Die Krisen der repräsentativen Demokratie in der Euro-Krise als Chance für radikalen Reformismus und gesellschaftliche Emanzipation
„¡Que no! ¡Que no! ¡Que no nos representan!“ – “Sie repräsentieren uns nicht!“
(Slogan aus der Bewegung des 15. Mai in Spanien)
1. Einleitung
In der Euro-Krise polarisieren sich die sozialen Verhältnisse, es kommt (zumindest in der europäischen Peripherie) zu einer offenen Krise der repräsentativen Demokratie. Das europäische Staatsapparateensemble wird durch autoritäre Austeritätspolitik „verhärtet“ (Agnoli 2003); zugleich entwickeln sich in einigen Ländern neue, außerinstitutionelle soziale Bewegungen mit breiter gesellschaftlicher Basis. Die Debatte um strategische Konsequenzen aus dieser Polarisierung, zusammen gefasst in der Frage „Was tun? Und wer zum Teufel tut es?“ (Harvey 2009), steckt in der kritischen europäischen Integrationsforschung noch in den Kinderschuhen. Debattenbeiträge verbleiben in der Regel auf der Ebene normativer politischer Forderungen oder beschränken sich auf Vorschläge für ein besseres Staatsmanagement von links. Ursache hierfür ist nicht zuletzt, dass (alltäglicher) Widerstand in den vergangenen Jahren sowohl theoretisch als auch empirisch vernachlässigt wurde. Zudem scheint bei vielen der linken Lösungsvorschläge zur Krise nach wie vor Unklarheit darüber zu bestehen, in welchem Verhältnis eine Analyse des Kapitalismus und die mit ihr verbundene Problematik von sich hinter dem Rücken konkreter Subjekte vollziehenden Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Reproduktion, eigentlich zum langen Wunschzettel einer alternativen Sozial- und Wirtschaftspolitik stehen. Erweitert man die Perspektive um diese beiden Dimensionen, hat das grundlegende Konsequenzen für emanzipatorische Politik in der Euro-Krise: Der Reflex, angesichts autoritärer Entwicklungen ein Zurück zu fordistischem Klassenkompromiss und bürgerlicher Demokratie zu fordern, wird problematisch. Möglichkeiten für radikalen Reformismus und gesellschaftliche Emanzipation werden sichtbar.
2. Die Verhärtung des Staates und die Krise der repräsentativen Demokratie in der Euro-Krise
In der Euro-Krise entwickelt sich im „europäischen Staatsapparateensemble“ (Wissel 2010) sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene eine „härtere politische Form“ (Agnoli 2003: 25). Terrains, „deren Konfiguration eine für die Subalternen vergleichsweise günstigere ‚strukturelle Selektivität’ […] aufwies“, werden entwertet (Oberndorfer 2012: 59). Die Machtverhältnisse verschieben sich innerhalb des Staatsapparateensembles zu fast exklusiv von Männern dominierten Institutionen wie Finanzministerien, Zentralbanken oder der Generaldirektion Wirtschaft und Finanzen der Europäischen Kommission, die eine günstige Selektivität für Kapitalfraktionen aufweisen. Traditionell gewerkschaftsnähere Apparate verlieren an Einfluss (vgl. Klatzer/Schlager 2012). Auf europäischer Ebene wird ein „Bausteinsystem autoritärer Austeritätspolitik“ (Huke 2012a) implementiert. Im Diskurs um die Euro-Krise wird eine Position institutionell verankert, die makroökonomische Ungleichgewichte innerhalb der Eurozone (z.B. Handelsbilanzungleichgewichte) zwischen einem neo-merkantilistischen Zentrum und der (südeuropäischen) Peripherie einseitig auf fehlende Sparanstrengungen und zu hohe Löhne zurückführt (vgl. Becker 2011). Nationale Parlamente verlieren vor allem in der europäischen Peripherie drastisch an Entscheidungskompetenz (Bieling 2011: 67). Für die Analyse dieser Transformationsprozesse wird in der kritischen Integrationsdebatte eine Vielzahl von Begrifflichkeiten diskutiert. Exemplarisch sieht Hans-Jürgen Urban die EU auf dem „Weg in den Autoritarismus“. Die EU sei „zu einem abgehobenen ‚Elitenprozess’ mutiert, in dem die Institutionen der Demokratie äußerlich intakt blieben, dem europäischen Demos aber immer offensichtlicher die Beteiligung am ‚Europäischen Projekt’ verweigert wurde“ (Urban 2011: 78). Hans-Jürgen Bieling begreift die Entwicklungen als „Krisenkonstitutionalismus gegen Volkssouveränität und Demokratie“; dieser gleicht für ihn „einem supranationalen ‚Coup d'Etat’“ (Bieling 2011: 67). Lukas Oberndorfer schließlich fasst die Entwicklungen in Anschluss an Nicos Poulantzas als „autoritären Wettbewerbsetatismus“, der den „Nukleus einer neuen Integrationsweise der EU“ bilden könne (Oberndorfer 2012: 66).
