Utopie fragt nach Utopie

Gespräch mit Dieter Klein und Michael Brie

Ein Gespräch zum Buch von D. Klein, M. Brie, J.Dellheim, R. Land, D. Zahn: "Leben statt gelebt zu werden. Selbstbestimmung und soziale Sicherheit. Zukunftsbericht der Rosa-Luxemburg-Stiftung", 2003

Gespräch mit Dieter Klein (1) und Michael Brie (2)

Das Buch heißt im Untertitel "Zukunftsbericht der Rosa-Luxemburg- Stiftung" (3) . Die Wortschöpfung "Zukunftsbericht" ist nicht neu. Aber sie enthält einen Widerspruch, berichten kann man über etwas, das im Gange ist oder schon stattgefunden hat. Findet die Zukunft schon statt, oder warum hat sich die Stiftung, warum habt Ihr Euch für diesen Begriff entschieden?

DIETER KLEIN: Zukunftsbericht - zunächst verweist dieser Begriff darauf, dass sich die RLS mit ihrer Publikation bewusst auch in die Auseinandersetzung mit Grundvorstellungen anderer begibt, die beispielsweise von der Kommission für Zukunftsforschung der Freistaaten Bayern und Sachsen und von der Zukunftskommission der Friedrich-Ebert-Stiftung vertreten werden.

Entscheidend ist aber etwas anderes: In der Tat berichten wir über Entwicklungen, die schon im Gange sind und die unterschiedliche Entwicklungswege in die Zukunft bereits heute sichtbar machen. Wir konstatieren eine globale Scheidewegsituation. Der gegenwärtig bestimmende ist der neoliberale Weg in eine Welt-Marktgesellschaft. Der neosozialdemokratische Weg läuft auf einen Balanceakt zwischen Anpassung an die Weltmarktzwänge einerseits und der modifizierten Teilerneuerung bereits erreichter politisch-sozialer Standards andererseits hinaus. In diesem Spagat nimmt die Gerechtigkeit jedoch so nachhaltigen Schaden, dass in der Annäherung an den Neoliberalismus dem Projekt der Dritten Wege die eigenen Konturen verschwimmen. Wir schließen ferner nicht aus, dass gegenwärtige Phänomene wie der Aufstieg selbstmandatierter Angriffskriege als angeblich legitimes Mittel der Politik, autoritäre Herrschaftsformen, Demontage sozialer Netze, international organisiertes Verbrechen und global verbreitete Korruption in einen ausgeprägt entzivilisierten Kapitalismus münden könnten. Ein solcher Kapitalismus wäre die Konsequenz einer Welt-Marktgesellschaft, in der auch jene Dämme gebrochen sind, die heute noch durch Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, soweit sie eine Bedeutung haben, gehalten werden.

MICHAEL BRIE: Und wir stellen diesen Entwicklungspfaden Vorstellungen von den Umrissen emanzipatorischer Reformalternativen entgegen. Wir formulieren gegen das neoliberale Leitbild des sich selbst vermarktenden, flexiblen Menschen als Unternehmer seiner Arbeitskraft und Daseinsvorsorge ein anderes Leitbild: Der selbstbestimmt und solidarisch handelnde Mensch in sozialer Sicherheit und Solidarität, der in Frieden zu leben vermag.

Die politischen Kräfteverhältnisse und damit die Wirkungs- und Einflussmöglichkeiten von Parteien werden wesentlich davon bestimmt, wer im Wahlvolk wie viel welcher Partei zutraut, die Zukunft gestalten zu können. Wird im Buch ein Szenario, eine Vision oder gar eine Utopie entworfen? Wie ist Euer Angebot?

DIETER KLEIN: "Ein Volk ohne Vision geht zugrunde". Mit diesem Zitat aus den Sprüchen des Salomo (29, 18) überschrieb Dorothee Sölle ihr letztes Buch. In Luthers Übersetzung heißt es: "Wo keine Weissagung ist, wird das Volk wild und wüst." Unser Buch ist fern von Weissagungen. Doch der Titel des Buches "Leben statt gelebt zu werden" umreißt nach unserem Empfinden eine große Vision. Nicht eine ausgeklügelte, nicht eine aus unsichtbar waltenden Gesetzmäßigkeiten abgeleitete Vision, sondern eine, die das auf den Punkt bringt, was Millionen Menschen sich wünschen. Nicht gelebt zu werden aufgrund der Abhängigkeit von den ökonomisch und politisch Mächtigen, von bürokratischen Bestimmungen, unter den Zwängen von Arbeitslosigkeit und knappem Einkommen und unter dem Druck von alltäglichen Ängsten, den noch vorhandenen Arbeitsplatz irgendwann zu verlieren, bei Krankheit nicht mehr genügend gesichert zu sein oder in Altersarmut zu geraten. Gegen fremdbestimmtes Leben nehmen wir die Tradition von sozialen und Befreiungsbewegungen und den starken Zeit-trend auf, das eigene Leben selbst bestimmen zu wollen, und fordern als Bedingung dafür soziale Sicherheit ein - statt des ständigen Drucks von drohendem sozialen Absturz, den viele empfinden.

