Zum Verhältnis von SPD und Gewerkschaften nach der Agenda 2010

Rede anlässlich der nordhessischen Sommergespräche des DGB Hessen

Ihr signalisiert, dass ihr das Verhältnis zwischen Gewerkschaften und Parteien als gestört, wenn nicht sogar als krisenhaft anseht. Ich sehe das genauso.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

wenn ihr unter der Themenstellung "Das Verhältnis zwischen Gewerkschaften und Parteien" zu euerm diesjährigen Sommergesprächen einladet, signalisiert ihr, dass ihr dieses Verhältnis als gestört, wenn nicht sogar als krisenhaft anseht. Ich sehe das genauso. Die aktuelle Ursache heißt Agenda 2010, es gibt aber auch tiefer liegende Gründe. In meinem Diskussionsimpuls will ich drei Fragen nachgehen:

1. Wie hat sich das Verhältnis der Gewerkschaften zu den Parteien in der Geschichte der Bundesrepublik entwickelt?

2. Ist die gegenwärtige Krise des Verhältnisses zu den Parteien, insbesondere zur SPD, von einer neuen Qualität?

3. Welche Strategien zur Überwindung der Krise müssen diskutiert werden?

Zu 1. Wie hat sich das Verhältnis der Gewerkschaften zu den Parteien in der Geschichte der Bundesrepublik entwickelt?

Zum Grundverständnis der Gewerkschaften nach dem Ende des zweiten Weltkriegs gehörten zwei aus den Erfahrungen der Weimarer Republik erwachsenen Grundüberzeugungen. Einmal, dass Einheitsgewerkschaften am wirksamsten die Interessen der Arbeiterschaft durchsetzen können. Zum anderen, dass die Gewerkschaften am der staatlichen Neuordnung Deutschlands mitwirken müssen,. Damit sich der Faschismus nicht wiederholen kann. Daraus ergab sich, dass Gewerkschaften zwar parteipolitisch unabhängig sind, aber ihre Mitglieder in den Parteien aktiv an der demokratischen Neuordnung mitwirken und für gewerkschaftliche politische Forderungen eintreten., Die Gewerkschaften erheben damit den Anspruch auf ein umfassendes politisches Mandat.

Zwar sind die ursprünglichen Kernforderungen: staatliche demokratische Wirtschaftsplanung, Sozialisierung der Schlüsselindustrien, Wirtschaftsdemokratie und soziale Demokratie durch den gesellschaftlichen Kompromiss des Grundgesetzes, der den Einfluss von Gewerkschaften und Arbeitgeber auf die Regelung der wirtschaftlichen Angelegenheiten mit Artikel 9 einhegte nicht Wirklichkeit geworden, aber der sozialstaatliche Konsens des Grundgesetzes machte die Gewerkschaften zu unverzichtbaren Akteuren bei politischen Entscheidungen.

Dialogpartner waren grundsätzlich alle politischen Parteien, aber naturgemäß war die Nähe zu den Parteien des linken Spektrums stets am größten, einschließlich des Arbeitnehmerflügels der recht Volksparteien CDU und CSU. Die besondere Nähe zur SPD als der großen linken Volkspartei war nie spannungsfrei. Ich erinnere mich an die Massendemonstration von 80.000 IG-Metallern, die Franz Steinkühler zur Protestbekundung gegen den drohenden Sozialabbau durch die sozialliberale Regierung Schmidt/Genscher aufgerufen hatte.

Im Unterschied zu heute hat sich damals Herbert Wehner nicht durch das Diktat des Kapitals, dem Graf Lambsdorff in seinem Wendebrief seine willige Hand lieh, erpressen lassen. So endete die sozialliberale Koalition - nicht durch die linke Kritik am NATO-Doppelbeschluss, wie die Legende behauptet.

Wie erklärt sich die Bereitschaft der engagierten Gewerkschafter 1981/82, gegen die von ihnen gewollte und gestützte Regierung zu protestieren? Es ging damals wie heute um die Grundprinzipien des deutschen Sozialstaatsmodells, das über alle gesellschaftlichen Gruppen hinweg von der großen Mehrheit der deutschen Bevölkerung getragen wurde.