3. Was tun? (I): Linke Intellektuelle als Staatsberater
Während damit auf der Ebene der Analyse und der theoretischen Begrifflichkeiten also durchaus innovative Diskussionsprozesse stattfinden, wirkt die kritische Debatte, wenn es um die Frage nach Gegenstrategien geht, relativ hilflos. Gegenüber dem austeritätspolitischen „Memorandum-Ton“ (Schwabinggrad Ballett 2012) der europäischen Politik richten sich die Beiträge als alternative Memoranden meist vor allem an einen Ansprechpartner: das europäische Staatsapparateensemble. Gleich drei problematische Tendenzen lassen sich dabei feststellen:
Erstens wird aus der Verhärtung der politischen Form im Umkehrschluss auf die Notwendigkeit einer einfachen „Rückkehr“ zur Demokratie geschlossen. Exemplarisch fordert Hans-Jürgen Urban „Bürgerbeteiligung als Katalysator des Aufbaus einer europäischen Öffentlichkeit und der Herausbildung einer europäischen Zivilgesellschaft“ (Urban 2011: 88), während der aus den deutschen Gewerkschaften heraus initiierte Aufruf „Europa neu begründen“ eine „Demokratieoffensive“ fordert. Ignoriert wird dabei, dass Demokratie schon „in ihrer bürgerlichen Form untergraben“ (Buckel et al. 2012: 44) ist – und zwar mindestens doppelt: durch ihren Klassencharakter und die strukturelle Unterordnung politischer Entscheidungsfreiheit unter die Zwänge ökonomischer Wettbewerbsfähigkeit (vgl. Wood 2010). Eine bloße Verteidigung der parlamentarischen Demokratie kann daher immer nur ein sehr begrenztes emanzipatorisches Potential entfalten. Statt die fordistische Demokratie zu idealisieren (vgl. exemplarisch Crouch 2008), wäre die ketzerische Frage zu stellen, ob die zu Recht beklagte postdemokratische Tendenz nicht bloß das Ergebnis einer neuen Stufen kapitalistischer Entwicklung ist, die eben keinen qualitativen Bruch mit der institutionellen Eigenlogik parlamentarischer Demokratie, sondern vielmehr nur deren Anpassung an den aktuellen Stand von Verwertungsprozess und Weltmarktkonkurrenz bedeutet.
Zweitens werden den politischen Entwicklungen in der Regel (mehr oder weniger radikale) alternative wirtschaftspolitische Vorschläge für ein besseres Staatsmanagement gegenübergestellt, ohne dass potentielle Ausgangspunkte für eine andere Politik oder emanzipatorische Kräfte, die diese potentiell durchsetzen könnten, explizit thematisiert werden. Die historisch-spezifischen Möglichkeiten und strukturellen Grenzen staatlicher Politik werden kaum diskutiert. Das Subjekt oder der Modus, d.h. die Art und Weise der Durchsetzung eines radikalreformerischen Projektes, bleiben weitgehend im Dunkeln. Politische Veränderung wird so auf „eine Frage der Einsicht“ (Hürtgen 2003: 13) reduziert. Das kann zu einem linken Konservatismus führen, wie etwa bei Andreas Nölke deutlich wird. Dieser erklärt es zum Ziel, das ‚Modell Deutschland’ gegen die EU zu verteidigen (Nölke 2012) und ignoriert dabei die neoliberale Umstrukturierung Deutschlands ‚von innen’ (z.B. über die Agenda 2010) und dessen führende Rolle in der EU.