MICHAEL BRIE: Unsere Vision verweist unmittelbar auf Handlungsnotwendigkeiten. Sie rückt einen Prozess in Richtung einer Gesellschaft in das Zentrum, "worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist." (Marx/ Engels, MEW Bd. 4, S. 482) Die Freiheit des Individuums als das Ziel einer emanzipatorischen Reformalternative, die die einen als nachhaltige Entwicklung, die anderen als "Weg Gottes auf Erden" (so in der lateinamerikanischen Befreiungstheologie) und wiederum andere als demokratischen Sozialismus bezeichnen. Der irdische Charakter dieser Vision von der kollektiven und individuellen Freiheit für jede und jeden wird darin deutlich, dass wir eine Frage stellen und beharrlich auf ihrer Beantwortung bestehen, die in neoliberalen Deutungen individueller Freiheit kategorisch ausgeschlossen bleibt: Was brauchen Menschen für ein selbstbestimmtes Leben in sozialer Sicherheit? Unsere Antwort ist, dass individuelle Freiheit für alle die soziale Gleichheit der Teilhabe an elementaren Lebensbedingungen voraussetzt, die wir daher als Freiheitsgüter bezeichnen. Freiheit und soziale Gleichheit werden in engstem Zusammenhang miteinander als Orientierung für solidarische soziale Kämpfe um existenzsichernde Arbeit, diskriminierungsfreie Bildung für alle, für gleichen Zugang zu medizinischen Leistungen und sozialer Sicherheit just in der Situation behandelt, in der Wolfgang Clement und Olaf Scholz eine zunehmende "gerechte Ungleichheit" proklamieren. Eine "eingreifende Vision" also, eine, die auf dringliches Handeln hier und heute verweist, wird von uns vertreten.

In der Partei des Demokratischen Sozialismus findet eine Programmdebatte statt. In welchem Verhältnis steht der "Zukunftsbericht " zu dieser Diskussion?

MICHAEL BRIE: Die RLS ist vor allem politischer Bildung verpflichtet. Aber sie nimmt auch politikberatende Aufgaben wahr. Was sie als wichtige Inhalte humanistischer Bildung ansieht, trägt sie auch der PDS an, der sie nahe steht. Das galt für den Kommentar zur Programmatik der Partei des Demokratischen Sozialismus und für das Buch "ReformAlternativen - sozial, ökologisch, zivil". Und unser "Zukunftsbericht" hat ebenfalls einen engen Bezug zur Diskussion in der PDS, besonders zu ihrer Programmdebatte. Das ließ sich schon deshalb schlecht vermeiden, weil die beiden Hauptautoren des Berichts zugleich der Redaktionskommission angehören, die den Programmentwurf verfasst hat. Das Buch "Leben statt gelebt zu werden" könnte auch als ausführliche Begründung wesentlicher Gedanken aufgefasst werden, die den Programmentwurf bestimmen oder ihm zugrunde lieben, ohne dort näher ausgeführt zu sein. (4)

Das gilt für die Analyse der historischen Situation einer Weggabelung, in der sich Entscheidungen zwischen unterschiedlichen Entwicklungswegen herausbilden. Das betrifft die ausführliche, auch theoretische Fundierung einer Politik der Gerechtigkeit als das Bestimmende demokratisch-sozialistischer Politik und schlägt sich im Programm schließlich in dem einfachen Satz nieder: "Freiheit, Gleichheit und Solidarität bilden den Inhalt von Gerechtigkeit."

Dem Zukunftsbericht liegt ferner die Auffassung zugrunde, dass demokratischer Sozialismus nicht allein als Ziel, sondern als ein ständiger Prozess von Reformschritten mitten in der bürgerlichen Gesellschaft mit transformatorischen Zügen zu verstehen ist, der über die Grenzen des Kapitalismus hinaus weist.

