…und andere Grundrechte in kirchlichen Einrichtungen
Zu den für alle geltenden Gesetzen gehören doch sicherlich die Grundrechte unserer Verfassung, so möchte man meinen, so daß diese auch innerhalb der kirchlichen Einrichtungen Geltung beanspruchen.
Nach Art. 140 GG gelten die Art. 136 ff. der Weimarer Reichsverfassung weiter. Dort heißt es in Art. 136: "Die bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten werden durch die Ausübung der Religionsfreiheit weder bedingt noch beschränkt. Der Genuß bürgerlicher und staatsbürgerlicher Rechte sowie die Zulassung zu öffentlichen Ämtern sind unabhängig von dem religiösen Bekenntnis." Nach Art. 137 Abs. 1 "besteht keine Staatskirche." Und in Abs. 3 ist festgelegt: "Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes."
Zu den für alle geltenden Gesetzen gehören doch sicherlich die Grundrechte unserer Verfassung, so möchte man meinen, so daß diese auch innerhalb der kirchlichen Einrichtungen Geltung beanspruchen dürfen. Das ist jedoch in der Praxis und auch nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts und des Bundesverfassungsgerichts nur sehr eingeschränkt der Fall.
Besondere Bedeutung gewinnt dies im Bereich des Arbeitsrechts, denn die Kirchen beschäftigen nicht nur Seelsorger, sondern unterhalten Kindergärten, Krankenhäuser, Alters- und Pflegeheime und vieles mehr. Damit sind sie nach dem Staat selbst (Bund, Länder und Gemeinden) der zweitgrößte Arbeitgeber in der Bundesrepublik. Und da in weiten Bereichen Deutschlands allein die Kirchen (mit Diakonie und Caritas) Arbeitsplätze in Krankenhäusern, Kindergärten und Alten- und Pflegeheimen anbieten und der Staat nach dem Subsidiaritätsprinzip sich in diesem Bereich vornehm zurück hält, stellen die Kirchen für Ärzte, Pfleger, Kindergärtnerinnen einen Monopolarbeitgeber dar, und Einschränkungen im staatlichen Arbeitsrecht können nicht einfach hingenommen werden mit dem Argument, der Arbeitnehmer habe sich ja freiwillig seinen Arbeitgeber gewählt. Vielmehr betreffen diese Einschränkungen sowohl quantitativ wie qualitativ die Grundfesten des Arbeitsrechts.
Diese Abweichung von grundgesetzlichen Positionen beginnt bereits damit, daß zwar Artikel 9 Abs. 3 des Grundgesetzes die Bildung von Gewerkschaften, ihre Tätigkeit und ihr Streikrecht garantiert, daß dies aber im Bereich der Kirchen nicht gelten soll. Mit Ausnahme der Nordschleswigschen Evangelischen Landeskirche, die Tarifverträge abschließt, vertreten im übrigen sowohl die Katholische wie die Protestantische Kirche die Auffassung, Gewerkschaften hätten bei ihnen nichts zu suchen und seien auch überflüssig, da ja die Kirche in sich bereits sozial sei und es keinen Interessenwiderspruch zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern gebe. Deshalb schließen die Kirchen keine Tarifverträge ab, sondern berufen sich auf den "dritten Weg", wonach scheinbar paritätische Kommissionen Vergütungen und Arbeitsrechtsregelungen einvernehmlich festlegen - im Streitfall aber der Bischof das letzte Wort hat. Deshalb gilt auch das Betriebsverfassungsgesetz im kirchlichen Bereich nicht, wobei man insoweit den Vorwurf in erster Linie gegen den Gesetzgeber richten muß. § 118 Abs. 1 BetrVG legt fest, daß die Vorschriften dieses Gesetzes keine Anwendung auf sog. Tendenzbetriebe finden, "soweit die Eigenart des Unternehmens oder des Betriebs dem entgegensteht," und zu diesen Tendenzbetrieben zählen jene, die "politischen, koalitionspolitischen, konfessionellen, karitativen, erzieherischen, wissenschaftlichen oder künstlerischen Bestimmungen dienen." Da das Betriebsverfassungsgesetz zweifellos ein allgemeines für alle geltendes Gesetz ist i.S.v. Art. 137 Abs. 3 WRV, sollte man glauben, daß damit alles Notwendige geregelt ist. Aber nein: In § 118 Abs. 2 BetrVG bestimmt der Gesetzgeber gegen Grundgesetz und Weimarer Reichsverfassung, daß das gesamte Betriebsverfassungsgesetz schlicht "keine Anwendung auf Religionsgemeinschaften und ihre karitativen und erzieherischen Einrichtungen" findet! Statt dessen haben die Kirchen sich eigene Regelungen über Mitarbeitervertretungen gegeben.