Drittens schließlich werden Gegenkräfte, wenn sie genannt werden, meist nur oberflächlich oder in romantisierter Form einbezogen. Ambivalenzen und Grenzen von Protestbewegungen und Akteuren im Kontext der Euro-Krise, die zum Beispiel aus komplexen „Handlungsbedingungen der Lohnabhängigen“ (Hürtgen 2003: 13) resultieren, geraten aus dem Blick. Deutlich wird dies unter anderem darin, pauschalisierende und nur scheinbar empirische Kategorien an die Stelle einer inhaltlichen Bestimmung von konkreten Subjekten gesellschaftlicher Veränderung treten: „die Linke“ (Demirović/Sablowski 2012), „Subalterne“ (Oberndorfer 2012: 53-54), „neue gesellschaftliche Allianzen“ (Buckel et al. 2012: 44) oder „eine europäische Mosaiklinke“ (Urban 2011). Ihren politischen Ausdruck findet diese Leerstelle unter anderem im offenen „Wir“, auf das die Interventionistische Linke in Deutschland ihre Strategien aufbaut, das aber auch in der der Diskursfigur der 99% der Occupy-Bewegung zu finden ist.
Die kritische Debatte vernachlässigt damit Schranken und „strategische Selektivitäten“ (Jessop 1999) von bürgerlicher Demokratie und europäischem Staatsapparateensemble und ist kaum in der Lage, deren ‚Nutzbarkeit’ für Transformationsstrategien zu bestimmen. Andererseits bleibt Kritik, da Widerstand nur unzureichend in den Blick genommen wird, auf gutgemeinte Rhetorik beschränkt oder tendiert gar zu einem linken Strukturkonservatismus. Radikale Alternativen und Ausgangspunkte emanzipatorischer Veränderung können so nur begrenzt aufgezeigt werden.
4. Was tun? (II): Die kritische Europaforschung strategisch neu justieren
Um die strategische Debatte in der Euro-Krise voranzubringen, scheint eine doppelte Neujustierung der kritischen Europaforschung notwendig:
Erstens ist eine Wiederaneignung staatskritischer Debatten innerhalb der kritischen (Internationalen) Politischen Ökonomie sinnvoll, um Möglichkeiten und Grenzen politischer Strategien präziser bestimmen zu können. Repräsentative Demokratie ist demnach von einer doppelten Dynamik gekennzeichnet: Einerseits erlaubt sie die Artikulation von Interessen der ‚Subalternen’ und fungiert als Terrain sozialer Kämpfe um Emanzipation (vgl. Heigl 2010; Oberndorfer 2012). Andererseits treten ihr durch die Trennung von „Politik“ auf der einen und „Ökonomie“ und privaten Lebenswelten gesellschaftliche Dynamiken in vergegenständlichter Form gegenüber, woraus sich für sie ein enger Möglichkeitsrahmen ergibt. Die konkrete Ausprägung des Möglichkeitskorridors der repräsentativen Demokratie ist dabei historisch variabel und natürlich nicht nur von strukturellen ‚Erfordernissen’ kapitalistischer Akkumulation, sondern immer auch von sozialen Kämpfen abhängig. Indem Demokratie gesellschaftliche Konfliktdynamiken im Staatsapparateensemble materiell verdichtet und durch Parteien repräsentiert und verschiebt, trägt sie allerdings auch zur Kontrolle, Disziplinierung und ‚systemkonformen’ Integration von transformatorischem Potential bei (vgl. Agnoli 2004; Esser et al. 1994; Papadopoulos et al. 2008). Um diese doppelte Dynamik fassen zu können, ist ein theoretisches Paradigma notwendig, das in der Lage ist, die Ungleichzeitigkeiten sozialer und politischer Prozesse in Verbindung zu den übergreifenden Zwängen der kapitalistischen Form gesellschaftlicher Reproduktion als Ganzes zu setzen (vgl. Hirsch 1994; Postone 2003). Ein solches ist eine Voraussetzung dafür, politische Vorschläge entwickeln zu können, die auf der Höhe der historischen Entwicklung des Kapitalismus tatsächlich Emanzipationspotentiale adressieren und artikulieren können (vgl. Dörre/Lessenich/Rosa 2010; Esser et al. 1994; Schlemermeyer 2011a).