DIETER KLEIN: Gerade dieses Verständnis von demokratischem Sozialismus als Prozess trifft in Teilen der PDS auf Unverständnis und ruft den Verdacht opportunistischer Anpassung an die gegebenen Verhältnisse hervor. Wir wünschten uns, dass sich die Vertreterinnen und Vertreter solcher Vermutungen sachlich mit unserer Gedankenführung sowohl im Zukunftsbericht als auch in der im Zusammenhang mit ihm entstandenen Schrift "Sozialismus als Tagesaufgabe" auseinander setzten. Dies würde dem Verständnis des künftigen Programms der PDS und ihrer Diskussionskultur wohl förderlich sein.

Eine Grundaussage im Entwurf für ein Parteiprogramm ist, dass demokratischer Sozialismus dann und nur dann erfolgreich einen alternativen Entwicklungsweg mitbestimmen wird, wenn es gelingt, die Kräfteverhältnisse in der Gesellschaft entschieden zugunsten demokratischer sozialer Kräfte zu verschieben und wenn es die PDS durch eigenen Wandel erreicht, ihr Profil und eigene Politikangebote in das gemeinsame Wirken mit anderen demokratischen, sozialen und politischen Bewegungen einzubringen und zu ihrer Vernetzung beizutragen. Der Zukunftsbericht widmet der Behandlung alternativer Akteure und ihrer Motivationen ein ganzes Kapitel. (5)

Wie ist das Buch aufgebaut?

DIETER KLEIN: Der Aufbau des Buches folgt unserem Anliegen, die Vision einer Gesellschaft darzustellen, in der die Menschen selbstbestimmt und solidarisch leben können. Und das nicht von Wolkenkukkucksheim aus oder mit einem Bild von einem "neuen" Menschen, sondern - im Sinne von Ernst Blochs "konkreten Utopien" - aus den Lebensprozessen und Erwartungen real existierender Individuen. (6)

Das erste Kapitel beginnt nicht etwa mit der Verkündung unserer eigenen Zukunftsvorstellungen, sondern mit der empirischen Analyse von Befindlichkeiten, Erwartungen und Überzeugungen der Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik - vor allem gestützt auf Befragungen von Michael Chrapa und Dietmar Wittich, aber auch auf andere repräsentative Untersuchungen. Dabei stellt sich heraus, dass unsere eigenen Alternativen durchaus nicht nur an den Ängsten, sondern auch am Gerechtigkeitssinn und am Eindruck der meisten Befragten anknüpfen können, in einer ungerechten Gesellschaft zu leben, die deshalb erheblichen Wandels bedarf. Erkennbar werden aber auch die Ambivalenzen im öffentlichen Bewusstsein, beispielsweise, dass die Erwartung sich vertiefender Klüfte zwischen Arm und Reich durchaus mit der mehrheitlichen Aussage zusammenfällt, in Deutschland gut leben zu können. Die Überzeugung, dass gegen die Mächtigen im Lande ohnehin nicht viel zu machen sein wird, wird bei Vielen von der Bekundung der Bereitschaft begleitet, sich selbst für Veränderungen mehr engagieren zu wollen - wenn es denn die Aussicht auf Erfolg gäbe. (7)

Das erste Kapitel wendet sich ferner in ökonomischen Analysen der wichtigen Frage zu, warum in der westlichen Welt in den "goldenen Jahrzehnten" nach dem Zweiten Weltkrieg eine sozialstaatliche Bändigung des Kapitalismus möglich war und welche Widersprüche in die Krise dieses sozialstaatlichen (fordistischen) Nachkriegskapitalismus führten. Aus der Analyse der Probleme, die der Fordismus schließlich nicht zu lösen vermochte, ergeben sich in der Logik unserer Gedankenführung und Gliederung die Herausforderungen, denen sich Strategien für die künftige Entwicklung stellen müssen.

Und dies führt zu unserer Beschreibung der sich abzeichnenden, drohenden oder erstrebenswerten gegensätzlichen Wege und Strategien als Antwort auf die Krise des Fordismus: neoliberal geprägter Kapitalismus, Dritte Wege der neuen Sozialdemokratie, entzivilisierter Kapitalismus oder emanzipatorische Reformalternativen.

Das zweite Kapitel "Eine andere Welt ist möglich!" behandelt Reformstrategien für eine gerechtere Gesellschaft. Es umfasst eine Auseinandersetzung mit dem Gerechtigkeitsdiskurs des Neoliberalismus und der Sozialdemokratie im Spiegel skandalöser realer Ungerechtigkeiten, ferner die theoretische Begründung einer Politik der Gerechtigkeit, die Behandlung von Freiheitsgütern als Bedingung für Selbstbestimmung und soziale Sicherheit und die Darstellung von Grundzügen einer emanzipatorischen und solidarischen Reformalternative.