Mit der Aussagen von Artikel 20 (1) des Grundgesetzes "Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat" identifizieret sich fast jede Bürgerin und jeder Bürger. Unter aktiver Mitwirkung der Gewerkschaften haben sich die wichtigen Elemente dieses "historischen Kompromisses" entwickelt:

· Die Primärverteilung des erarbeiteten Wohlstands durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer auf der Basis der Tarifautonomie
·
· Die Sekundärverteilung durch Steuergesetze des Staates auf der Basis der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der einzelnen Steuerzahler und der Unternehmen.
·
· Die solidarische Absicherung der großen Lebensrisiken Krankheit, Arbeitsunfähigkeit, Armut und Alter, Arbeitslosigkeit, Pflegebedürftigkeit durch ein System von Sozialversicherungen.
·
· Staatliche Gesetze zum Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und für besondere Lebenslagen.
·
· Rechtsanspruch auf die Führung eines menschenwürdigen Lebens bei Armut.
·
Zusammenfassend lässt sich die Frage nach dem Verhältnis von Parteien und Gewerkschaften kurz beantworten: Gewerkschaften und linke Parteien stehen bei der zentralen gesellschaftlichen Konfliktlinie der Bundesrepublik seit Mitte der 1970er Jahre zwischen wohlfahrtsstaatlichen und einem marktliberalen auf Individualismus und Leistung ausgerichteten Verständnis von Politik auf der gleichen Seite.

Zu 2. Ist die gegenwärtige Krise des Verhältnisses zu den Parteien, insbesondere zur SPD, von einer neuen Qualität?

Ich beantworte diese Frage mit einem eindeutigen ja. Der Freiburger Wahlforscher Gerd Mielke analysiert in der Frankfurter Rundschau unter dem Titel "Das (bedrohte) Sein prägt das Bewusstsein": Die politische Kultur hat die Konfliktlinie zwischen Sozialstaat und Marktliberalismus in ein Links-Rechts-Schema transponiert, auf dem die Bürgerinnen und Bürger sich selbst und auch die politischen Parteien einordnen. Die überwältigende Mehrheit der Gewerkschaften ordnet sich und die SPD links und die CDU rechts ein, obwohl Teile der CDU-Wählerschaft sich zum Sozialstaatsmodell bekennen. Nach der deutschen nationalen Wahlstudie 2002 ordneten sich 44,3 % der Wählerinnen und Wähler links von der Mitte ein, 73 % der Befragten, die SPD wählen wollten, ordneten sich als links von der Mitte ein, nur 7,3 % positionierten sich rechts von der Mitte. Vor der Agenda 2010 war die SPD nach Ansicht ihrer Wählerschaft eine linke Volkspartei.

Was stellt das Neue nach der Agenda 2010 dar?

Das Gefühl der Sicherheit bei den großen Lebensrisiken und die Überzeugung, dass der erreichte Lebensstandard gesichert sei, wird durch die ideologische Wende der SPD-Elite der Mehrheit der Bevölkerung genommen.

Die Agenda 2010 stellt eine Zäsur im sozialpolitischen Politik- und Gesellschaftsverständnis dar: Die Bundespolitik nimmt Abschied vom historisch gewachsenen Sozialstaatsmodell der Bundesrepublik mit dem doppelten Anspruch aller einigermaßen den erreichten Lebensstandard zu sichern und die großen Lebensrisiken solidarisch abzusichern. Nach der Agenda 2010 wird nur noch die Untergrenze verteidigt, unter die niemand fallen soll. Damit wagt die SPD-Führung den Sprung über die Grenze der gesellschaftlich das Bewusstsein prägenden Konfliktlinie zwischen Sozialstaats- und Marktmodell, und das ohne ein weiteres Identität stiftendes politisch-gesellschaftliches Projekt.

Gerd Mielke beschreibt diesen Wechsel: "Den ohnehin demoralisierten Traditionskompanien ist gewissermaßen das Offizierskorps abhanden gekommen. Es hat sich im Casino des Gegners eingerichtet."

Diesen dramatischen Wechsel auf der Führungsebene, der mit Einschüchterung der Abgeordneten, unter Einsatz der Vertrauensfrage durch den Kanzler und Parteivorsitzenden bei gleichzeitiger Behauptung der Alternativlosigkeit dieser Politik auf dem "Erpressungsparteitag" in Berlin durchgepaukt, ist die Mitgliedschaft und Anhängerschaft nicht gefolgt. Sie beharrt zu einem großen Teil auf den programmatischen Vorstellungen der Sozialdemokratie.

Das ist um so erstaunlicher, als sie sich unter dem Trommelfeuer einer öffentlichen Meinung behaupten muss, in der ihre Einstellung als Relikt einer vergangenen Epoche und als hartnäckiger Widerstand gegen notwendige Reformen und wirtschaftlichen Fortschritt diffamiert werden.

Das Ergebnis dieses Paradigmenwechsels: Es gibt sozialdemokratische Wählerpotenziale, aber keine Partei mehr, die sie vertritt. Ihre Partei hat auf der für den eigenen Standpunkt entscheidenden Links-Rechts-Achse die Position geräumt und ein politisches Vakuum hinterlassen. Für diese Wählerinnen und Wähler - überdurchschnittlich den Gewerkschaften nahe stehend - entsteht eine dreifache Vertrauenskrise:

Erstens: Verlust der ideologischen Orientierung auf eine Partei auf der linken Seite der Links-Rechts-Achse.