Zweitens ist eine empirisch und theoretisch genauere Konzeptionalisierung von Widerstand notwendig. Anknüpfen ließe sich hierbei unter anderem an das in der operaistischen Bewegung der 1960er und 1970er Jahre in Italien entwickelte Konzept der Klassenzusammensetzung, das auf eine empirische Analyse von konkreten, alltäglichen Konflikten abzielt. Hegemonieanalysen, die in der kritischen Internationalen Politischen Ökonomie (IPÖ) in den letzten Jahren in der Regel von einem einseitigen Fokus auf Eliten geprägt waren, können dadurch erweitert werden. Konkrete Kämpfe, Subjekte, Widersprüche und damit (potentielle) Ausgangspunkte für emanzipatorische Strategien werden dann sichtbar. Alltägliche Praxen – so wird deutlich – sind kein passives Objekt von Regulation und Disziplinierung, sondern verfügen über einen gewissen „Eigensinn“ (Benz/Schwenken 2005; vgl. auch Papadopoulos et al. 2008; Sekler/Brand 2011). Im Kontext der Euro-Krise gerät damit insbesondere die Krise der sozialen Reproduktion in den Blick – etwa zusammenbrechende Gesundheitssysteme, Zwangsräumungen, Altersarmut oder Arbeitslosigkeit.
Erweitert man derart den Analysefokus, wird deutlich, dass die autoritäre Verhärtung der politischen Form in der Euro-Krise keinen Bruch mit Traditionen repräsentativer Demokratie darstellt. Autoritäre Momente sind vielmehr konstitutiv in diese eingelassen. Was sich verschiebt, ist vor allem die strategische Selektivität des Staatsapparateensembles, die weiter zugunsten von Kapitalfraktionen eingeschränkt wird.1 Dem europäischen Staatsapparateensemble gelingt es in der Folge (insbesondere in der europäischen Peripherie) nur noch schwer, gesellschaftliche Widersprüche zu integrieren und zu prozessieren. Die Konsequenz ist eine “diffuse Unruhe” (Bieling/Steinhilber 2000: 122), es entstehen “auf der einen Seite neue basisdemokratische Protestformen, auf der anderen wachsende Entfremdung von der parlamentarischen Demokratie” (Nachtwey 2011: 19). Gleichzeitig wird sichtbar, dass die Kategorien der kritischen Europaforschung für Widerstandsbewegungen („die Linke“, „Subalterne“, etc.) lediglich als „leere Signifikanten“ (Nonhoff 2011) fungieren, die auf eine komplexe und widersprüchliche empirische Vielfalt verweisen.