MICHAEL BRIE: Im dritten Kapitel spätestens steigt das Nach- und Vorausdenken über zentrale Fragen unserer Zeit in ganz irdische Gefilde hinab. Was "Leben statt gelebt zu werden" heißt, wird auf einem zentralen Feld gegenwärtiger gesellschaftlicher Auseinandersetzungen deutlich gemacht. Das dritte Kapitel handelt von sozialökologischem Umgang der Arbeitswelt entsprechend dem in den vorangegangenen Kapiteln entwickelten Leitbild.

Im vierten Kapitel stellen wir uns der Frage, welches die Akteure alternativer Entwicklung gegenwärtig sind und künftig sein könnten.

Der heutige Zeitgeist ist nicht gerade ein Widerspruchsgeist, er fordert Konformität ein, die - so scheint es - auch häufig bereitwillig gewährt wird. Sie stellen eine andere Welt als möglich in Aussicht. Wie begründet Ihr diese Alternative?

DIETER KLEIN: Warum wir eine andere Welt für möglich halten - dies ist nicht leicht zu beantworten, da doch die Zeichen der Zeit überwiegend neoliberal gestellt sind. Nicht leicht zu beantworten auch deshalb, weil eine emanzipatorische Alternative, weil demokratischer Sozialismus tiefgreifenden Wandel der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse zur Voraussetzung hat. Und wir wissen nicht, ob, wann und wie es zu solchem Wandel kommen wird. Die Geschichte ist offen. Aber immerhin ist sie nicht unausweichlich durch die Gesetzmäßigkeiten des Profits und des Marktes vorausbestimmt. Es ist ja eine eigenartige Ironie, dass die Repräsentanten neoliberalen Denkens auf jenes eherne Wirken dieser Gesetze pochen, das ihnen doch stets Anlass war, das Marxsche Denken als ökonomistisch und deterministisch zu verteufeln. Nur geben sie sich deterministischer als Marx, der da bei Gelegenheit der Analyse des Profitgesetzes und der Bewegung der Profitrate zu der Schlussfolgerung kam, dass sich diese Frage in die Frage des Kräfteverhältnisses der Kämpfenden auflöse. Genau darauf verweist unser Buch immer wieder. Dies liegt auch unserem Verständnis des demokratischen Sozialismus als transformatorischem Prozess zugrunde.

Wir knüpfen an die Erfahrung in der Geschichte an, dass die Kämpfe der Ausgebeuteten, der Unterdrückten und Ausgegrenzten und derer, die in besserer Situation gleichwohl eine veränderte Gesellschaft wollten, nie dauerhaft unterdrückt werden konnten.

Am 15. Februar dieses Jahres erlebten wir, dass es noch niemals vor Beginn eines Krieges eine so starke, erdumspannende, organisierte Ablehnung gab wie in unserer Zeit. Bei dieser Gelegenheit und im Porto-Alegre-Prozess werden neue soziale Träger einer anderen Welt erkennbar.

Wir beobachten weltweit den Aufstieg der Gerechtigkeit im Wertegefüge der Menschheit als Motiv für Kämpfe um eine bessere Gesellschaft. (8)

Wir analysieren, dass die modernen bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften nicht auf erträgliche Weise funktionieren können, ohne Zivilisationspotenziale und Bewegungsmöglichkeiten hervorzutreiben, die Ansätze für alternative Politik bieten.

Wir sind in unseren Workshops gemeinsam mit anderen linken Parteien und Kräften daran beteiligt, die seit Mitte der 70er Jahre entstehenden Bedingungen und die sich gegenwärtig in rascher Folge vollziehenden Schübe des Abschieds vom europäischen Sozialmodell zu verarbeiten, um zu neuen Antworten der Linken zu gelangen, für die allerdings Zeit gebraucht wird, die aber künftig Chancen zur Veränderung der geistigen Hegemonieverhältnisse und des politischen Kräfteparallelogramms bieten können.

Und ich halte mich gern an die Frage von Hermann Hesse, mit der er den chinesischen Moralphilosophen Konfuzius zu charakterisieren versuchte: "Ist das nicht der, der genau weiß, dass es nicht geht, und es trotzdem tut?"

Und im übrigen - allein die Vertiefung der Umweltkrise wird in den kommenden Jahrzehnten einen einschneidenden Wandel von Produktions-, Lebens- und Regulationsweisen auf die Tagesordnung setzen. Dann kommt es auch darauf an, wer geistig und politisch darauf vorbereitet ist.