Zweitens: Eliminierung aus den meinungsbildenden Medien.

Drittens: Ausgrenzung ihrer handfesten Notlagen und Ängste aus dem Prozess der politischen Entscheidungsfindung.

Dieser Zustand trifft auch die Möglichkeiten der Gewerkschaften ihr politisches Mandat erfolgreich wahrzunehmen.

Zu 3.: Welche Strategien zur Überwindung der Krise müssen diskutiert werden?

Die Frage nach der politischen Vertretung dieses Teils der Wählerschaft ist entscheidend für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Den Gewerkschaften, obwohl selbst in der politischen Defensive, fällt große Verantwortung bei der Bewertung dieser Frage zu. Deshalb müssen sie sich in die Diskussion der verschiedenen Strategien zur Überwindung der Folgen des Agenda 2010-Kurses einmischen und eine eigene Strategie finden, die weiterführenden politischen Forderungen klärt.

Ist es hinreichend mit betrieblichen und tariflichen Kämpfen zu drohen und sich auf die Montagsdemonstrationen zu verlassen? Betriebliche und tarifliche Forderungen hängen von der Glaubwürdigkeit der Drohung des erfolgreichen Kampfes ab, dem sich die Arbeitgeber stellen müssen. Demonstranten, deren gemeinsamer Nenner "!Jetzt reichtÂ’s!" ist, leiden unter dem gleichen Mangel des hinreichenden Drohpotenzials.

Kann eine neue linke Partei das politische Vakuum auf der linken Seite der Links-Rechts-Achse auf parlamentarischer Ebene füllen? Selbst wenn es zur Gründung einer solchen Partei kommt, ist nicht zu erwarten, dass diese Partei - im Bündnis mit der PDS oder nicht - mehr als 10 % erreicht. Das reicht wahrscheinlich nicht einmal, die Mediensperre gegen abweichende Positionen zum politischen Hauptstrom des Marktmodells zu durchbrechen und lässt diejenigen, die nicht bereit sind, eine neue Partei zu wählen, orientierungslos zurück.

Gibt es Chancen für eine Veränderung der gegenwärtigen SPD-Politik?

Die Strategie der SPD-Führung

· hoffen auf konjunkturelle Besserungen mit propagandistisch-verwertbaren Besserungen auf dem Arbeitsmarkt;
·
· hoffen auf eine Aufklärungs- und Erklärungskampagne;
·
· hoffen auf Gewöhnung an die Kürzungen und Vergesslichkeit
·
· warnen vor CDU und FDP, die noch grausamer das "soziale Netz" einscheiden würden
·
darf nicht hingenommen werden. Die Schwachstelle der SPD-Führungsstrategie ist die Nichtvermittelbarkeit der Agenda 2010 bei den negativ Betroffenen und die Weigerung durch Reiche, in die Umverteilung einzubeziehen. Bleibt eine Strategie, die darauf abzielt, das sture Beibehalten des Agenda-Kurses zu brechen und gleichzeitig Forderungen zu erheben, die die SPD zwingen, den Anpassungskurs an das Marktmodell durch einen Kurs der Gegenwehr gegen das Marktmodell zu ersetzen:

· Wenn es der Trend ist, im Unternehmen das Diktat der Aktionäre durchzusetzen, brauchen wir mehr Mitbestimmung;
·
· Wenn es der Trend ist, Mehrarbeit durchzusetzen, brauchen wir ein wirksames Arbeitszeitgesetz, das gesetzlich die Obergrenze der Mehrarbeit festlegt.
·
· Wenn es der Trend ist, die großen Risiken zu privatisieren, brauchen wir eine umfassende, solidarische Bürgerversicherung, in die auch die Reichen nach ihrer Leistungsfähigkeit einbezogen werden.
·
· Wenn es der Trend ist, Armen den Verbrauch ihres Vermögens bei Erhalt von Fürsorgeleistungen vorzuschreiben, müssen die Vermögens- und Erbschaftssteuer herangezogen werden.
·
· Wenn es der Trend der politischen Elite ist, sich der Verantwortung gegenüber ihren Wählern zu entziehen, brauchen wir Abgeordnete, die bei ihrer Aufstellung glaubwürdig machen, dass sie sich diesem Trend widersetzen.
·
Meine Hoffnung als Gewerkschafts- und SPD-Mitglied ist es, dass die Resignation noch nicht so verfestigt ist und möglichst vielen Genossinnen und Genossen diesen Weg gehen.