Streichung der illegitimen Schulden statt Rettungsschirme für die Rentiers

1 Einleitung:

Die Verschuldung der öffentlichen Haushalte hat seit der Krise 2008 in den meisten Ländern Europas stark zugenommen. Sie ist eine der Schlüsselfragen der gegenwärtigen politischen Auseinandersetzungen. Die degressiven gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Konsequenzen dieser Schulden sind bekannt. Seit den 1980er Jahren wurden viele Analy- sen über die Verschuldung der Länder der Dritten Welt, besonders in Lateinamerika (Toussaint 2000; Peet 2003), verfasst. Nun geraten die Schulden der öffentlichen Haus- halte in Europa zunehmend ins Blickfeld. Die Staatsschulden sind ein zentrales Kennzei- chen der gegenwärtigen Phase des Kapitalismus.

Der vorliegende Beitrag verfolgt das Ziel, die gegenwärtige Verschuldungsdynamik  in den Kontext der grundlegenden Entwicklungstendenzen  der gegenwärtigen Konfigura- tion des Kapitalismus zu verorten, und zweitens eine radikale politische Alternative zu skizzieren, die von den gegenwärtigen Auseinandersetzungen und Herausforderungen ausgeht.

Ich stelle in diesem Artikel drei miteinander verbundene Vorschläge zum Verständnis der öffentlichen Verschuldung zur Diskussion. Die Aufblähung der öffentlichen Ver- schuldung war erstens ein wesentliches Element für die Machtzunahme  des Finanzkapi- tals. Sie war zweitens Ergebnis einer bewussten Unterfinanzierung des Staates. Drittens ist sie ein Hebel zur Durchsetzung einer Austeritätspolitik, die dazu dient, den Mehrwert zu steigern und dem Kapital neue Felder zu seiner Verwertung zuzuführen.

Ich argumentiere zudem, dass die Aufblähung der öffentlichen und privaten Schulden dazu dient, Krisen der Kapitalakkumulation zu verschieben – zeitlich, räumlich und in andere Bereiche der Gesellschaft. Die Verschuldung,  vor allem in den peripheren Län- dern des Euro-Währungsraums, ist im starken Maße auch Ausdruck der ungleichen Ent- wicklung in Europa. Die Kluft zwischen den exportstarken Ländern und den Ländern, die zunehmend auf Kapitalimporte angewiesen sind, hat sich seit der Einführung des Eu- ro laufend vergrößert. Die Troika (Europäische Union, Europäische Zentralbank und In- ternationaler Währungsfonds)  versucht nun mit weitreichenden Bedingungen und Er- pressungen die Kosten der Krise auf die Lohnabhängigen abzuwälzen. Die Auseinander- setzungen über die Austeritätspolitik in Griechenland, Spanien, Portugal und Italien sind von großer Tragweite für die politischen Kräfteverhältnisse in ganz Europa.

Der zweite Abschnitt erklärt die wesentlichen Entstehungsfaktoren, die zur Formie- rung eines globalen Rentierregimes führten. Als Antwort auf die systemische Krise wird dieses Regime seit 2008 ganz wesentlich durch einen Staats-Finanz-Komplex  getragen. Im dritten Abschnitt analysiere ich einige Kennzeichen  der ungleichen Entwicklung  in Europa, die Ausdruck des grundlegenden Charakters der EU und des Euro sind, und die Rettungsschirme für die Rentiers. Die Politik der Troika dient nicht der Lösung der Kri- se, sondern der Sicherung der Einnahmen der Rentiers. Der vierte Abschnitt skizziert ei- nige Kennzeichen der europäischen Krise und der Krise in Griechenland. Der fünfte Ab- schnitt schließlich diskutiert die zunehmend  stärker erhobene  Forderung nach einem Moratorium der Schuldenzahlungen und einem gesellschaftlich breit diskutierten Audit der öffentlichen Schulden.

 

2 Staatsschulden im Rentierregime

Der starke Anstieg der Verschuldung ist direkter Ausdruck der zunehmenden Macht des Finanzkapitals. Denn  die finanziellen Vermögensbestände  und Forderungen der Einen entsprechen zugleich finanziellen Verpflichtungen der Anderen. Die mit der Aufblähung des Finanzsektors durchgesetzte Zunahme  der Staatsverschuldung war ein wesentliches Element der Antworten des Kapitals auf die Krise seit Mitte der 1970er Jahren.

2.1 Die Macht des Finanzkapitals und die Staatsschulden

Die seit den späten 1970er Jahren durchgesetzten neokonservativen und neoliberalen De-

und Reregulierungen, die zuerst die Regierungen in den USA und Großbritannien prak-

tizierten und dann von den meisten Staatsführungen auf der Grundlage  massiver Nie-

derlagen  der  Arbeiterbewegung  übernommen   wurden,  schufen  die  institutionellen

Grundlagen für die verstärkte Konzentration des Finanzkapitals in den Händen von Fi-

nanzunternehmen und institutionellen Anlegern wie Versicherungen, Investment-, An-

lage-  und  Pensionsfonds  und  Banken  (Chesnais  2004a).  Die  institutionellen  Anleger

konnten sich als dominierende Akteure auf den Kapitalmärkten durchsetzen. Das Finanzkapital wird hier verstanden als konzentriertes Geldkapital, dessen Besitzer

gestützt auf Eigentums- oder Gläubigertitel Einkommen  in Form von Zinsen und Ren-

ten oder Gewinne durch den Verkauf eben dieser Titel erwarten (Robinson 1956: 247).

Diese Zins- und Renteneinkommen  sind einzig durch das Eigentum an Vermögen legi-

timiert, auch wenn der Eigentümer außerhalb der Produktion steht (Marx  1894: 390).

Dieses Anlagekapital verwertet und vergrößert sich also als zinstragendes und rententra-

gendes Kapital durch Abschöpfung eines Teils des Mehrwert (vgl. Marx 1863: 462). Der  Aufstieg  des  Finanzkapitals  beruhte  auf  mehreren,  miteinander  verflochtenen

Prozessen. Neben  der Entstehung  einer riesigen Kredit-  und  Verschuldungspyramide

(Serfati 2009; Altvater 2010: 40, 59) sind eine Reihe weiterer institutioneller Verände-

rungen zu nennen: der Zusammenbruch  der Bretton Woods-Währungsordnung 1973

und der hieraus entstandene Devisenhandel  (McNally  2009; Serfati 2009);  die Entste-

hung  von  Eurodollar-Märkten  und  Petrodollar-Märkten  (Chesnais  2004b;  Guttmann

2009);  die  Einführung  kapitalgedeckter  Altersversicherungssysteme  (Blackburn  2002;

Sauviat 2004); die Befreiung der Kapitalmärkte von institutionellen Einschränkungen,

die somit den finanziellen Investoren die nötige Liquidität, das Privileg innerhalb kurzer

Zeit ihr Kapital in Unternehmen zu platzieren oder abzuziehen, bieten (Orléan 1999); die

bewusste Steigerung der Liquidität durch tiefe Zinsen und lockere Geldpolitik durch die Notenbanken (Guttmann 2009); die Liberalisierung und Deregulierung des Handels, der Direktinvestitionen, der Währungstransaktionen und Kapitalflüsse und das Entstehen neuer sogenannter Finanzintermediäre, die das Kreditsystem weit über die vormaligen Grenzen der Geschäftsbanken erweiterten (Guttmann 2009) sowie die Durchsetzung umfassender Privatisierungsprogramme, die Fonds neue Anlagemöglichkeiten eröffne- ten (Jeffers 2004; Coriat 2006).

Diese Prozesse setzten sich je nach Land und konkreten Kräfteverhältnissen unter- schiedlich stark durch. In Deutschland trugen beispielsweise die teilweise Entflechtung der bislang engen Verbindungen von Banken und Industrieunternehmen, Privatisie- rungsprogramme und die Durchsetzung einer Corporate Governance im Sinne des Sha- reholder-Value-Konzepts zur Machtsteigerung des finanziellen Anlagekapitals bei (Wój- cik 2003).

Ein beträchtlicher Teil des überschüssigen Geldkapitals (wofür  die Petrodollars mit- verantwortlich waren) floss in die Entwicklungs- und Schwellenländer und blähte deren Verschuldung auf. Die abrupte Erhöhung der Zinssätze unter dem US-Notenbankpräsi- denten Paul Volcker im Jahr 1979, noch während der Präsidentschaft von Jimmy Carter, ließ die Verschuldung  zahlreicher Länder in Südamerika, Afrika und Asien sprunghaft ansteigen und bewirkte einen kontinuierlichen Geldfluss zu den Finanzunternehmen in Europa und Nordamerika (Toussaint 2000). Die Verschuldung der Länder des Südens hat wesentlich zum Wachstum des finanziellen Anlagekapitals und der Stärkung der Macht des Finanzsektors beigetragen.

Quantitativ noch wesentlicher war, dass die öffentliche Verschuldung in allen kapita- listischen Kernländern, namentlich den USA, seit den späten 1970er Jahren deutlich an- schwoll und eine Akkumulation liquiden Geldkapitals in den Händen finanzieller Anle- ger bewirkte (Chesnais  2004). Anfang der 1980er Jahre griffen die Staaten zunehmend auf die Ausgabe von Staatsanleihen auf spezialisierten Märkten zur eigenen Finanzierung zurück. Die Bezahlung der Zinsen und die Zurückzahlung der Schulden trugen zum Transfer großer Reichtümer zugunsten der Käufer von Staatsanleihen, also vor allem in- stitutionellen Finanzanlegern, bei und engten den ökonomischen  Handlungsspielraum der Staaten ein.