Dass der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgehe, ist nicht nur ein häufig kolportierter Satz von Hannah Arendt, es ist auch für viele Menschen, gerade auch für junge, Alltagserfahrung. Im Buch wird eine andere Perspektive aufgemacht. Was kann sozialistische Politik den Jungen, die bisher ohne berufliche Chancen sind, und den "überflüssig" werdenden Alten bieten?

DIETER KLEIN: Die Frage macht uns eine Schwierigkeit in der Auseinandersetzung mit den ungelösten Problemen der Gegenwart besonders deutlich. Fragen der Veränderung der Arbeitswelt sind wie viele andere Probleme so hochkomplex, dass sie zwangsläufig zu komplizierten Antworten verleiten - deren Formulierung hier den Rahmen sprengen würde. Aber zugleich hat der Funktionsmechanismus der Medienwelt bei vielen Menschen die Erwartung einfacher Antworten hervorgebracht und auch Parteien unter diesen Druck gebracht.

Es bleibt eine Aufgabe für die absehbare Zeit, Einstiegsprojekte im demokratischen Wandel herauszufinden und so zu formulieren, dass sie leicht verstanden werden können und mobilisierend wirken.

MICHAEL BRIE: Unser Ausgangspunkt ist, dass bei Dominanz des Profits als wichtigsten Entscheidungsmaßstab in der Arbeitswelt und bei Reduktion des Menschen auf seine Funktion für Kapitalverwertung Entlassungen und Arbeitslosigkeit unvermeidlich sind, wenn sich Arbeit "nicht rechnet". Die Beschäftigung von Menschen in der öffentlichen Daseinsvorsorge ist oft nicht oder nicht genügend profitabel für privates Kapital. Die Begrenzung dieser Beschäftigung im Gesundheitswesen, in Pflege, Kultur, Schutz der Umwelt, Betreuung von Jungen und Alten ist daher bereits vorgezeichnet. Beschäftigungsfördernde regionale Wirtschaftskreisläufe erhalten kaum eine Chance, es sei denn als getarnte Spielwiese für global operierende Großunternehmen. Öffentliche Investitionen gelten den privaten Konzernen und Großbanken als Sünde wider die Marktgläubigkeit - vielen Kleinunternehmen allerdings sind kommunale Aufträge überlebenswichtig. (9)

Also war herauszufinden, zu welchen Schritten denn das alternative Leitbild selbstbestimmt handelnder Menschen in sozialer Sicherheit für die Arbeitspolitik führen sollte. Es war zu beantworten, welche Veränderungen in der Arbeitswelt unter gegebenen Verhältnissen mit positiven Wirkungen für die Schaffung existenzsichernder Arbeitsplätze relativ "leicht" erreicht und wie sie weiter getrieben werden könnten - mit Blick auf einen transformatorischen Prozess.

DIETER KLEIN: Verteidigung und Erweiterung der Massenkaufkraft auf dem Binnenmarkt, um durch Nachfrage Arbeitsplätze zu sichern - so lautet eine erste Antwort. Sofern dies effizientere Förderung von Existenzgründern und kleinen Unternehmen einschließt, ist das wahrlich keine systemsprengende Forderung. Soweit dies bedeutet, den Anteil der öffentlichen Investitionen in Deutschland am Bruttoinlandprodukt wenigstens um 30 Milliarden Euro auf die amerikanische Quote zu erhöhen, liegt auf der Hand, dass die Grundfesten des Kapitalismus nicht angetastet werden. Das gilt auch für die Verteidigung des bisherigen Niveaus von Sozialeinkommen und für Solidarität mit den gewerkschaftlichen Kämpfen um die Ausschöpfung des Verteilungsspielraums in Tarifverhandlungen.

Aber selbst solche Schritte richten sich gegen den Geist des Neoliberalismus, dem staatliche Förderung, staatliche Investitionen, soziale Sicherheiten und Flächentarifverträge als Blockierungen gelten, die beiseite zu schaffen sind. Das machbar Erscheinende gewinnt situationsbedingt Züge eines Gegenmodells und wird nur durch heftigste Kämpfe erreichbar sein.

