohnt. Zusammengebrochene soziale Sicherungssysteme machen ihnen das Leben schwer und haben es durchschnittlich kürzer gemacht. Im Kampf um Macht und Ressourcen sind ganze Regionen im Chaos und Leid und Elend militärischer Konflikte um Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte zurückgebombt worden. Die Hoffnungen und Verheißungen auf Frieden, auf Wohlstand und individuelles Wohlergehen haben sich als äußerst trügerisch erwiesen - ohne absehbare Perspektive auf Besserung.

Wohlgemerkt, dies sind (noch) keine außen- und sicherheitspolitischen Herausforderungen im strengen Sinne. Sie scheinen fern - örtlich und zeitlich. Aber es sind Herausforderungen, gänzlich unsortiert und unvollständig und jüngeren Datums, die über den Weltfrieden maßgeblich mitentscheiden. Deshalb müssen sie entschieden werden. Und sie können nur gemeinsam entschieden werden. Es sind zivile Herausforderungen, die eben nicht militärisch gelöst werden können. Und es sind Herausforderungen, deren Lösung nach dem Ende bipolarer Stagnation einfacher schienen.

Statt dessen müssen die vier Autoren des Schwerpunktes in ihrer Dekadenbilanz feststellen, dass

¨ ein weltweiter Wettlauf zwischen Europa und den USA um den lukrativen Weltrüstungsmarkt tobt (Küchle),
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¨ der zivile Ausbau gemeinsamer europäischer Außen- und Sicherheitspolitik dem militärischen deutlich hinterhinkt (Nassauer),
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¨ die USA mit den Plänen zur Raketenabwehr einen neuen, gigantischen Rüstungswettlauf heraufbeschwören (Mützenich),
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¨ mit Indien und Pakistan zwei neue und gleichzeitig tief verfeindete Atommächte entstanden sind (Mützenich),
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¨ mit dem "Recht auf Selbstmandatierung" in neuer NATO-Doktrin und erprobt im Kosovokrieg den Vereinten Nationen dauerhaft und schwerer Schaden zugefügt worden ist (Mützenich),
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¨ mit der neuen Geheimhaltungspolitik in der Europäischen Union offenkundig gezielt daran gearbeitet wird, transparente Meinungsbildungs und Entscheidungsprozesse (wieder) instransparent zu machen (Nassauer).
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Von globaler Verantwortung, von Friedensdividende und Weltfrieden also nur wenig Spur - im Gegenteil. Wenn alle vier Autoren dennoch nicht in beobachtende Resignation verfallen, so, weil sie wie Nassauer den europäischen Weg für grundsätzlich noch relativ offen beschreiben oder aber wie Mützenich darauf setzen, dass von den Nicht-Regierungs-Organisationen Druck entfaltet wird, der, wie in der Vergangenheit bereits bewiesen, auch in Zukunft zu einem Mehr an Abrüstung führen kann.

Insbesondere Nassauer zeigt in seinem differenzierten Beitrag auf, dass das "Quo vadis Europa" noch keineswegs entschieden ist. Zu viele offene Fragen stehen noch im Raum, weder zwischen noch innerhalb der Mitgliedstaaten gelöst - und erst Recht nicht im Verhältnis zu den USA. Zu spezifisch auch die europäische Lage, mit Rußland als großem Nachbarn, als dass der Aufbau der Europäischen Union zu einem militärischen Konkurrenten der USA ohne Risiko wäre. Allerdings fällt auf, dass der politische Wille und die politische Kreativität vor allem der großen europäischen Staaten, wie Deutschland, Frankreich und Großbritannien auf militärischem Gebiet ausgeprägter zu sein scheint als auf zivilem und konfliktvorbeugendem Gebiet.

Ob und wie mehr Druck von unten entfaltet werden kann, ob und wie es etwa den Nicht-Regierungs-Organisationen gelingen kann, die zivilen, dass heisst die zivilisatorischen Fragen in den Mittelpunkt politischen Handelns zu rücken, wird entscheidend vom Volumen des gesellschaftlichen Klangkörpers abhängen. Da ist es ein weiteres Mal paradox, dass in Deutschland der Bundespräsident bei zahllosen Gelegenheiten zum breiten gesellschaftlichen Diskurs über die Zukunft deutscher und europäischer Außen- und Sicherheitspolitik auffordert (Lutz), erinnert man sich daran, dass in der jüngeren bundesrepublikanischen Geschichte (siehe oben) derartige Diskurse "von unten" gegen "die oben Handelnden" erzwungen worden sind. Es bleibt schlicht Skepsis angebracht, ob "von oben" angeforderte Partizipation so funktionieren kann. Gleichwohl gibt es zu diesem Diskurs keine Alternative - und es bleibt zu hoffen, dass dieser umgekehrte Weg tatsächlich trägt.

Alternativlos dürfte angesichts der weltpolitischen Kräftekonstellationen auch der europäische Weg in eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sein, den wir als europäische Friedenspolitik ausgestalten sollten.

Es kann auch für die Lösung der großen globalen Probleme nur richtig sein, wenn Europa, in welchen Grenzen auch immer, als halbwegs geschlossener Akteur auftritt - und wenn es sein muss der einzig verbliebenen Weltmacht USA entgegentritt. Das Heil in nationalstaatlichem Isolationismus zu suchen, der Recht hat, aber wirkungslos bleibt, ist zehn Jahre nach dem Ende der Bipolarität purer Eskapismus.

Für das Handeln der politischen Linken in Deutschland bedeutet das vor allem: Den Regierenden aus den eigenen Reihen auf die Finger zu schauen, ihnen auf die Finger zu hauen, wenn es notwendig ist - und vor allem dazu beizutragen, gesellschaftliche Diskussion in Gang zu bringen, zu begleiten und ihnen eine Stimme zu geben.

Marginalien:

Die Welt bewegt sich, das aber bewegt die Menschen immer weniger?!

Das Heil in nationalstaatlichem Isolationismus zu suchen, ist zehn Jahre nach dem Ende der Bipolarität purer Eskapismus.