Deutlich wird dies am Beispiel der Proteste im Juli 2012 gegen autoritäre Austeritätspolitik in Spanien, die sich konkret gegen das Kürzungsprogramm der rechtskonservativen PP im Zusammenhang mit der Inanspruchnahme von Geldern der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität (‚Rettungsschirm’) richten. Getragen werden diese erstens von den beiden großen sozialdemokratischen Gewerkschaften CC.OO und UGT, die vor allem Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in regulären Arbeitsverhältnissen vertreten: Strategisch setzen sie auf korporatistische (Selbst-)Einbindung über den Dialog mit Staatsapparaten und Arbeitgeberverbänden. Im Kontext der autoritären Austeritätspolitik – vor allem der wenig dialogorientierten Politik der rechtskonservativen PP seit 2011 – mobilisieren sie ihre Mitglieder jedoch vermehrt auch zu Demonstrationen und Generalstreiks. Zweitens artikuliert sich in ihnen Empörung vor allem jener abstiegsbedrohten Mittelschichten, die unmittelbar von den Kürzungen betroffen sind – z.B. traditionell eher konservativer Beamtinnen und Beamter. Die sich vor allem aus prekären Akademikerinnen und Akademikern rekrutierende Bewegung des 15. Mai (15-M) ist ein drittes Element. Einerseits zielt sie mit ihren (expliziten) Forderungen auf einen neuen Sozialpakt und eine Erneuerung der repräsentativen Demokratie (vgl. Espinar/Abellán 2012: 138–139), andererseits entwickelt sie – nicht zuletzt durch den Einfluss linksradikaler Aktivistinnen und Aktivisten (vgl. Martínez/García 2011) und in Abgrenzung zu Parteien und Gewerkschaften – radikaldemokratische soziale Formen. Eben jene radikalen sozialen Formen tragen zum Erfolg der Bewegung bei. Hausbesetzungen oder die Inanspruchnahme öffentlicher Plätze normalisieren Formen zivilen Ungehorsams (vgl. Martínez/García 2011), während Vollversammlungen den Alleinvertretungsanspruch des Staatsapparateensembles in Frage stellen. Gleichzeitig stehen sie für einen weiten Demokratiebegriff, der Lebensbereiche umfasst, die von der repräsentativen Demokratie sonst ins Private verbannt werden (vgl. Butler 2011). Die Bewegung verwandelt damit „zumindest ansatzweise private soziale Bedürfnisse in kollektive politische Forderungen“ (Espinar/Abellán 2012: 147) und bestimmt in Diskussionsprozessen Ursachen für deren Nichtverwirklichung. Sie leistet damit einen Beitrag zur Entwicklung „einer ‚autonomen’ Öffentlichkeit jenseits von Staat und Kapital, von politischen Zusammenhängen unabhängig von Parteien und Staat“ (Esser et al. 1994: 223) und wirkt der Privatisierung sozialer Konflikte entgegen. Ihr gelingt es, Freiräume mit utopischem Potential zu öffnen, die individuelle ‚Politisierungs’- und Emanzipationsprozesse ermöglichen (Arditi 2012: 5). Dass die Freiräume unter den herrschenden Bedingungen stets prekär und umkämpft bleiben, zeigen dabei etwa sexistische Handlungen oder offen antisemitische Redebeiträge im Kontext von Platzbesetzungen und Vollversammlungen. Viertes Element ist eine autonome radikale Linke, die unter anderem in besetzten Häusern und sozialen Zentren verankert ist. Diese geht – auch wenn sie eine wichtige Rolle in 15-M spielt – nicht in 15-M auf, sondern folgt einer spezifischen, subkulturellen Eigendynamik. Ein fünftes Element sind organisierte Linksradikale – etwa die anarchistische Gewerkschaft CNT – die sich vom Spontaneismus von 15-M abgrenzen. Sechstens schließlich artikulieren sich in den Krisenprotesten zumindest zum Teil auch die konkreten Alltagskämpfe von doppelt – von der repräsentativen Demokratie, aber auch den Protestbewegungen – Subalternisierten, z.B. Migrantinnen und Migranten, die mit Unterstützung von (Selbst-)Organisationen wie der Plattform der Hypothekengeschädigten gegen Wohnungsräumungen aufgrund von Hypotheken- und Mietschulden kämpfen.