Ebenso ist das Kündigungsschutzgesetz ein für alle geltendes Gesetz, grundsätzlich gilt es folglich auch für kirchliche Arbeitsverhältnisse. Aber eben nur grundsätzlich. Abgesegnet durch Bundesarbeitsgericht und Bundesverfassungsgericht behaupten die Kirchen, daß es ein spezifisches kirchliches Arbeitsrecht gebe, welches ihnen aus kirchenspezifischen Gründen Kündigungen erlaube. Sie stützen dies auf Art. 137 Abs. 3 Satz 1, wonach die Religionsgesellschaften ihre Angelegenheiten selbständig ordnen und verwalten, und vergessen dabei den zweiten Teil desselben Satzes, daß dies nur "innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes" gilt. Und sie vergessen, daß nach Art. 136 WRV die bürgerlichen Rechte (und das sind eben auch Arbeitsrechte) durch die Ausübung der Religionsfreiheit weder bedingt noch beschränkt werden dürfen, und ebenso wird vergessen, daß nach Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG niemand wegen seines Glaubens oder seiner religiösen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden darf.
So gelten etwa im Bereich der Katholischen Kirche und der Caritas die Arbeitsvertragsrichtlinien AVR, wonach deren Einrichtungen "dem gemeinsamen Werk christlicher Nächstenliebe" dienen und Dienstgeber und Mitarbeiter eine Dienstgemeinschaft bilden. Die Mitarbeiter haben "den ihnen anvertrauten Dienst in Treue und in Erfüllung der allgemeinen und besonderen Dienstpflichten zu leisten", und dazu gehört die von den katholischen Bischöfen erlassene "Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse."
Nach deren Art. 5 liegt ein "schwerwiegender Loyalitätsverstoß" unter anderem vor bei Kirchenaustritt oder bei Abschluß einer nach dem Glaubensverständnis und der Rechtsordnung der Kirche ungültigen Ehe. Erklärt ein kirchlicher Mitarbeiter seinen Austritt aus der Kirche - und sei es der Hausmeister oder die Putzfrau -, so führt dies zur (außerordentlichen) Kündigung des Arbeitsverhältnisses - abgesegnet von BAG und BVerfG! Und dies trotz Art. 3 Abs. 3 GG, wonach niemand wegen seines Glaubens oder seiner religiösen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden darf. Dies wäre sicherlich berechtigt bei einem Pfarrer, der die kirchlichen Lehren von der Kanzel zu verkündigen hat und dies nicht mehr glaubwürdig kann, wenn er aus der Kirche ausgetreten ist. Aber auch bei der Krankenschwester, der Sekretärin, dem in der kirchlichen Bauverwaltung angestellten Architekten? Meines Erachtens liegt hier ein klarer Verfassungsverstoß der Rechtsprechung vor, der nicht begründet werden kann damit, daß die Kirchen ihre eigenen Angelegenheiten selbst regeln dürfen. Denn für den katholischen Unternehmer, der aus Überzeugung nur katholische Arbeitnehmer in seinem Betrieb beschäftigen möchte, ist der Kirchenaustritt eines seiner Mitarbeiter kein Kündigungsgrund nach § 1 KSchG.
Dasselbe gilt z.B. für den Kündigungsgrund einer nach dem Glaubensverständnis und der Rechtsordnung der Kirche ungültigen Ehe und neuerdings der eingetragenen Partnerschaft. Das heilige Sakrament der Ehe ist nach dem Glaubensverständnis der katholischen Kirche unauflöslich. Deshalb kann eine kirchlich geschlossene Ehe auch nicht geschieden werden. Dies ist nur nach staatlichem Recht möglich. Heiratet ein (staatlich) geschiedener Ehepartner erneut, so lebt er nach kirchlichem Verständnis in Bigamie und somit in einer ungültigen Ehe - was auch noch im 3. Jahrtausend im Bistum des angeblich so liberalen Kardinals Karl Lehmann zu der Aufforderung führt, die Ehe "in Ordnung zu bringen." Das heißt sie zu lösen oder - ggf. noch nach Jahrzehnten - die früher geschlossene und staatlich geschiedene Ehe vor einem katholischen Kirchengericht für nichtig zu erklären (z. B. wegen fehlenden Vollzugs) ! Ansonsten folgt die Kündigung des Arbeitsverhältnisses. Wie das mit dem "besonderen Schutze" von Ehe und Familie nach Art. 6 GG in Einklang zu bringen sein soll, weiß niemand - außer mit der Floskel, daß die Kirchen ihre Angelegenheiten selbst regeln dürften (aber doch nur im Rahmen der allgemein geltenden Gesetze). Geht der geschiedene Ehepartner hingegen nicht formell eine neue Ehe ein, sondern bevorzugt das Konkubinat, so hat die Kirche nichts dagegen einzuwenden!
Das Landesarbeitsgericht Rheinland- Pfalz hat sich zunächst gegen diese Rechtsprechung gestellt - und wurde aufgehoben (EzA Nr. 7 zu § 1 KSchG Tendenzbetrieb). Dann wurde es angesichts der kirchenfreundlichen Rechtsprechung von BAG und BVerfG schlauer: Mit Urteil vom 12. September 1991 (NZA 92, 648) folgte es zwar scheinbar der höchstrichterlichen Rechtsprechung, daß eine nicht dem Glaubensverständnis und der Rechtsordnung der Kirche entsprechende Ehe einen Kündigungsgrund darstellen könne, betonte aber den ebenfalls in der BAGRechtsprechung feststehenden Grundsatz, daß es keinen absoluten Kündigungsgrund gibt, sondern daß immer eine umfassende Interessenabwägung erforderlich ist - und kam zu dem Ergebnis, daß im Einzelfall "der grundgesetzliche Schutz von Ehe und Familie gegenüber dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht im Rahmen der Interessenabwägung Vorrang haben" kann. Die Kündigung wurde aufgehoben, das Urteil wurde rechtskräftig.
Ein Schalk, wer Böses dabei denkt. Immerhin gibt es inzwischen auch höchstrichterliche Entscheidungen, die den Grundrechten im kirchlichen Bereich Geltung verschaffen. Die Kirchen dürfen zwar nach Art. 137 Abs. 6 Weimarer Reichsverfassung als Körperschaften öffentlichen Rechts selbständig Steuern erheben. Aber ihre Willkür hat doch Grenzen. Die Nordelbische Evangelisch-Lutherische Kirche erhob von ihren Mitgliedern in Schleswig-Holstein und in Hamburg unterschiedlich hohe Steuern. Ausgerechnet mit der Begründung, daß das Durchschnittseinkommen in Hamburg höher sei als in Schleswig-Holstein, forderte die Kirche von ihren Hamburger Mitgliedern niedrigere Steuern, obwohl doch allenfalls der steuerrechtliche Grundsatz der Besteuerung nach Leistungsfähigkeit für das Gegenteil gesprochen hätte. Und in den sich anschließenden gerichtlichen Verfahren behauptete die Kirche, dies sei ihr gutes Recht, da sie ihre Angelegenheiten nach Grundgesetz und Weimarer Reichsverfassung selbständig regeln dürfe und nicht an Art. 3 GG gebunden sei. Dem trat das Bundesverfassungsgerichts mit seinem Beschluß vom 19. August 2002 - Az. 2 BvR 443/01 - entgegen: "Die Religionsgesellschaften können nicht erwarten, daß der Staat ihnen seine Hoheitsgewalt zur Verfügung stellt oder sie bei der Durchsetzung von Maßnahmen unterstützt, wenn hierauf gerichtete staatliche Akte zu einer Grundrechtsverletzung führen müßten. Andernfalls würden staatliche Stellen entgegen Art. 1 Abs. 3 GG von ihrer strikten Bindung an die Grundrechtsordnung befreit." Art. 3 Abs. 1 GG wurde auch für die Kirche für verbindlich erklärt.
Sollte dies eine Trendwende darstellen, daß das Bundesverfassungsgericht den Kirchen nicht mehr gestattet, "ihre Angelegenheiten selbständig" zu ordnen nach eigenem Gusto, sondern daß das Bundesverfassungsgericht auf den Boden unserer Verfassung zurückkehrt, wonach die Kirchen dies eben nur dürfen "innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes"?
aus: Ansprüche 2/2004