Die Kreditaufblähung erfuhr in den USA und zahlreichen Ländern Europas, beson- ders in Großbritannien, in den 2000er Jahren durch die starke Zunahme  der Verschul- dung des Finanzsektors und der privaten Haushalte weitere Schübe (McKinsey Global Institute 2010: 23, 28). Während sich die finanziellen Vermögensbestände, einschließlich Eigenkapital, private und öffentliche Schulden und Bankguthaben, in den ersten acht Jahrzehnten des 20. Jahrhundert in etwa im Einklang mit dem Wachstum des Bruttoin- landsprodukts entwickelten (mit Ausnahme der Kriegszeiten, als die Staatsschulden stie- gen), haben sich deren Ausmaße von 1980 bis 2007 auf ein Verhältnis von 393 % am welt- weiten BIP vervierfacht (194 Billionen USD).

Die Aufteilung des gesamten Volkseinkommens  hat sich zugunsten des Kapitals ver- schoben. Finanzoperationen haben eine zunehmend  wichtigere Rolle bei den Aktivitä- ten der Banken eingenommen,  die sich zu großen Finanzkonglomeraten transformiert haben. Die von neoklassischen Ökonomen  formulierte Theorie der Effizienz der Märkte hat dazu beigetragen, die wachsende ökonomische  und gesellschaftliche Macht  der Fi- nanzinvestoren ideologisch abzustützen (Chesnais 2011: 27).

Die Finanzialisierung verschärfte den Druck zur Reorganisation der Arbeitsverhält- nisse und zur Prekarisierung der Arbeit und der Lebensbedingungen.  Damit die Unter- nehmen den Renditenormen der Finanzanleger entsprechen und sich rasch auf die vola- tilen Märkte einstellen können, sind im finanzdominierten Kapitalismus Löhne, Ar- beitszeiten und Arbeitsbedingungen zu Restgrößen geworden (Dörre 2009). Der Hunger der finanziellen Anleger nach höheren Erträgen auf ihre Platzierungen, also die Stärkung der Rente und des Zinses im Prozess der Teilung des Mehrwerts in Profit und Rente, re- spektive des Profits in Unternehmensprofit und Zins (Marx 1894: 388ff., 452f., 462ff.) be- wirkt eine stärkere Ausbeutung der Lohnabhängen in Form einer Steigerung der Mehr- wertrate, was annähernd durch die Entwicklung des Lohnanteils am BIP ausgedrückt werden kann (Abbildungen  1 und 2) (vgl. Husson 2008: 13ff.; 2010). Die Gewerkschaf- ten in Europa und Nordamerika waren nicht in der Lage oder nicht willens, sich dieser Entwicklung zu widersetzen.

Trotz der weitreichenden industriellen Reorganisation stieg die Akkumulationsrate nicht im selben Maße wie die Profitrate, weil es an Realisierungsmöglichkeiten des Mehr- werts mangelt. Deswegen platzieren die Institutionen des Finanzkapitals einen Teil des Mehrwerts in die Finanzsphäre, in der Erwartung damit besonders hohe Erträge zu er- zielen (Epstein und Jayadev 2005; Husson  2010; Stockhammer  2008). Es geht also dar- um, aus Geld mehr Geld zu machen oder mit anderen Worten die fetischisierte Form des Kapitals im Prozess G–G’ zu verwerten (Marx 1894: 355ff.).

Abbildung 1: Entwicklung der Lohnquote in ausgewählten Ländern des europäischen Zent- rums. Quelle: AMECO Datenbank


Abbildung 2: Entwicklung der Lohnquote in ausgewählten Ländern der europäischen Peri- pherie. Quelle: AMECO Datenbank

2.2 Fiktives Kapital

Dieser verkürzte Kapitalkreislauf G–G’ mündet in eine Aufblähung des fiktiven Kapitals.

Fiktives Kapital ist Kapital, das nicht den Kreislauf G –W–G’  durchläuft und Mehrwert

produziert. Es wird also nicht zum Ankauf von Arbeitskraft und Produktionsmitteln ver-

wendet, sondern ist Kapital, das sich in Form von Eigentumstiteln anhäuft. Wertpapiere

(insbesondere Aktien oder Staatsanleihen) sind Anrechte auf den gesellschaftlich produ-

zierten Reichtum in Form von Zins, Dividende oder Rente, tragen selbst aber nicht zur

Schaffung von Reichtum bei. Daraus folgt, dass sich das fiktive Kapital nicht beliebig und

unabhängig  von  der  Dynamik  des  Produktivkapitals  entwickeln  kann  (Becker  2001:

74ff.). Das fiktive Kapital in Form handelbarer Eigentumstitel wie Schuldscheine, Anleihen

und Aktien, die Duplikate auf reales Kapital oder Ansprüche auf zukünftiges Einkom-

men sind, dient dazu die Schranken zu überwinden, die das fixe (und räumlich fixierte)

Kapital für die zukünftige Akkumulation schafft (Marx 1894: 482ff.; Harvey 1982: 266ff.;

Chesnais 2006: 82ff.). Für Marx erwächst aus der Staatsanleihe die erste Form des fiktiven Kapitals, während

die zweite Form mit der Gründung von Aktiengesellschaften und dem Handel der Akti-

en auf Sekundärmärkten entsteht (Marx 1894: 482–485). Die Staatsschulden waren be-

reits ein zentrales Moment  der ursprünglichen Akkumulation  und der Entstehung des

Kapitalismus (Marx 1867: 779ff.; Harvey 2003; Stützle 2008). Der handelbare Eigentums-

titel einer Staatsanleihe berechtigt zu einer regelmäßigen Zinszahlung, die sich aus den

Steuereinnahmen nährt. Die Aufblähung der Staatsschulden und die daraus erwachsenden Zinszahlungen werden – vermittelt über die direkte und indirekte Besteuerung der Lohnabhängigen  – eine zentrale Form der Mehrwertaneignung.  Die Steuerausbeutung wird somit eine zentrale Quelle für das fiktive Kapital.

Das fiktive Kapital wurde durch die Verschuldung  von Privaten, Unternehmen  und Staaten seit den späten 1970er Jahren stark aufgebläht und konnte «endlose» Zins- und Rentenzahlungen durchsetzen. Der Aufstieg des konzentrierten Anlagekapitals in den letzten drei Jahrzehnten mündete in eine ausgedehnte Akkumulation von Eigentumsti- teln und «Finanzprodukten» aller Art, die ihren Eigentümern als Kapital erscheinen, während sie tatsächlich Ansprüche auf zukünftige Profite aus der Produktion oder einen Teil der Steuereinnahmen sind. Die Steigerung der Marktkapitalisierung der Unterneh- men weit über ihre tatsächliche Akkumulationstätigkeit hinaus ist eine der Ausdrucks- formen des Aufbaus fiktiven Kapitals.

Die Entstehung fiktiven Kapitals ist eng mit dem Kredit verbunden. Das Kreditsystem operiert mit einer Form fiktiven Kapitals, eines Flusses von Geldkapital, das nicht von ei- ner Warentransaktion getragen wird. Die Kreditvergabe beruht auf der Annahme, dass die kreditfinanzierten Investition eine höhere Nachfrage nach Konsumgütern  auslösen wird und untergenutzte Produktionsinfrastruktur wieder in Gang gesetzt wird. In die- sem Fall wird das vorgeschossene fiktive Kapital nachträglich in realer Wertform reali- siert (Harvey 1982: 266).

Die Aufblähung des Kreditwesens und der Staatsschulden entspricht somit einem Überlaufkanal für überakkumuliertes Kapital. Das fiktive Kapital kann zeitlich verscho- ben und  räumlich verlagert in produktives  Kapital verwandelt werden. Doch  es kann auch selbständig akkumuliert werden. Die Staatsverschuldung wurde ein willkommenes Feld zur Verwertung überakkumulierten Kapitals in Form von Finanzplatzierungen.

Um der tendenziellen Überakkumulation und der damit einhergehenden Verwer- tungskrise zu begegnen, musste sich das Kapital neue Felder erschließen. Das geschah so- wohl über die Integration neuer geografischer Märkte und die Entstehung neuer Indu- striesektoren als auch über die Aufblähung des fiktiven Kapitals. Diese Prozesse der Mo- bilisierung, Verlagerung und Fixierung von Kapital entsprachen der wiederholten Durchsetzung neuer spatio-temporal fixes (Harvey 1982, 2006), die jeweils dazu beitru- gen, das Problem der Überakkumulation geografisch und zeitlich zu verschieben, um es bald auf höherer Stufenleiter erneut auftreten zu lassen.

Mit der Durchsetzung des globalen Rentierregimes hat sich die Kluft zwischen dem Wachstum  der Kapitaleinkommen  und  der Einkommen  aus Arbeit vertieft. Weltweit lässt sich eine starke Zunahme der Einkommen beobachten, die auf Eigentumsmonopo- len und Eigentumstiteln beruhen. Diese Einkommen können als Renteneinkommen be- zeichnet werden, welche die Besitzer von Eigentumstiteln unabhängig von ihrer Beteili- gung am produktiven Prozess einstreichen können. Diese Rentiers konzentrieren sich vor allem in den Ländern der nordatlantischen Zone, in Japan und zunehmend auch in auf- strebenden Ländern (Serfati 2006: 98ff.). Allerdings fehlen diesem globalen Rentierregi- me die Grundlagen für eine stabile Entwicklung. Die lange Periode kapitalistischer Re- strukturierungen produzierte scharfe regionale und sektorale Krisen, sowie ein geogra- fisch sehr ungleiches Wachstum (Zeller 2011).

 

2.3 Anleihen statt Steuern

Zumeist  ist die Staatsverschuldung  Ergebnis einer Unterfinanzierung  der öffentlichen

Haushalte unter anderem durch eine Senkung der direkten Steuern auf das Einkommen

sowie die Gewinne und das Kapital der Unternehmen.  Seit Mitte der 1980er Jahre wur-

den in ganz Europa die Spitzensteuersätze bei Einkommen und Unternehmensgewinnen

reduziert (Millet und Toussaint 2012: 103ff.). Zwei französische Autoren haben den Zu-

sammenhang  zwischen  Steuerreduktionen  und  Anwachsen  der öffentlichen Verschul-

dung im Falle von Frankreich deutlich offengelegt (Pucci und Tinel 2010). Die durch die

Zuspitzung der Steuerkonkurrenz angetriebene Steuerflucht ist ein weiterer Faktor. Die

meisten Regierungen in Europa haben auf das Problem der Unterfinanzierung mit der

verstärkten Ausgabe von Anleihen reagiert. Sie haben also genau bei jenen Teilen der Ge-

sellschaft Geld  ausgeliehen,  die  sie  mit  tieferen  Steuern  begünstigt  haben  (Chesnais

2011). Diese Politik war im Sinne der Kapitaleigentümer, Vermögenshalter und Rentiers.

Diese profitieren gleich doppelt: erstens indem sie weniger Steuern bezahlen und zwei-

tens indem sie Zinszahlungen aus den andauernden Staatsschulden empfangen. Dieser

Prozess  vollzog  sich  im  Zuge  einer  massiven  Internationalisierung  der  Staatsanlei-

hemärkte und Ausdehnung der Sekundärmärkte. Vor allem zu Zeiten hoher Zinssätze wurde die Zahlung der Zinsen für die Schulden in

manchen  Ländern  einer der wichtigsten  Budgetposten.  Die  Mehrwertsteuer,  also die

Steuer, die die Lohnabhängigen verhältnismäßig am stärksten belastet, stellt in der Regel

das Rückgrat der Einnahmen dar. Dieses System der Staatsfinanzierung bedeutet einen

Transfer von Reichtum von den Lohnabhängigen zu den Banken und den Anlagefonds. Die Entwicklung der Anteile der Staatsausgaben am Bruttoinlandsprodukt offenbart, dass der weitverbreitete Diskurs der zu hohen Staatsausgaben irreführend ist (Abbildungen 3 und 4). Die Staatsausgaben stiegen im Verhältnis zum wirtschaftlichen Ausstoß als Ergebnis der Reaktionen auf die ersten beiden Krisen Mitte der 1970er und der frühen 1980er Jahre an. Doch  in den 1990er und 2000er Jahren nahmen  die gesamten Staats-

ausgaben kaum mehr zu und sanken in einigen Ländern sogar. In Portugal und Grie-

chenland stiegen sie hingegen fast ständig an. Erst als Reaktion auf die Krise schnellten

die öffentlichen Ausgaben schlagartig in die Höhe. Die Staatsschulden sind also nicht ein

Resultat übertriebener Staatsausgaben. Sie sind vielmehr  ein integriertes Element  des

Rentierregimes und  Ausdruck  einer strukturellen Unterfinanzierung  der öffentlichen

Haushalte. Die knappen Haushalte wurden zu einem wichtigen Hebel, um eine harte Austeritäts-

politik durchzusetzen. Sie dienen als Vorwand, um den Staat aus bestimmten Sektoren

der Wirtschaft zurückzudrängen, Privatisierungen und eine umfassende Reorganisation

oder sogar Zerstörung des gesamten Wohlfahrtssystems durchzusetzen – auf Kosten der

Lohnabhängigen und der enteigneten Bevölkerung (vgl. Kreislauf in Abbildung 5). Die Privatisierungen ihrerseits bieten dem Kapital neue Felder für Investitionen und Finanzplatzierungen. Sie kommen einer privaten Aneignung öffentlicher Vermögensbe-

stände gleich und können als Form der Akkumulation durch Enteignung charakterisiert werden (Harvey 2004).

 

Abbildung 3: Entwicklung der Anteile der Staatsausgaben  am Bruttoinlandsprodukt in aus- gewählten Ländern des europäischen Zentrums. Quelle: AMECO Datenbank

Abbildung 4: Entwicklung der Anteile der Staatsausgaben  am Bruttoinlandsprodukt der eu- ropäischen Peripherie. Quelle: AMECO Datenbank

Abbildung 5: Der für Rentiers fruchtbare Kreislauf von Staatsschulden und Rentiereinkom- men, eigener Entwurf.

 

Die Abbildungen 6 und 7 zeigen die konsolidierten Bruttoschulden in ausgewählten Län- dern Europas. Die Verschuldung stieg in den meisten Ländern seit 1980 an und sank anschließend in den 1990er Jahren als Ergebnis der durchgesetzten Austeritätspolitik so- wie in den 2000er Jahren bis 2007 dank höherer Wachstumsraten  in einigen Ländern.

2008 und 2009 explodierte die Schuldenlast in vielen Ländern aufgrund der Rettung der Banken und des Finanzsystems.


 

Abbildung 6: Entwicklung der Bruttoverschuldung in Prozent des Bruttoinlandprodukts  in ausgewählten Ländern des europäischen Zentrums. Quelle: AMECO Datenbank

 

Abbildung 7: Entwicklung der Bruttoverschuldung in Prozent des Bruttoinlandsprodukts  in ausgewählten Ländern der europäischen Peripherie. Quelle: AMECO Datenbank


3 Rettungsschirme für die Rentiers

3.1 Der Staats-Finanz-Komplex und die Verschiebung  der Verschuldung  zu den öffentlichen Haushalten

Die Finanzkrise 2008, der Zusammenbruch  des Kreditwesens und der schnelle Anstieg der Erwerbslosigkeit seit dem Herbst 2008 haben die Tragweite der Überproduktion  of- fenbart. In den Ländern, in denen das Finanzkapital Immobilienblasen angefeuert hat, wie in den USA, in Großbritannien, in Irland und in Spanien, hat die Überproduktion die Form von leeren Häusern, verlassenen Wohnungen,  unverkauften Büros und einem Bausektor in der Krise angenommen. In vielen Ländern offenbarten sich rasch auch weit- reichende Überkapazitäten in verschiedenen Industriesektoren.

Die Krise offenbart die Grenzen eines Wachstumsmodells, in dem die Produktion und der Verkauf von Gütern und Dienstleistungen durch eine massive Verschuldung der Un- ternehmen und vor allem der Haushalte unterstützt wurden. Der Finanzsektor hat den Hebel der Verschuldung angewendet, um der Nachfrageschwäche entgegenzuwirken, die durch die Einfrierung der Löhne entstanden ist.

In der stark liberalisierten und globalisierten Wirtschaft muss das Ausmaß der Über- akkumulation  und Überproduktion  aber auf Weltebene erfasst werden. Viele europäi- sche Industriekonzerne haben seit 2009 ihre internationale Expansion  vorangetrieben und einen Großteil ihrer Neuinvestitionen  in China und in anderen Schwellenländern getätigt. In der Tat wurde das sehr ungleiche Wachstum seit 2010 durch die Verschuldung im Westen und die Produktion in China angetrieben (Chesnais  2011: 63–65, 73). Wie lange China und andere Schwellenländer die Rolle der Konjunkturlokomotive  einneh- men können, bleibt unsicher.

Die Regierungen der USA  und Europas haben mit ihrer Krisenpolitik im Sinne der Empfänger von Zins- und Renteneinkommen gehandelt und deren Position gestärkt. Zahlreiche Banken in den USA und in Europa wurden mit noch nie da gewesener Staats- hilfe durch den Sturm der Krise und der Marktbereinigung gezogen. Die Staatshilfen für den Finanzsektor dienten nicht nur der Rettung der Banken, sondern vor allem auch ih- rer Stützung im Kontext der internationalen Rivalität. Dieses Zusammenspiel  von Staat und Finanzkapital wurde bislang wenig analysiert: Harvey (2009) argumentiert, dass der Staats-Finanz-Komplex  entscheidend sei für die Dynamik des Kapitalismus. Was formal im Kleid der Verstaatlichung erschien, war tatsächlich private Aneignung öffentlicher Guthaben durch Unternehmen des Finanzkapitals in bislang unerreichtem Ausmaß. Die- ser Prozess entsprach einer Verschiebung der Verschuldung von den Unternehmen  zum Staat. Der  Staat trat gewissermaßen  als «ideeller Gesamtbankier»  auf  (Altvater  2010:

213). Allein die für die direkten Stützungszahlungen der reichen G20-Staaten vorgesehe- nen Mittel beliefen sich durchschnittlich auf etwa 5,7 % des BIP der G20 von 2008. Da- zu kamen angekündigte Kapitalspritzen und der Erwerb von Vermögensbeständen im Umfang von 3,4 % und Stützungskredite im Umfang von 4,1% des BIP. Allerdings wur- den alle diese Programme letztlich meistens zu weniger als 50 % beansprucht (Horton et al. 2009: 11, 28; Horton und Gerson 2009: 11; vgl. IMF 2009: 28).

Die Bedeutung des Staates erwächst jedoch nicht nur aus seiner Rolle als lender of last resort, also als Garant für das Funktionieren der Finanzmärkte und gegen einen zu hohen Wertverlust des akkumulierten (fiktiven) Kapitals, sondern auch in seiner aktiven Rolle als Emittent von Staatsanleihen. Die stark divergierenden Zinssätze für Staatsanlei- hen sind ein Gradmesser für das Vertrauen, das das anlagesuchende Kapital den Staaten entgegen bringt, ihren Schuldendienst mit der Aufnahme neuer Schulden zu begleichen, letztlich also ihren Zahlungsverpflichtungen  an die institutionellen Investoren nachzu- kommen.

Die rapide ansteigende Staatsverschuldung entsprang direkt der Sozialisierung der Schulden des Finanzsektors. Das unterstreicht die anhaltende Macht des Finanzkapitals und die Aktualität des Konzepts des fiktiven Kapitals. Die staatlichen Stützungen haben die anstehende Entwertung des fiktiven Kapitals reduziert und zugleich die Profitabilität der wichtigsten Finanzunternehmen garantiert. Dank der enormen Aufblähung der Staatsverschuldung konnte sich das fiktive Kapital 2009–2011  abermals aufbauen und Zinszahlungen durchsetzen. Die mit umfangreichen Emissionen von Staatsanleihen er- folgte Umlenkung der Schulden zu den Staaten versprach dem zinstragenden Kapital weitere relativ sichere und in einem deflationären Umfeld sogar attraktive Anlagemög- lichkeiten. Die durch das fixe Kapital aufgetürmten Schranken für die Kapitalverwertung werden nun abermals durch die Eröffnung eines weiteren finanziellen Kapitalkreislaufs zumindest für eine gewisse Zeit überwunden (Harvey 1982: 269).

Die Staaten trugen auf Kosten öffentlicher Guthaben nicht nur zur Sicherstellung der Verwertungsbedingungen  des Kapitals, sondern auch maßgeblich zur Stabilisierung der Rentiereinkommen bei. Die Regierungen Nordamerikas und Europas, der IWF und die Europäische Kommission  reagieren nun mit den bekannten neoliberalen und neokon- servativen Rezepten auf die Verschuldung. Die Defizite sollen durch eine konsequente Ausgabendisziplin,  Effizienzsteigerung  der  öffentlichen  Leistungen,  insbesondere  bei den Sozialausgaben, und weitere Privatisierungen wieder reduziert werden. Die Glaub- würdigkeit der Schuldnerstaaten muss gewahrt bleiben.

Doch die Reduktion der Defizite führt keineswegs automatisch zu einer Verringerung der Schuldenlast. Ebenso wenig lässt ein öffentliches Defizit die Schuldenlast generell an- wachsen. Wenn die Reduktion der Defizite die wirtschaftlichen Aktivitäten bremst oder gar einbrechen lässt, wird sich der Schuldenberg sogar vergrößern. Auch neoklassische Lehrbücher lehren, dass die Schuldendynamik von der Höhe der Primärdefizite sowie der Differenz zwischen dem Zinssatz und der Wachstumsrate abhängig ist (Blanchard 2009:

562). Die Wachstumsrate ist ihrerseits aber nicht unabhängig von den öffentlichen Aus- gaben. Kurzfristig begrenzen stabile öffentliche Ausgaben die Reichweite von Rezessio- nen. Langfristig stimulieren Investitionen und öffentliche Ausgaben für Bildung, Ge- sundheit, Forschung und Infrastruktur das Wachstum. Doch die unter dem Vorwand der leeren öffentlichen Kassen durchgesetzte Austeritätspolitik und die Einfrierung der Löh- ne in der Eurozone wie auch den anderen Ländern der EU haben die Nachfrageschwäche und Realisierungsschwierigkeiten verschärft (Math 2010).

Nahezu alle Länder in Europa verschuldeten sich in der Krise zusätzlich. In Griechen- land, aber auch in Frankreich und Italien, hatte die Verschuldung schon vor der Krise ein hohes Ausmaß eingenommen. In Spanien und Irland erwuchs die große Schuldenbelas- tung direkt aus dem Platzen der Immobilienblase. Zahlreiche Banken und Immobilienfonds verschuldeten sich in der Folge stark. Die Regierungen griffen diesen zulasten der Staatskasse rettend unter die Arme. Zugleich bietet die akkumulierte öffentliche Verschuldung dem konzentrierten Anlagekapital die Möglichkeit, sich über «ewige» Zinszahlungen einen Teil der Staatseinnahmen anzueignen, die wiederum vor allem durch die direkte und indirekte Besteuerung der Lohnabhängigen  gespeist werden. Die Austeritätspolitik bedeutet, dass die vorher vom privaten auf den öffentlichen Sektor verschobene Schuldenlast auf die Lohnabhängigen abgewälzt wird. Sowie  die Krise 2008  und  2009  historisches Ausmaß  annahm, scheint nun auch die in die Wege geleitete Austeritätspolitik bislang unbekannte Dimensionen anzunehmen.

3.2 Ungleiche Entwicklung in Europa und die Konstruktionsprobleme des Euro

Die größtmögliche  Freiheit für das Kapital ist ein wesentlicher Bestandteil des im De-

zember 2007 abgeschlossenen Vertrags von Lissabon (siehe Artikel 1.3, 1.4 und 3.177).

Dieser übernahm die wesentlichen Elemente des in Volksabstimmungen  in Frankreich

und den Niederlanden  2005 abgelehnten Verfassungsvertrages. In den Auseinanderset-

zungen von 2005 war vor allem die Dienstleistungsrichtlinie, die einen freien Dienstleis-

tungsverkehr in Europa vorsah, umstritten. Doch mit dem Ausbruch der Schuldenkrise

rückten die Konsequenzen der Geldpolitik, wie sie in den Verträgen festgehalten wird, ins

Blickfeld. Sie haben mehrere Dimensionen,  die aus der Natur  der europäischen  Kon-

struktion selbst erwachsen. Bis 2008 konnten sich die Illusionen über den Euro und sei-

ne Institutionen halten. Aber mit dem Ausbruch der globalen Krise traten die grundle-

genden Konstruktionsschwächen des Euro und der gesamten europäischen Institutionen

deutlich hervor. Zudem zeigen sich die massiven Unterschiede zwischen dem Euro und

dem US-Dollar. Mit dem Bretton-Woods-Abkommen von 1944 und besonders seit der Abkehr von den

festen  Wechselkursen  1971  wurde  der  US-Dollar   das  standardmäßige  Weltgeld.  Der

Dollar gilt als Wertmaßstab, zumindest als Mittel des Vergleichs auf Weltebene (alle Sta-

tistiken der internationalen Organisationen lauten auf US-Dollar). Der US-Dollar ist un-

bestreitbar das hauptsächliche Zahlungsmittel auf Weltebene und demnach das wichtigs-

te Zirkulationsmittel für Waren. Aufgrund der Größe  der US-amerikanischen  Finanz-

märkte ist der US-Dollar  auch und vor allem das wichtigste Instrument für Finanzan-

lagen. Der US-Dollar vereinigt also immer noch mehr oder weniger die drei wesentlichen

Attribute des Geldes: Wertmaßstab der Waren, Zirkulations- und Zahlungsmittel sowie

Mittel zur Schatzbildung. Das erlaubt es den USA, einen globalen Geldvorteil durchzu-

setzen. Sie können ihre Budgetdefizite weiterreichen und im Ausland Geld leihen, ohne

Angriffe auf ihr Geld fürchten zu müssen. Die Politik des «quantitative easing» der US-

Notenbank, also die Schöpfung von Geld, um Schuldtitel des amerikanischen Finanzmi-

nisteriums zu kaufen, verdeutlicht dieses Privileg. Zwar verzeichnete der US-Dollar  in

den letzten Jahren eine kontinuierliche Abwertung, und seine Rolle als Weltgeld schien

manchmal  zu schwanken. Dennoch  verfügen die USA  weiterhin als einzige über diese

Hegemonie des Geldes (Chesnais 2011: 120). Der  Euro  entstand  nicht  aus  einer  nationalen  Währung,  sondern  wurde  von  den

führenden Euro-Staaten  geschaffen. Das zentrale Ziel der Geldpolitik  der EZB besteht darin, die Inflation unter 2 % zu halten und einen homogenen  Markt für Bankenliqui- dität in Europa zu schaffen. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt verordnet den Ländern Haushaltsdisziplin. Die Eurozone übt den Druck der wirtschaftlichen Anpassungen vor allem  auf  den  Arbeitsmärkten  aus.  Die  Wettbewerbsfähigkeit  auf  dem  Binnenmarkt hängt vom Produktivitätswachstum und den Arbeitskosten im jeweiligen Land ab. Der Euro vermittelt dem deutschen Finanz- und Industriekapital starke Wettbewerbsvortei- le auf den europäischen und internationalen Märkten. Dem deutschen Kapital schien vor allem aber die potentielle Rolle des Euro als Reservewährung interessant, um sowohl den Zugang zu Kapital als auch das Kreditgeschäft weltweit zu verstärken (Lapavitsas et al.2011: 13). Der Euro erlangte jedoch nur ansatzweise den Status einer internationalen Reservewährung. Außerhalb der Eurozone  spielt er keine Rolle als Wertmaßstab. Der Euro ist zwar Zirkulations-  und Zahlungsmittel  im Euroraum,  im Raum des Weltmarktes, des

Erdöls und vieler anderer Produkte gilt jedoch der US-Dollar als Zahlungsmittel. Der Eu-

ro ist vor allem – und das war zweifellos das Ziel jener, die ihn vorangebracht haben – ein

Instrument  für Finanzanlagen. Das zeigt die massive Präsenz von  Pensionsfonds  und

Hedgefonds auf den Märkten europäischer Staatsanleihen (Chesnais 2011: 120). Einer der Gründe für die Unvollständigkeit des Euros im Vergleich zum US-Dollar  ist die Tatsache, dass er nicht von einem Staat getragen wird. Der Grad der Unabhängigkeit

der Europäischen Zentralbank macht dies noch offensichtlicher. Die Europäischen Verträge verbieten es der Europäischen Zentralbank und den nationalen Notenbanken  der Mitgliederstaaten, Kredite an Institutionen oder Organe der Gemeinschaft der Nationalstaaten und an regionale Behörden zu verleihen (Art.110 des Maastricht-Vertrags und

Art.123 Abs.1 AEUV  des Vertrags von Lissabon). Zwar kauft die Europäische Zentral-

bank Staatsanleihen auf den Sekundärmärkten. Sie kann diese aber nur über Zweckge-

sellschaften der sogenannten Rettungsschirme kaufen. Im Widerspruch zu ihren eigenen

Bestimmungen hat die EZB auch provisorisch akzeptiert, dass die Banken, wenn sie bei

ihr frisches Geld nachfragen, Wertpapiere von minderer Qualität hinterlegen, einschließ-

lich niedrig bewerteter Staatsanleihen (Chesnais 2011: 121). Die Unternehmen mit der höchsten Produktivität können die Vorteile eines einheitlichen Währungsraums am ehesten nutzen und den anderen Wettbewerbern ihre Bedingungen auferlegen. In der Tat konnten die deutschen Unternehmen  den durch den gemeinsamen   Währungsraum   verschärften   Wettbewerbskampf   für  sich   entscheiden.

Deutschland  hielt die Lohnstückkosten  niedirg (Abbildung  8). Die  geschwächten  Ge-

werkschaften waren nicht in der Lage, dem Exportmodell eine Alternative entgegenzu-

setzen. Der  niedrige Preis des Euro  reduziert zudem  die Preise der deutschen  Waren

außerhalb des Euroraums (Lapavitsas et al. 2011: 16f.). In den peripheren Ländern führte die verringerte Wettbewerbsfähigkeit zu andauernden Leistungsbilanzdefiziten. Doch  die Überschüsse  Deutschlands  stammen nur zu ei-

nem geringen Teil aus diesen Ländern. In dieser Konstellation baute sich eine zunehmend

tiefere  Kluft  auf  zwischen  den  exportstarken  Ländern  Deutschland,  Österreich,  der

Schweiz, den Niederlanden  sowie den skandinavischen Ländern einerseits und Defizit-

ländern wie Spanien, Portugal, Italien und Griechenland andererseits (Abbildung 9). Die

Kapitalimporte  der peripheren Länder eröffneten dem Finanzkapital ein interessantes Feld von Anlagemöglichkeiten in Staatsanleihen und Schuldtitel. Die Zinserträge, zu de- nen sie berechtigen, beruhen letztlich auf einer Umverteilung des von den jeweiligen Ge- sellschaften erarbeiteten Reichtums.

Trotz des gemeinsamen Währungsraums und des durch den Euro hervorgerufenen Wettbewerbsdrucks gibt es keine gemeinsame Fiskalpolitik der Euroländer. Allerdings ähneln sich die Formen der Budget- und Lohnpolitik in den verschiedenen Ländern: Senkungen der Sozialausgaben und der Löhne für Staatsangestellte, Reduktion des Per- sonalbestandes und Kürzungen bei den Altersversicherungen, seien sie per Kapitalde- ckungsverfahren oder Umlageverfahren organisiert. Auch die am stärksten von der Kri- se betroffenen Länder wie Griechenland  und Portugal haben diese Politik angewendet und sind nunmehr in einer infernalischen Spirale gefangen, die die armen Schichten der Bevölkerung und die Jungen am meisten trifft. Der Anteil der öffentlichen Schulden am Bruttoinlandsprodukt stieg in diesen Ländern stark an, und die Wirtschaftsleistung nimmt weiter ab. Der Rückgang der Produktion und die Zunahme  der Arbeitslosigkeit haben auch zu einem Rückgang der Steuereinnahmen geführt. Die Höhe der Zinssätze, die von den Banken, den Anlagefonds und den Hedgefonds gefordert werden, steigt bei jeder Neuausgabe von Staatsanleihen. Die am stärksten verschuldeten Staaten stecken so- mit in einem Schraubstock, der immer fester angezogen wird. Alle zwei bis drei Monate verlangen die Ratingagenturen, die Finanzinvestoren und die europäischen Institutio- nen, die Ausgabenkürzungen und die Lohnkürzungen  noch eine Umdrehung  weiter zu schrauben. Die Arbeitslosigkeit steigt weiter, die Einnahmen aus der Mehrwertsteuer, die in vielen Ländern Europas eine der wichtigen Steuereinnahmen ist, sinken, wodurch das Defizit trotz einer Senkung der Ausgaben weiter ansteigt. Die nachfolgende Ausgabe von Staatsanleihen wird nochmals etwas teurer als die vorangegangene und die laufende Zinsbelastung nochmals etwas schwerer. Die Hedgefonds  haben von der Schwäche der verletzlichsten Länder stark profitiert und konnten die Zinssätze weiter in die Höhe trei- ben. Die Fortsetzung dieser Politik wird die Entwertung von Kapital, die gesellschaftli- chen Kosten und das Leid der Bevölkerung unweigerlich weiter vorantreiben.


Abbildung 8: Entwicklung der nominalen  Lohnstückkosten: ausgewählte Länder im Ver- gleich. Quelle Lapavitsas (2011: 15) auf der Basis der AMECO-Datenbank

 

Abbildung 9: Leistungsbilanzdefizit ausgewählter Länder in % des BIP. Quelle Lapavitsas

(2011: 17) auf der Basis des BoPs Yearbook (BPM5)


3.3 Rettungsschirme  für die Banken

Die ungezügelte Expansion verschiedener Kreditformen, namentlich im Immobilienbe-

reich in verschiedenen Ländern sowie in den mit starken Risiken behafteten Anlagefor-

men, mündete schließlich in eine Bankenkrise. Die Staaten griffen jedoch wiederholt massiv ein, um die Banken und das Finanzsys-

tem zu retten. Bereits im Herbst 2008 erhielten sie umfassende Hilfen, als Lehman Brothers in Bankrott ging. Seither säuberten die europäischen Banken ihre Aktiva nicht von toxischen Papieren und tätigten weiterhin hochriskante Anlagegeschäfte. Sie überzeug-

ten im Frühjahr 2010 die Regierungen Deutschlands,  Frankreichs und einiger anderer

Staaten, ebenso die EU  und die Europäische  Zentralbank davon, dass das Risiko eines

Zahlungsausfalls Griechenlands ihre eigenen Bilanzen in Gefahr bringen würde. Sie ver-

langten, unter einen Schutzschirm gestellt zu werden, der sie vor den Konsequenzen ih-

rer eigenen Anlagestrategien schützen soll. Am 9. Mai 2010, nach langen und angespannten Verhandlungen, beschlossen die Fi-

nanzminister der 27 EU Länder (ECOFIN Council)  die Etablierung einer Europäischen

Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) als provisorischen Stabilisierungsmechanismus mit

einer Laufzeit bis 2013.  Diese  Aktiengesellschaft gleicht einer speziellen Zweckgesell-

schaft (Special Purpose Vehicle) von der Art, wie sie den Banken bereits während der Im-

mobilienblase erlaubt hat, ihre risikobehafteten Wertpapiere aus den Bilanzen zu entfer-

nen. Der Kreditrahmen wurde auf 440 Milliarden Euro angesetzt. Die EU garantiert di-

rekt 60 Milliarden Euro, und der IWF steuert weitere Kredite bis zu 250 Milliarden Euro

bei. Die Garantiesumme beläuft sich auf insgesamt 780 Milliarden Euro.