5. Was tun? (III): Radikaler Reformismus und neuer Modus des Politischen
Die Verhärtung des europäischen Staatsapparateensembles, so zeigt das Beispiel Spanien, wird von einem neuen Zyklus sozialer Kämpfe begleitet, der von einer Ambivalenz geprägt ist, die staats- und elitefixierten Ansätzen entgeht: Er erzeugt nicht nur Druck für eine linke Restauration von Staat, Kapitalismus und repräsentativer Demokratie, sondern auch Chancen, die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse aus radikaldemokratischer Perspektive grundlegend in Frage zu stellen. Die Kämpfe und Organisationsformen weisen deutlich über eine Stärkung zivilgesellschaftlicher Strukturen hinaus:
“Botschaften und Argumentationsweisen – etwa Selbstorganisation oder ziviler Ungehorsam – die wir über Jahre hinweg mit wenig Erfolg an die Menschen zu vermitteln versucht haben, dringen plötzlich mit verblüffender Leichtigkeit zu allen möglichen Leuten durch, die nicht zum Profil des revolutionären Aktivisten passen, an das wir uns gewöhnt hatten.“
(Hausbesetzer und Aktivist von 15-M in Madrid zit. nach Martínez/García 2011: 8)
Im Kontext der Euro-Krise entsteht damit ein Spannungsverhältnis zwischen Staatsapparaten, institutionalisierten Teilhabe- und Vertretungsorganisationen (z.B. der Gewerkschaften CC.OO und UGT) und einer sich unter dem Eindruck verschlechternder alltäglicher Lebensbedingungen politisierenden Bevölkerung.
Trotzdem sprechen eine Reihe von Argumenten gegen ein einfaches Revival der antietatistischen Ansätze des 20. Jahrhunderts, wie es im Umfeld des europäischen Neoanarchismus formuliert und erhofft wird (vgl. Unsichtbares Komitee 2010). Das lässt sich exemplarisch wiederum am Beispiel Spanien zeigen: 15-M gelingt es zwar, Freiräume kollektiver Auseinandersetzung zu eröffnen, abgesehen von punktuellen Mobilisierungserfolgen – etwa im Kontext von Demonstrationen oder der Platzbesetzungen 2011 – bleibt ihre Reichweite jedoch begrenzt. Für massenhafte Mobilisierungen bleibt sie z.B. auf Gewerkschaften angewiesen. Migrantinnen und Migranten sind in der Bewegung kaum präsent. Auch eine alternative soziale Reproduktion ermöglicht 15-M nur begrenzt – trotz Hausbesetzungen und der Gründung von Kooperativen. Eine für sich allein tragfähige Perspektive gesellschaftlicher Veränderung jenseits der etablierten Institutionen entsteht so kaum. Die Bewegung bleibt stets auf den staatlichen Kontext und die Politiken von und in den entsprechenden Apparaten und Institutionen angewiesen. Eine dogmatische Ignoranz gegenüber dem staatlicherseits institutionalisierten Handlungsfeld des Politischen ist daher gleichbedeutend mit einer eher unstrategischen Delegation wichtiger Aufgaben (vgl. Žižek 2009: 211).
Emanzipatorische Gesellschaftsveränderung steht damit vor einer dilemmatischen Situation: Eine auf den Staat fixierte Reformstrategie ist angesichts des verhärteten europäischen Staatsapparateensembles weder durchsetz- noch wünschbar, eine Perspektive, die unmittelbar auf Selbstverwaltung und das Potential gesellschaftlicher Gemeingüter („Commons“), als einer Form sozialer Interaktion jenseits der Dichotomie von staatlicher Öffentlichkeit und privatem Markt (vgl. Hardt/Negri 2010), setzt, bleibt in ihrer Reichweite begrenzt. Angesichts dieses Dilemmas könnte es sich als produktiv erweisen, leere Signifikanten wie „die Linke“, „Subalterne“, „neue gesellschaftliche Allianzen“ oder „eine europäische Mosaiklinke“ nicht als Zustandsbeschreibungen, sondern als Projekt zu begreifen und darüber eine produktive wie konflikthafte Synthese von (außerinstitutionellen) „Bewegungen“ und (institutionalisierter) „Politik“ zu entwickeln. Notwendige Voraussetzung hierfür ist eine Vermittlung der unterschiedlichen und teilweise gegensätzlichen sozialen Handlungslogiken von Bewegungen, Parteien und Gewerkschaften durch institutionalisierte Formen einer narrativen Praxis und jenseits einer identitär aufgeladenen Dichotomie von Reform und Revolution. Widersprüche zwischen unterschiedlichen Handlungslogiken (z.B. Kritik am Korporatismus der Gewerkschaften von Seiten des 15-M und Kritik am Spontaneismus von 15-M von Seiten linkradikaler Organisationen) werden dadurch vermittelt, nicht jedoch aufgehoben.