MICHAEL BRIE: Noch mehr gilt dies für Arbeitszeitverkürzung, die nur dann Zustimmung bei den Gewerkschaftsmitgliedern selbst zurückgewinnen wird, wenn bindende Verpflichtungen der Unternehmer zu differenziertem Lohnausgleich, zur Neueinstellung von Arbeit Suchenden und Regelungen gegen weitere Leistungsverdichtung erreichbar sind. Gegenwärtig ist dies kaum in Sicht, entspricht aber einem mehr als einhundertjährigen Trend. (10)

Wechsel zwischen existenzsichernder Arbeit, zeitweiliger unbezahlter Familienarbeit und Weiterbildung anstelle eines lebenslangen Normalarbeitsverhältnisses des männlichen Familienernährers im einmal erlernten Beruf entspricht den Tendenzen des flexiblen Kapitalismus. Transformatorische Züge einer alternativen Arbeitspolitik werden jedoch sichtbar, wenn solchen Wandel und solche Kombinationen aber zugleich mit dem Anspruch auf verfügbare Arbeitsplätze für alle Arbeit Suchenden und als freiwillige Entscheidung der Einzelnen bei Gleichberechtigung von Männern und Frauen eingefordert werden. Die schrittweise Einführung eines bedarfsorientierten Grundeinkommens oberhalb der relativen Armutsgrenze als Bürgerrecht und als soziale Absicherung zeitweiligen Ausstiegs aus dem Erwerbsleben in bestimmten Lebensphasen zu verlangen, geht natürlich noch weiter. Das bedeutet, dass ein Nein zu unzumutbaren Arbeitsbedingungen ohne die Gefahr des sozialen Absturzes möglich werden soll.

Neue Arbeitsfelder durch sozial-ökologischen Umbau, durch Konzentration hochtechnologischer Innovationen auf eine ökologische Wende und durch entschiedene Ausweitung humanorientierter Dienstleistungen zu erstreben, ist ein Überlebensinteresse. Aber es steht gegen die Profitdominanz in der Gesellschaft. Solche Entwicklung - vielfach unverträglich mit hohen Renditeerwartungen des Kapitals - wäre mit der Ausweitung eines Dritten Sektors, eines beschäftigungsorientierten Non-Profit-Sektors weit über seine gegenwärtige Bedeutung hinaus verbunden.

DIETER KLEIN: Alternative Arbeitspolitik knüpft an unmittelbare Interessen der Betroffenen, an weit verbreitete Forderungen von Gewerkschaften und anderen Kräften an und zeichnet sich zugleich durch transformatorische Potenziale aus. Sie wird im Buch exemplarisch für das Verständnis des demokratischen Sozialismus als Transformationsprozess behandelt. Wir können das in einer knappen Antwort auf Eure Frage nur andeuten.

Und zu eurer Frage nach dem Angebot sozialistischer Politik für die Jungen? Wir verweisen nur auf einen längeren Abschnitt, in dem wir unsere Vorstellungen von einer demokratischen Bildungsreform unmittelbar mit der Forderung nach sozial gleicher Teilhabe aller und besonders der jungen Leute an existenzsichernder Arbeit verbinden. Der Entwurf eines neuen Normalarbeitsverhältnisses, das die Kombination von existenzsichernder Arbeit, zeitweiliger freiwilliger Eigenarbeit der Einzelnen für sich selbst und die Familie, von abhängiger und selbständiger Arbeit bei verkürzter Normalarbeitszeit umfasst, dürfte übrigens den verbreiteten Neigungen junger Menschen zu einem abwechslungsreichen Verlauf ihres Erwerbs- und Nichterwerbslebens stark entgegenkommen.

Wir haben den Älteren als besonderer sozialer Gruppe vielleicht zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Unsere vielschichtige Vorstellung vom künftigen Wandel der Arbeitswelt und von Schritten zu entschiedener Verringerung der Arbeitslosigkeit schließt aber die Interessen der Älteren ein.

Welche Chancen räumt Ihr uns allen ein, dass die Zukunft nicht durch globalisierten Kapitalismus, imperiale Kriege und kulturelle Hegemonie des Neoliberalismus bestimmt wird? Wo sind die Subjekte?

DIETER KLEIN: Zu unseren Überlebenschancen angesichts drohender Großgefahren haben wir uns wohl schon geäußert, als wir über die Möglichkeit einer anderen Welt sprachen.

Ja - wo sind die Subjekte? Unsere Auseinandersetzung im vierten Kapitel mit dieser Frage hat nichts mit der traditionellen Frage nach dem führenden Akteur der großen kommenden Umwälzung zu tun.

Gestützt auf empirische Untersuchungen werden die Interessen von Individuen in ihrer alltäglichen Lebenswelt an eigenem Engagement analysiert und hervorgehoben. Das Handeln der Individuen in ihren Lebenszusammenhängen betrachten wir anders als im Rahmen der meisten Regulationstheorien als eine ganz wesentliche Ebene gesellschaftlicher Veränderung. Ein interessantes Ergebnis dabei ist, dass gerade gut verdienende, leistungsstarke Bevölkerungsgruppen, die großen Wert auf ihr eigenverantwortliches Handeln legen, in den Befragungen besonders nachdrücklich für Umverteilung und Unterstützung zugunsten sozial schwächerer Gruppen eintreten.

Von den individuell Handelnden werden Akteursgruppen im Nahraum der einzelnen Menschen, in größeren Zusammenhängen handelnde kollektive Akteure, Großorganisationen und Wählerschaften unterschieden. Und es wird nach hemmenden und fördernden Faktoren für ihr Handeln gefragt. Und sie werden auf regionaler, nationalstaatlicher und globaler Ebene beobachtet. (11)

MICHAEL BRIE: Eine Fülle von Beispielen wirksamer Aktionen orientiert auf ein Zusammenwirken mit Trägern solcher Aktionen. Als besonders zukunftsträchtig für die Formierung von Akteuren wird ihre Vernetzung und gemeinsame Arbeit an Projekten beleuchtet - an ökologischen Projekten, Wohnprojekten, Projekten kultureller und sozialer Dienstleistungen, politischen Projekten und Wirtschaftsprojekten. Dabei wird der Fähigkeit, für diese Projekte Öffentlichkeit herzustellen, besondere Bedeutung beigemessen.

Das Gespräch führten Dietmar Wittich und Jörn Schütrumpf

1 Dieter Klein - Jg. 1931; Prof. Dr. oec. habil., Wirtschaftswissenschaftler. Vorsitzender der Zukunftskommission der Rosa-Luxemburg- Stiftung. Zuletzt in UTOPIE kreativ: Demokratischer Sozialismus - eintransformatorisches Projekt, Heft 147 (Januar 2003).

2 Michael Brie - Jg. 1954; Prof. Dr., Philosoph, Mitglied des geschäftsführenden Vorstands der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Zuletzt in UTOPIE kreativ: Zwischen Wärmestrom und Kälteschock, Heft 153/154 (Juli/August 2003).

3 Dieter Klein (Hrsg.), Michael Brie, Judith Dellheim, Rainer Land, Dieter Zahn: Leben statt gelebt zu werden. Selbstbestimmung und soziale Sicherheit. Zukunftsbericht der Rosa- Luxemburg-Stiftung, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, 355 Seiten, 14,95 EUR.

4 "Eine sozialistische Gesellschaft, wie wir sie anstreben, ... ist eine Gesellschaft in der die Profitdominanz beseitigt ist. Sie verwirklicht eine sich auf die politischen, wirtschaftlichen, ökologischen und kulturellen Verhältnisse erstreckende Demokratie. Sie erfordert die Unterordnung der Produktuions-, Verteilungs- und Konsumtionsweise unter das Prinzip, allen Bürgerinnen und Bürgern die Bedingungen für ein selbstbestimmtes und solidarisches Leben zu ermöglichen." Programm der Partei des Demokratischen Sozialismus. Überarbeiteter Entwurf. Zit. nach: PDS Pressedienst, Nr. 35/2003, S. 3.

5 "Für uns sind Menschen nicht deshalb wertvoll, weil sie sich kapitalistisch verwerten und verwertet werden. Wir insistieren darauf, das Menschen zunächst einmal unverwechselbare einmalige Individuen sind, denen alle Grundbedingungen ihrer Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung zustehen, einfach, weil sie Menschen sind. Unser Maßstab ist solidarische Individualität und nicht auf Verdrängungswettbewerb orientierte Funktionalität. Solidarität und nicht Verwertbarkeit macht für uns den Grundzusammenhang von Gesellschaft aus." Zukunftsbericht, S. 99f.

6 "Die Autoren dieses Zukunftsberichts vertreten ... ein alternatives politisches und gesellschaftliches Projekt, das sie als emanzipativ- solidarische Reformalternative bezeichnen. Gemeinsam mit vielen anderen fragen wir danach, wie in der gegenwärtigen Krise auf demokratische Weise der Einstieg in einen sozialen, ökologischen und gerechten Entwicklungspfad gefunden werden kann." S. 84.

7 "Der von uns gewählte Ansatz, eine Politik der Gerechtigkeit als Kampf für einen sozial gleichen Zugang aller zu den Grundbedingungen eines erfüllten Lebens zu verstehen, bindet Freiheit und Gleichheit auf eine sehr elementare Art zusammen. Er geht von einer ganz einfachen Frage aus: Was brauchen die Menschen für ein von ihnen selbst frei bestimmter eigenes Leben?" "Menschen brauchen die Möglichkeit gleicher Teilhabe an den grundlegenden Entscheidungen in den Gemeinschaften, in denen sie leben, weil sonst alle Selbstbestimmung Illusion bleibt." "Menschen brauchen Unantastbarkeit ihres Lebens." "Menschen brauchen die Stabilisierung ihrer natürlichen Lebensgrundlagen." "Menschen brauchen Teilhabe an existenzsichernder Arbeit." "Menschen brauchen in einer zunehmend auf Wissen basierten Gesellschaft mehr denn je sozial gleichen Zugang zu Bildung, Wissen und Kultur." "Menschen brauchen für ein selbstbestimmtes Leben die Freiheit von sozialen Existenzängsten." S. 124-128.

8 "Die Bereitschaft und Fähigkeit von Menschen, ihre Lebenswelt emanzipativ und solidarisch zu gestalten und an gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen zu partizipieren, ist für eine Reformpolitik von größter Bedeutung." S. 156.

9 "Die Krise der Arbeitsgesellschaft ist allgegenwärtig. Sie drängt die einen aus Arbeit und sozialem Zusammenhalt oder in prekäre Beschäftigung. Sie betrifft Frauen besonders, zumal die in Ostdeutschland, und befördert ihre Kinder nicht selten ins Abseits, weil sie mit den Klamotten der Kinder von Gutverdienenden nicht mithalten können. Frauen und Männer im mittleren Alter werden als zu alt ausgemustert. Viele Junge finden keinen Einstieg in den Arbeitsmarkt. Und die anderen kommen nicht zum Leben, weil die Arbeit sie auffrisst. Nicht selten sind sie von der Angst getrieben, die Arbeit zu verlieren." S. 158

10 "Eine alternative Transformation der fordistischen bzw. zunehmend neoliberal bestimmten Arbeitsgesellschaft müsste umfassen: 1. Erwerbsarbeit für alle Arbeit Suchenden und Neukombination des Zusammenhangs von Erwerbsarbeit und Eigenarbeit in den Industrieländern ohne Diskriminierungen. 2. Eine Neuverteilung der Erwerbsarbeit zwischen Männern und Frauen. 3. Eine Neuverteilung der Erwerbsarbeit zwischen prosperierenden Regionen und Krisenregionen. 4. Eine gerechte Weltwirtschaftsordnung, in der die internationale Arbeitsteilung die Länder des Südens dabei unterstützt, die Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung von mehr einer Milliarde Menschen zu überwinden." S. 164 f.

11 "In der Realität ist das Spektrum der möglichen Akteure außerordentlich breit. Betroffenheit durch soziale Konflikte und sozial orientierte Werthaltungen verkörpern wichtige Dimensionen bei der Interessenartikulation der Akteure." S. 279.

in: UTOPIE kreativ, H. 157 (November 2003), S. 992-999

aus dem Inhalt

Nachruf Michael Chrapa 1950 - 2003 Essay DIETMAR WITTICH Neues aus der Klassengesellschaft Das Gespräch DIETER KLEIN und MICHAEL BRIE Utopie fragt nach Utopie Krieg & Frieden WERNER RUF Eine Straßenkarte für den Frieden? BERNHARD HEIMANN Die Linke und der Krieg Brotlose Kunst? FRITZ VILMAR Zukunftsweisendes in der ostdeutschen Kunst STEPHAN B. ANTCZACK Kunst geht nach Brot Standorte WOLFGANG HARTMANN "MfS - Alltag einer Behörde". Nachdenken anläßlich eines Films von Christian Klemke und Jan Lorenzen Konferenzen & Veranstaltungen HELLA HERTZFELDT Politik, Wissenschaft, Praxis - und wie steht es um die Geschlechterverhältnisse? EVA SCHÄFER Normalisierung als Herrschaftsprinzip Bücher & Zeitschriften Wladislaw Hedeler (Hg.): Stalinistischer Terror 1934-1941. Eine Forschungsbilanz (HORST KLEIN) Karl-Heinz Günther: Rückblick. Nach Tagebuchnotizen aus den Jahren 1938 bis 1990 (DIETER KIRCHHÖFER) Jürgen Löwe: Kontextuale Theorie der Volkswirtschaft (ULRIKE BUSCH) Manfred Hildermeier: Die Sowjetunion 1917-1991. (Oldenbourg Grundriß der Geschichte - Hrsg. von Jochen Bleicken, Lothar Gall, Herrmann Jakobs. Bd. 31) (STEFAN BOLLINGER) Manfred Osten: "Alles veloziferisch" oder Goethes Entdeckung der Langsamkeit (ULRICH BUSCH) Martin Hebler: Arbeitsmarkteffekte der EU-Osterweiterung. Zur Wirkung von Integration, Migration und institutionellem Wandel auf dem Arbeitsmarkt (Volkswirtschaftliche Schriften, Heft 526) (JÖRG ROESLER) Summaries