Die EFSF finanziert sich über Anleihen bei den Banken, die durch die Eurostaaten ent-

sprechend ihren Einlagen in der Europäischen Zentralbank garantiert werden. Seit sei-

ner Schaffung haben die Banken ein Spiel getrieben, das darin besteht, dem Fonds Mit-

tel zu leihen und sich gleichzeitig bei der Europäischen Zentralbank zu einem Zinssatz

von rund 1%  zu refinanzieren und anschließend das Geld Griechenland  und anderen

Ländern zu wesentlich höheren Zinssätzen auszuleihen. Griechenland  wurde sogar ge-

zwungen, sein vom Fonds geliehenes Geld mit einem Zinssatz zwischen 5 % und 6 % zu

bezahlen. Was die Medien  als Ausdruck der Solidarität zwischen den Euroländern be-

zeichnen, sind Mechanismen zur Bereicherung der Rentiers und Aufblähung des fiktiven

Kapitals. Deutschland und Österreich leihen Griechenland oder Portugal keine Mittel di-

rekt. Es gibt weiterhin keinen Transfer von Reichtum innerhalb der Eurozone. Die Schaf-

fung des Stabilisierungsfonds hat die Schuldenlast Griechenlands und Portugals nicht re-

duziert und hat somit auch die spekulativen Attacken gegen die verletzlichsten Länder

auch nicht gestoppt (Chesnais 2011: 121; EFSF 2011; Lapavitsas et al. 2011: 30ff.; Millet

und Toussaint 2012: 53–60).

Da das Volumen des EFSF nicht ausreichte, um die Krise an den Finanzmärkten ein-

zudämmen,  beschloss der Europäische  Rat im Dezember  2010, den EFSF durch einen

noch  weitergehenden  Stabilitätsmechanismus,  den  Europäischen  Stabilitätsmechanis-

mus (ESM)  zu ersetzen, der ab Juli 2012 in Kraft treten und eine dauerhafte Einrichtung

sein soll. Das maximale Kreditvolumen beläuft sich auf 500 Milliarden Euro. Die ESM-Mitgliedstaaten sollen 80 Milliarden Euro während eines Zeitraums von fünf Jahren als Grundkapital  einzahlen. Der ESM-Fonds  kann, wie die EFSF, eigene Anleihen bis zur Höhe  von 420 Milliarden Euro ausgeben, für die die Mitgliedstaaten bürgen. Der IWF stellt gegebenenfalls weitere 250 Milliarden  Euro als Kredite zur Verfügung.  Das Haf- tungskapital beläuft sich zunächst auf 700 Milliarden Euro, kann aber unbeschränkt er- höht werden. Der ESM kann auch direkt Staatsanleihen der Mitgliedsstaaten aufkaufen. Der ESM kann Notkredite und Bürgschaften vergeben. Überschuldete Mitgliedstaaten erhalten Kredite aber nur bei Einhaltung harter Bedingungen und der Durchführung ei- nes Strukturanpassungsprogramms, die zudem auch vom IWF gutgeheißen werden müssen (European Commission  2011; Lapavitsas et al. 2011:32).

Die  Europäische   Zentralbank  flankierte  die  Vorkehrungen  gegen  Schuldenkrisen durch Geldmarktoperationen  und den Aufkauf von Staatsanleihen auf den Sekundar- märkten. Die Notenbanken  kauften ebenfalls Anleihen auf den Sekundärmärkten. Mit dieser beispiellosen Krisenabwehr wollten die Regierungen den Kollaps Griechenlands sowie die Spekulationen auf die Zahlungsunfähigkeit weiterer verschuldeter EU Staaten, darunter auch das Schwergewicht Spanien, verhindern. Der Erfolg trat nicht ein. Im Ge- genteil, die Krise schreitet voran und breitet sich aus. Eine substantielle Entwertung des fiktiven Kapitals fand nicht statt. Im Gegenteil, die Rentiers erhalten weitere Garantien zur Bereicherung.

 

4 Die Verschuldungsspirale  in den südeuropäischen Ländern und die europäischen Rettungsschirme

Die kurze Skizze des Krisenverlaufs in einigen südeuropäischen  Ländern ist keine um- fassende Analyse. Sie verfolgt bloß das Ziel, die Verantwortung der Banken und des fi- nanziellen Anlagekapitals für die rasch wachsende Schuldenlast in diesen Ländern auf- zuzeigen.

Griechenland  ist von der Krise in der Eurozone am stärksten betroffen. Die Akteure auf den Finanzmärkten sind nur unter der Bedingung exorbitanter Zinszahlungen bereit, von Griechenland  ausgegebene Staatsanleihen zu kaufen. Der Zinssatz für zehnjährige Staatsanleihen wird von den Finanzmärkten täglich genau verfolgt und gilt als Indikator für die finanzielle Gesundheit der Staaten (Millet und Toussaint 2012: 53). Dieser betrug am  26. Juni 2012  rund  26 %,  nachdem  er Anfang März  sogar auf 38 %  gestiegen war (www. bloomberg. com).  Griechenland  wie auch Irland und Portugal sind vom  Markt langfristiger Anleihen abgeschnitten und Mitte Juni 2012 scheint diese Situation auf für Spanien eingetreten zu sein.

Nach Beginn der Krise reichten die westeuropäischen Geschäftsbanken das Geld, das sie sehr günstig von der EZB, der Bank of England und der Federal Reserve der USA so- wie den Geldmarktfonds in den USA erhalten hatten, an Länder wie Griechenland, Por- tugal, Spanien und Italien weiter. Noch bis Ende 2009 liehen die Banken und institutio- nelle Anleger Griechenland ohne zu zögern große Summen. Am 20. Oktober 2009 emit- tierte Griechenland  Staatsanleihen für drei Monate  zu einem Zinssatz von nur 0,35 %. Die Banken motivierten die griechische Regierung sogar wesentlich mehr als die ur- sprünglich vorgesehenen 1,5 Milliarden Euro zu leihen. Am selben Tag emittierte die Re- gierung eine sechsmonatige  Anleihe  zu einem  Zinssatz von  0,59 %.  Die  Ratinggesell- schaften sprachen Griechenland und den Banken, die das Geld liehen, gute Bewertungsnoten aus. Nur zehn Monate  später musste die Regierung für sechsmonatige Anleihen den Anlegern eine Rendite von 4,65 %  einräumen. Am 11. März 2010 nahm Griechen- land die seither letzte zehnjährige Staatsanleihe auf und zwar zu einem Zinssatz von be- reits 6,25 %.  Anschließend  folgten die spekulativen Attacken und die Intervention der Troika (Millet und Toussaint 2012: 54f.).

Seit dem Ausbruch der Verschuldungskrise im Frühjahr 2010 hat Griechenland  nur noch jeweils für drei, sechs oder maximal zwölf Monate  Geld auf den Anleihemärkten geliehen und dabei Zinssätze zwischen 4 % und 5 % bezahlt. Für den Rest des Finanzbe- darfs hat sich das Land im Rahmen seines im Mai 2010 mit der Troika (Europäische Uni- on, Europäische Zentralbank und Internationaler Währungsfonds) abgeschlossenen Me- morandums an die Regierungen der Eurozone und den IWF gewendet. Die Regierungen der Eurozone haben Griechenland eine Anleihe von sieben Jahren zu 5,5 % aufgezwun- gen. Diesen Zinssatz haben sie im Juli 2011 reduziert, als offensichtlich wurde, wie skan- dalös diese Höhe  war. Griechenland  kann sich nicht direkt bei der Europäischen  Zen- tralbank finanzieren. Diese kauft griechische Schuldtitel nur von den privaten Banken auf den Sekundärmärkten (Millet und Toussaint 2012: 56).

Die Geschäftsbanken tragen also eine erhebliche Verantwortung für die exzessive Ver- schuldung Griechenlands. Zunächst haben sie aktiv dazu beigetragen, Griechenland in die Falle untragbarer Schulden zu stürzen. Anschließend verlangten sie so hohe Zinsen, dass das Land keine Anleihen von länger als einem Jahr mehr aufnehmen konnte. Die französischen und deutschen Banken haben im Zuge der Zuspitzung der Krise ihre Ex- position gegenüber griechischen Schuldtiteln massiv reduziert. Doch die Krise hat sich längst ausgebreitet. Irland und Portugal mussten ebenfalls unter den europäischen Ret- tungsschirm. Bereits im Sommer 2011 bedrohten die hohen Zinssätze auch zunehmend die Refinanzierung von Spanien und Italien. Im Sommer 2012 ist der Schwerpunkt der Bankenkrise in Spanien angekommen.  Faule Hypothekenkredite  in der Höhe  von ver- mutlich mehreren hundert Milliarden Euro lagern in den Büchern der Banken. Auch hier ist der Staat im Begriff, das fiktive Kapital abermals aufzublähen, die Rentiers zu schüt- zen und anschließend die leidvolle Rechnung den Lohnabhängigen aufzuzwingen.

In Griechenland sind die Konsequenzen der zugunsten der Finanzanleger durchge- setzten Politik am sichtbarsten. Die von der Eurogruppe und der Europäischen Zentral- bank Griechenland aufgezwungene Austeritätspolitik hat besonders schwerwiegende Auswirkungen. Das Land befindet sich seit 2007 in der Krise und verzeichnet einen mas- siven Wirtschaftsrückgang. Die Schulden belaufen sich trotz Schuldenschnitt von über

100 Milliarden Euro im März 2012 mittlerweile auf rund 160 % des BIP. Das Risiko der Insolvenz besteht weiterhin. Die finanziellen Anleger wollen neue Garantien der griechi- schen Regierung, der Europäischen Union und der Europäischen Zentralbank.