Ziel eines solchen Projekts könnte es sein, den Raum und die Möglichkeiten von Selbstverwaltung kontinuierlich zu erweitern und das „Problem der politischen Innovation“ (Negri 2009: 130) unter Berücksichtigung der jüngeren lateinamerikanischen Erfahrungen (vgl. Zelik 2011) über eine konfliktive Doppelstrategie zu lösen (vgl. Seibert 2010). Im Gegensatz zur klassischen Doppelstrategie (etwa der Jusos), nach der soziale Bewegungen vor allem Steigbügelhalter einer linken Regierung sein sollten, geht es hier darum, die Konfliktbeziehung auf Dauer zu stellen und dadurch produktiv zu wenden (Seibert 2012: 49). Gerade „deswegen sind die Methoden der Erarbeitung von Gemeinsamkeiten und Differenzen zentral“ (Buckel/Ypsilanti 2012). Eine zentrale Bedeutung kommt damit radikalen Fragen aufwerfenden, außerinstitutionellen sozialen Bewegungen wie 15-M zu. Zentrale Ressource dieser sozialen Bewegungen kann wiederum – wie das Beispiel Spanien zeigt – nicht zuletzt eine starke, in kontinuierlichen Arbeits- und Lebenszusammenhängen organisierte radikale Linke sein (vgl. Martínez/García 2011 sowie grundlegend FelS 2011). Diese Voraussetzung für einen radikalen Reformismus, der in der Lage ist, konkrete Reformen politisch durchzusetzen und so die Möglichkeiten für Projekte der Selbstverwaltung zu erweitern, scheint derzeit zwar in Teilen der europäischen Peripherie (z.B. Spanien), allerdings jedoch nicht in den neo-merkantilistischen Zentrumsstaaten (z.B. Deutschland) erfüllt, da hier ein großer Teil der Bevölkerung noch hegemonial in autoritäre Krisenlösungsstrategien eingebunden ist (vgl. Baum 2012). Außerinstitutionelle soziale Bewegungen und Alltagskämpfe sind verhältnismäßig schwach ausgeprägt (vgl. Huke 2012b).
Das Wissen dafür bereitzustellen, wie derartige Transformationsprozesse trotz aller Unmöglichkeiten – z.B. der ungleichen Entwicklung von Zentrum und Peripherie in der EU – zu realisieren sind (aber auch wo Grenzen liegen), ist Aufgabe einer kritischen Europaforschung, die nicht auf einen Erhalt des status quo, sondern auf emanzipatorische Transformation abzielt. Anstelle einer allein auf das akademische Feld bezogenen Wissensproduktion, bloß normativer Kritik oder gar autosuggestiver Theoriebildung wäre hierfür zunächst vor allem eine (kritische) Vermittlung der Europaforschung mit emanzipatorischen sozialen Bewegungen und „Alltagskämpfen“ (Nowak 2012) notwendig.
Fußnoten
(1) Diese Entwicklung ist nicht losgelöst von der aktuellen, durch die Produktivitätssprünge im Zuge von Automatisierung und Digitalisierung angestoßenen Rationalisierungsdynamik zu verstehen (vgl. Schlemermeyer 2011b).
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Dieser Beitrag erschien zuerst in PROKLA Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, Heft 168, 42. Jg., 2012, Nr. 3 und ist unter folgender Adresse als PDF verfügbar: