Frankreich: Eine neue, VI.Republik

Welche Neugestaltung braucht die Demokratie, die Republik? Es hat eine Debatte um eine neue, eine VI. Republik begonnen.

Revolten in 300 Städten, unter Beteiligung von zahlreichen, in ihrer großen Mehrheit der Polizei unbekannten Jugendlichen. Mobilisierung vieler Eltern, Sozialarbeiter, Lehrer, lokaler Vereinigungen, gewählter Abgeordneter und Aktivisten linker Organisationen, um Schlimmeres zu verhüten und den Dialog herzustellenÂ… Es geht nicht um ein medial aufgebauschtes Randphänomen.

Die betroffenen Stadtviertel haben vieles gemeinsam: Sie gehören zu den "banlieues", wo im Durchschnitt die Arbeitslosigkeit meist zwischen 30 und 40% liegt, wo ein großer Teil der Jugend einer doppelten Diskriminierung ausgesetzt ist: massive soziale Existenzunsicherheit und Ausschluss aus der Gesellschaft auf Grund ihrer Herkunft aus Einwandererfamilien, die nicht aus dem christlichen Europa kommen. Ständige Provokationen, Kontrollen, Demütigungen im täglichen Leben, von den Äußerungen des Innenministers, der Nummer 2 der Regierung, haben den Boden für Revolten vorbereitet. Angegriffen werden Gegenstände, von deren Besitz oder Nutzung sie ausgeschlossen sind: Autos, staatliche und öffentliche Einrichtungen, in den Stadtvierteln angesiedelte Betriebe - die meist Förderungen für diese Standorte bekommen, ohne aber die im Umkreis lebende Jugend zu beschäftigen.

Wenn auch im allgemeinen Rassismus (von oben) angeheizt wird, so überwiegt in den betroffenen Vierteln doch weitgehend das Verständnis für die Probleme der Jugend. Es gibt massiven Widerstand dagegen, in die allgemeine Stigmatisierung einzustimmen. Viele Eltern sagen: "Unsere Kinder haben jahrelang zugesehen, welche Opfer wir brachten, um ihnen die Integration zu ermöglichen, und jetzt stellen sie fest, dass das nicht gelungen ist und auch wir Eltern einfach nicht mehr durchkommen. Es gibt keinerlei Perspektiven. Das können sie nicht mehr aushalten."

70% der Jugendlichen mit Schulabschluss aus dieser Bevölkerungsgruppe wissen von Diskriminierung bei der Arbeitsplatzsuche zu berichten. In diesen Tagen muss sich jetzt zum ersten Mal der Unternehmerverband öffentlich der Diskussion stellen. Andere stellen fest dass Jugendliche nach Jahren der Selbstzerstörung durch Drogenkonsum jetzt ein aktiveres Verhalten zeigen. Wenn auch die große Mehrheit auf Herstellung von Ruhe und Ordnung drängt - und die Gefahr, die der Ausnahmezustand für die Demokratie bedeutet, wird auch von links unterschätzt -, so ist das nicht gleichzusetzen mit einer massiven Verurteilung der Jugend.

Die Diskussion hat sich rasch politisiert. Man weiß, wenn nichts Entscheidendes unternommen wird, stehen die nächsten Explosionen bevor. Immer mehr lautet die Frage nicht: "Welche besonderen Maßnahmen müssen für die ›banlieues‹ ergriffen werden?", sondern: "Welche Zukunft hat diese Republik, was heißt - oder sollte heute heißen - ›liberté, égalité, fraternité‹"? Die französische Gesellschaft wird mit ihrer wenig aufgearbeiteten Kolonialgeschichte konfrontiert, mit einer Jugend, die ihre von der Republik ausgestellten Personalausweise vorzeigt und einen Platz für sich in dieser Republik fordert. Die Revolte der Jugend aus den "banlieues" stützt nicht die Forderung nach mehr Rechten für ihre "communauté" - auch wenn Sarkozy die religiösen Orientierungen in den Gemeinden bemüht, um die Gesellschaft zu spalten -, sondern sie stellt die Frage nach der Zukunft der französischen Gesellschaft, nach der Politik.

Die Organisationen der Linken sind werden verstärkt mit unbewältigten Fragen konfrontiert. Welcher neuen Politik bedarf es, um wirklich die Verhältnisse zu verändern, nachdem auch die Regierung der "gauche plurielle" keine sehr viel andere Politik verfolgt hat als ihre Vorgänger? Welche breit angelegten Initiativen gegen Diskriminierung können ergriffen werden? Auch im linken Spektrum wird deren Bedeutung oft unterschätzt. Welche Neugestaltung braucht die Demokratie, die Republik? Es hat eine Debatte um eine neue, eine VI.Republik begonnen. Dabei spielen die Erfahrungen der letzten Monate eine große Rolle: Bei der Volksabstimmung über die EU-Verfassung gab es eine Mehrheit von 55%, bei den Regional- und Europawahlen wurde die Regierung delegitimiert, es finden massive Demonstrationen, Streiks und soziale Kämpfe statt -, aber die Politik ändert sich nicht.

Die Krise der neoliberalen Hegemonie konfrontiert die französische Gesellschaft mit einer äußerst brisanten Situation. Das Risiko nach rechts abzugleiten, in populistische, autoritäre politische Antworten, ist groß. Anderseits gibt es ein großes Potenzial für gesellschaftliche Veränderung. Neue politische Inhalte und neue Wege der politischen Veränderung müssen dringend erarbeitet - auf breiter Basis, unter Einbeziehung der Jugend.