Die Krise der öffentlichen Verschuldung hat Ende 2009 in einem der kleinsten Länder Europas begonnen, als ob die Finanzinvestoren die Fähigkeit der Europäischen  Union und der Europäischen Zentralbank testen wollten, ihnen Widerstand zu leisten. In Grie- chenland, wie anderswo, hat die Krise zu einem Rückgang der Staatseinnahmen geführt. Damit wurde es unmöglich,  noch länger den Zustand der öffentlichen Finanzen – die Zahlen wurden von der Regierung Kostas Karamanlis mit Unterstützung von Goldman Sachs 2001 gefälscht – zu verbergen. Die Mechanismen  der steigenden öffentlichen Verschuldung sind allerdings dieselben wie in anderen Ländern auch. Die Steuersenkungen auf Einkommen,  auf Vermögen  und der Unternehmenssteuer  haben die Staatseinnah- men reduziert und das Defizit vergrößert, das wiederum durch eine Zunahme  der Ver- schuldung finanziert wurde. Die Geschenke  für die Reichen waren hier vielleicht sogar noch wichtiger als anderswo.

Die Schulden im Privatsektor wurden durch Bankkredite alimentiert und stiegen in den 2000er Jahren ebenfalls stark an. Die Haushalte, denen die Banken und der Einzel- handel verlockende Darlehen versprachen, verschuldeten sich, ebenso die Unternehmen und die Immobilienentwickler. Die Banken refinanzierten sich, indem sie Kredite bei an- deren Banken in Europa aufnahmen. Die Abbildungen 10 und 11 zeigen, dass die Kapi- talflüsse nach Griechenland und Spanien zum größten Teil die Form von Anlagekapital, nicht von Direktinvestitionen, annahmen (Lapavitsas et al. 2010: 14). Das war ein wich- tiger Aspekt des Wachstums  in beiden Ländern. Dank dem starken Euro und der Refi- nanzierung auf den Anleihemärkten in der Eurozone konnten die griechischen und spa- nischen Banken ihre internationalen Aktivitäten ausdehnen und zu niedrigen Kosten ih- re nationalen Aktivitäten finanzieren (Chesnais 2011: 107f.).

Abbildung 10: Zusammensetzung der Kapitalflüsse nach Griechenland in Millionen USD. Quelle Lapavitsas et al. (2010: 14), gestützt auf IMF IFS

Abbildung 11: Zusammensetzung der Kapitalflüsse nach Spanien in Millionen USD. Quel- le Lapavitsas et al. (2010: 14), gestützt auf IMF IFS

 

Das Wachstum  der Kredite verlief in zwei Phasen. Von Dezember  2005 bis März 2007 stieg das Volumen der Kredite um 50 % von 80 Milliarden auf 120 Milliarden USD. Die zweite Phase setzte mit der Krise ein. Von 2007 bis 2008 platzierten die europäischen Ban- ken, vor allem deutsche, französische, aber auch belgische, niederländische, britische, lu- xemburgische  und  sogar irische Banken, dank den ihnen von  den Notenbanken  (der FED, EZB und Bank of England) im Rahmen der Rettungspläne günstig zur Verfügung gestellten Liquidität, weiterhin Kreditgeld in Südeuropa, sowohl bei den Staaten als auch bei den privaten Haushalten. Als die Hypothekenkrise in den USA sich dem Höhepunkt näherte, stiegen die Kredite zwischen  Juni 2007 und  Sommer  2008 abermals stark an (+33 %) – von 120 auf 160 Milliarden USD – und verblieben auf diesem Niveau bis zum Ausbruch der Krise der Staatsschulden. Die großen Banken in Europa nutzten die ihnen von den Notenbanken  zur Verfügung gestellte Liquidität, um das Kreditvolumen weiter aufzublähen (Toussaint 2011). Sie haben das Boot beladen, bis es Schlagseite bekam, als die Tragweite der Defizite bekannt wurde und die offene Spekulation auf die Refinanzie- rungsraten einsetzte, die Griechenland, Portugal, Irland und danach auch Spanien und Italien abverlangt wurden (Chesnais 2011: 108).

 

5 Die Krise und die Debatte über die illegitimen Schulden

5.1 Die illegitimen Schulden in Griechenland

Die  Zinszahlungen  der  Staaten  bewirken  einen  beständigen  Fluss  von  erarbeitetem

Reichtum an die Finanzanleger. Das bedeutet, dass keine wirklich signifikante Verände-

rung der Reichtumsverteilung zugunsten der Lohnabhängigen stattfinden kann, solange

man nicht den Schuldendienst und letztlich die öffentliche Verschuldung selbst in Frage

stellt. Die verstärkte Besteuerung der Gewinne und der hohen Einkommen, zweifellos ei-

ne wichtige Maßnahme  jeder Neuordnung  des Steuerwesens, wird nicht wirklich wirk-

sam, wenn man nicht zugleich die Schuldenfrage anpackt (Chesnais 2011: 16). Die strukturellen Ungleichgewichte  in Europa und die Tragweite der Finanz- und Währungskrise lassen innerhalb der kapitalistischen Ordnung  in der kommenden  Zeit zwei Entwicklungen plausibel erscheinen, die zudem auch teilweise miteinander kombi- niert werden können.  Möglicherweise  werden die schwächsten  und  am stärksten ver- schuldeten Länder aus dem Euro hinausgedrängt und zwar zu unhaltbaren Bedingungen für einen Großteil der Bevölkerung in diesen Ländern. Gleichzeitig ist nicht auszuschlie- ßen, dass die herrschenden Kreise der Zentrumsländer sich für eine gemeinsame Fiskal- politik und eine Transferunion mit der Dynamik  eines autoritären europäischen Qua- sistaats entscheiden. Beide Perspektiven sind aus einer emanzipatorischen  Perspektive abzulehnen.

Alternativ stehen ein progressiver Ausstieg Griechenlands und möglicherweise ande- rer Länder aus der Eurozone zur Diskussion. Eine Forschergruppe in London um Costas Lapavitsas hat hierzu wichtige Überlegungen angestellt (Lapavitsas et al. 2011) (Lapavit- sas 2011; Kaltenbrunner 2012). Autoren wie Onaran  (2012)  und Husson  (2011)  argu- mentieren demgegenüber für eine linke gesamteuropäische Strategie, die nicht auf den Ausstieg aus der Eurozone setzt. Diese wichtige Diskussion kann hier nicht erörtert wer- den. Die jüngste Entwicklung deutet jedoch darauf hin, dass die ökonomischen Un- gleichgewichte und geografische Ungleichheiten  in Europa so groß sind, dass ein Aus- stieg peripherer Ländern aus der Eurozone durchaus auch aus einer internationalisti- schen und emanzipatorischen Perspektive eine erwägenswerte Option sein kann (Becker

2012). Hier geht es nicht darum, sich für oder gegen den Ausstieg eines Landes aus dem Eu-

ro auszusprechen, sondern zu überlegen, wie die gesellschaftlichen Auseinandersetzun-

gen in Europa so zusammengeführt  werden können, dass eine demokratische und ge-

sellschaftliche Kontrolle der Banken und somit auch des Euro möglich wird. In einer sol-

chen Perspektive ist die Schuldenfrage entscheidend. Es ist nach Möglichkeiten  zu su-

chen, wie die Schuldenlast demokratisch überprüft werden kann. Schulden, die sich als

nicht legitim erweisen, sind radikal in Frage zu stellen. Damit einher muss auch eine Dis-

kussion über die Rolle der EZB und der Geschäftsbanken gehen, und zwar in einer Per-

spektive, die ihre gesellschaftliche Kontrolle ins Auge fasst. Wenn man für die Nichtbe-

zahlung der illegitimen Schulden  in Griechenland  oder Portugal eintritt, bedeutet das

konsequenterweise allerdings auch, dass man die europäischen Verträge und die EU ins-

gesamt in Frage stellt (Chesnais 2011). Die  Höhe  der öffentlichen Schulden,  die durch  die Wirkung  verschiedener  finanz-

technischer Hebel noch weiter gesteigert wurde, ist nicht nur wegen der systemischen Ri-

siken für das gesamte Finanzsystem wichtig. Sie wirft auch die Frage nach der Natur die-

ser Schulden auf, zumal Zinsen bedient und zurückbezahlt werden müssen. Aus der Per-

spektive der Mehrwertverteilung  ist es relevant zu prüfen, wie groß der Anteil der For-

derungen ist, die auf Sparguthaben beruhen, und wie groß der Anteil der Schulden, die

aus Kreditbeziehungen zwischen den Banken entstanden sind, deren Ziel nur darin be-

steht, ihre Profite zu steigern. Dem Prinzip, die Schulden zu bezahlen, liegt implizit die

Vorstellung zugrunde,  dass die ausgeliehenen Summen  Ergebnisse eines langen Spar-

prozesses der Lohnabhängigen sind. Das kann bei Pensionsfonds der Fall sein, trifft aber

bei Banken und Hedgefonds nicht zu. Wenn Finanzunternehmen den Staaten Geld leihen und Obligationen kaufen, handelt es sich um fiktive Summen,  zu denen heute die Operationen des Shadowbanking (der Kreditschöpfung durch Fonds, die kaum einer Kontrolle unterliegen) zählen. Der Transfer von Reichtum, der durch Arbeit entsteht, verläuft tatsächlich in die umgekehrte Richtung. Die öffentlichen Schulden und der Schuldendienst funktionieren als Finanzpumpe zu den Rentiers und sind Bestandteil ei- ner umfassenden gesellschaftlichen Umverteilung. Allein schon diese ökonomischen Merkmale der geliehenen Summen  stellen die Legitimität der öffentlichen Schulden in Frage. Die konkrete Überprüfung  des Schuldenmechanismus  ist ein zentrales Anliegen bei der Forderung nach einem öffentlichen Schuldenaudit (Chesnais 2011: 103).

Die Forderung nach einem Schuldenaudit wird in Griechenland, Spanien, Portugal, Italien und Frankreich von zahlreichen politischen Organisationen und sozialen Bewe- gungen vertreten. Das internationale Netzwerk CADTM (Comité  pour l’Annulation de la Dette du Tiers Monde)  führt auf der Grundlage der Erfahrungen von Bewegungen für einen Schuldenerlass für die Länder der Dritten Welt eine europaweite Kampagne für ein Schuldenaudit. Ein von heterodoxen Ökonominnen und Ökonomen  in Frankreich lan- ciertes und mittlerweile von rund 6600 Personen unterzeichnetes Manifest stellt in den vorgeschlagenen Maßnahmen  9 und 14 die Bezahlung eines Teils der Schulden in Frage (Askenazy et al. 2010).

Der  Begriff der odious debt respektive  der verwerflichen  Schuld  geht auf  die  Zwi- schenkriegszeit zurück. Die erste Definition stammt von Alexander Sack, einem russi- schen Juristen und Professor für internationales Rechs in Paris, der bereits 1927 ein Kon- zept formulierte (Sack 1927). Odious debt bezeichnet eine Schuld, die eine Diktatur oder ein autoritäres Regime für Ziele eingegangen ist, die nicht im Interesse der Nation und der Bürger liegen. Breiter und aktueller gefasst sind verwerfliche Schulden solche, die ge- gen die Interessen der Bevölkerung eines Staates eingegangen wurden, und zwar ohne ihr Einverständnis, aber in voller Kenntnis der Folgen auf seiten der Gläubiger. Die griechi- sche  Militärdiktatur  verschuldete  das Land  und  vervierfachte  die  Schulden  zwischen

1967 und 1974 (Toussaint 2011). Sie sind dann unter den nachfolgenden zivilen Regie- rungen ständig gestiegen, die ausgeliehenen Summen haben die verbreitete Korruption weiter verstärkt. In der Verfassung von 1975 ist die Steuerbefreiung von griechischen Reedern,  ihren  Familien  und  ihren  Gesellschaftern  verankert. Ein  derartiges Privileg kann alleine schon als konstitutives Element für eine verwerfliche Schuld betrachtet wer- den (Chesnais 2010). Man weiß seit Herbst 2009, dass die Regierung der Nea Demokra- tia des ehemaligen Premierministers Karamanlis die Zahlen gefälscht hat, um die Trag- weite der Korruption zu verschleiern und gegenüber der Europäischen Union und der Europäischen Zentralbank und den Investoren ein sauberes Image zu bewahren. Die nachfolgende Regierung Papandreou hat Karamanlis juristisch nicht belangt. Die wich- tigsten Ausgaben wurden für die Durchführung der Olympischen Spiele 2004 und vor al- lem für Waffenkäufe getätigt, ohne dass man die Höhe der zahlreich geflossenen Kom- missionszahlungen kennt (Chesnais 2011: 106). Diese Sachverhalte entsprechen alle die- sem aktuellen Verständnis von illegitimen Schulden. Griechenland zählte zu den fünf größten Waffenimporteuren in Europa in den Jahren

2005 bis 2009. Der Kauf von Kampfflugzeugen (26 F16 aus den USA und 25 Mirage 2000

aus Frankreich) umfasste bereits 38 % der Importe dieser Zeit. Allein der Kauf der Mirage kostete 1,6 Milliarden Euro. Hinzu kommen Käufe von Panzern, Helikoptern und Ra- ketensystemen. Diese Waffenkäufe sind eine wesentliche Komponente der illegitimen Schulden. Die Verschuldung gegenüber den Anlagefonds und Banken aus denselben Ländern wie die Waffenverkäufer weist zudem auf Formen der Unterordnung  hin, wie sie für den Imperialismus charakteristisch ist (Chesnais 2011: 107).

 

5.2 Grundsätzliche  Erwägungen

Die  Lohnabhängigen  sind nicht verantwortlich  für die Schuldenkrise  der Staaten, die

durch die systematische Unterfinanzierung der öffentlichen Haushalte und die Soziali-

sierung der Verluste im Finanzsektor hervorgerufen wurde. Dazu kommt die Vergeudung

öffentlicher Ressourcen durch Militärkäufe und Korruption. Ein Großteil der Schulden

ist demnach nicht legitim. Ein Teil der Schulden ist unter schändlichen Bedingungen zu-

sammen gekommen. Daher ist es nicht legitim, diese Schulden über Steuern und Lohn-

abzüge zu finanzieren. Der erste Schritt zur Infragestellung der illegitimen Schulden ist ein einseitiges Mora-

torium der Bezahlung der Zinsen und die Durchsetzung einer Überprüfung  der Schul-

den durch die demokratisch legitimierten Strukturen eines Landes und durch Vertreter

verschiedener sozialer Bewegungen, die international koordiniert agieren. Es ist zu überlegen, wie sich Bürgerinnen und Bürger das Recht erkämpfen können, Zutritt  zu  allen relevanten  Informationen  und  Buchführungen  zu  erhalten, die  Auf-

schluss über die Entstehung und die Entwicklung der öffentlichen Verschuldung geben.

Ein öffentliches Auditverfahren prüft die Entstehung der verschiedenen Schuldenposi-

tionen. Im Rahmen einer öffentlichen Debatte kann überprüft werden, welche Schul-

denpositionen  für sinnvolle Projekte eingegangen wurden und legitim sind. Schulden,

die aus riesigen Rüstungsgeschäften stammen und Schulden, die von unverantwortlich

hohen Zinssätzen der Kreditgeber, seien dies Geschäftsbanken, der IWF oder europäische

Institutionen, herrühren, sind nicht legitim und sollten nicht bezahlt werden. Das erin-

nert uns an die erfolgreiche Restrukturierung der Schulden durch Ecuador im Jahr 2007. In einem solchen Prozess ist eine weitreichende und breite öffentliche Debatte über die

Rolle der Banken und der Finanzinstitutionen nötig. Wie können die Banken zu wirkli-

chen Mittlern transformiert werden, damit sie gesellschaftlich nützliche Projekte finan-

zieren? Es geht hierbei um die Entwicklung von Vorschlägen und Übergangsforderungen

zur gesellschaftlichen Aneignung der Kreditfunktion durch die Lohnabhängigen und die

organisierten Bürgerinnen und Bürger. Es geht also darum, die Perspektive einer gesell-

schaftlichen Aneignung der Banken in den Vordergrund zu schieben. Diese Perspektive

beinhaltet ihre radikalen Verkleinerung und Umformung  zu öffentlichen Betrieben, die

wirklich demokratisch kontrolliert werden. Die Gewerkschaften,  sozialen Bewegungen  und kritischen Forscher sollten der Ver-

schuldung  auf allen Ebenen,  einschließlich der Gemeinden,  Städte, Regionen,  Länder

und der internationalen Ebene, eine größere Aufmerksamkeit beimessen und sich inten-

siv und radikal mit dem Kreditsystem auseinandersetzen. Das gesamte europäische Projekt ist in einer existenziellen Krise. Die politischen Eliten im Dienste des miteinander verwobenen Industrie- und Finanzkapitals, unabhängig

davon, ob sie konservative, liberale oder sozialdemokratische Parteien für ihre Karriere durchlaufen haben, sind nicht in der Lage, dieses Projekt zu retten. Sie sind nicht in der Lage, ein gemeinsames Europa voranzubringen. Die europäische Perspektive muss neu erfunden und aufgebaut werden, um nationalistischen Verlockungen entgegenzutreten. Die gegenwärtigen Institutionen haben keine oder eine höchst beschränkte demokrati- sche Legitimität. Die Perspektive der gesellschaftlichen Aneignung des Finanzsektors auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene ist durch die Forderung nach der euro- paweiten Wahl einer Konstituierenden Versammlung zu ergänzen; sie soll den Auftrag er- halten, eine gemeinsame Verfassung auszuarbeiten (vgl. Zeller 2006).

Literatur

Altvater, Elmar (2010): Der große Krach oder die Jahrhundertkrise von Wirtschaft und Finanzen von Poli- tik und Natur. Münster: Verlag Westfälisches Dampfboot.

Askenazy, Philippe/Coutrot, Thomas/André, Orléan (2010): Manifest der bestürzten Ökonomen: Die Schuldenkrise in Europa: 10 offensichtliche Fehler und 22 Maßnahmen um die Debatte aus der Sackgas- se zu führen, Zugriff: 19. Juni. http://atterres. org/page/manifesto-german.

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