Ende der Wohlstandsgesellschaft - und jetzt?

Düstere Aussichten präsentieren die Konjunkturforscher der bundesdeutschen Gesellschaft: "Einbußen beim Lebensstandard weiter Teile der Bevölkerung sind ... gerade dann zu erwarten, wenn sich ...

... nichts ändert." Das Institut für Weltwirtschaft erläutert: Wenn nicht endlich durchgreifende Reformen erfolgten, werde der Lebensstandard in den nächsten zehn Jahren sinken.
Das eigentlich Sensationelle dieser Botschaft liegt nicht in der Entwicklungstendenz des gesellschaftlichen Wohlstandes: Für bestimmte Schichten ist der kontinuierliche Abstieg längst alltägliche Realität. Neu ist, dass demnächst weite Teile der Gesamtbevölkerung davon betroffen sein werden. Teile der politischen Linken, auch das muss selbstkritisch zugestanden werden, denken freilich, es gibt überhaupt kein Problem, man solle am besten alles beim Alten lassen.

Andere Zeitgenossen fragen verwundert: Wie hängt das zusammen? Zwar bewegt sich die bundesdeutsche Ökonomie seit drei Jahren im Krebsgang, und wahr ist auch, dass sich die kapitalistischen Unternehmen nur mühsam aus dem Konjunkturtief herausziehen. Aber die gesellschaftliche Wertschöpfung ist seit dem Börsen-Crash nicht geschrumpft und für das kommende Jahr wird ein Zuwachs beim Bruttoinlandsprodukt (der Summe aller Waren, Dienstleistungen etc.) von 1,7% in Aussicht gestellt. Wie also ist dieses Paradox zu erklären, dass nicht nur kleine Minderheiten Abstriche beim Lebensstandard erdulden müssen, sondern jetzt der großen Mehrheit der Bevölkerung ein sozialer Abstieg prognostiziert wird?

Die Aufhellung dieses Rätsels ergibt sich aus den massiven Änderungen in den Verteilungsverhältnissen. Alle Maßnahmen der Agenda 2010 - die verschiedenen Gesetzespakete zu einer Radikalreform des Arbeitsmarktes, der Umbau der Krankenversicherung, die Notmaßnahmen zur Sanierung der Rentenkassen und diverse Haushaltsbegleitgesetze - laufen auf eine Umverteilung ohne Wachstum hinaus. Bei den Hauptreformen ist dies offenkundig:

- Die Umschichtung von Belastungen durch die Änderungen in der gesetzlichen Krankenversicherung trifft die Patienten und die privaten Haushalte.
- Die Altersrentner werden im Jahr 2004 eindeutig weniger Geld in der Tasche haben.
- Die in verschiedenen Versionen im Berliner Parlament durchgesetzten Kürzungen beim Arbeitslosengeld, der Arbeitslosenhilfe, dem Unterhaltsgeld bei Weiterbildung etc. schaffen - wie erwartet - kaum neue Arbeitsplätze, sondern haben den Sinn, die Massenarbeitslosigkeit preiswerter zu machen. Selbst die wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute, die für tiefere Einschnitte in das soziale Netz eintreten, konstatieren die Erfolglosigkeit eines Großteils der Maßnahmen auf dem Arbeitsmarkt: "Die eingeleiteten Reformen tragen zwar dazu bei, die Flexibilität am Arbeitsmarkt zu erhöhen. Auch dürften die Dauer der Arbeitslosigkeit und damit die Zahl der Arbeitslosen durch die Intensivierung der Suchprozesse und die effizientere Vermittlung gesenkt werden. Das Arbeitsvolumen wird durch die Maßnahmen aber nur in geringem Maße erhöht, und dies wohl erst auf längere Sicht."
Noch entschiedener ist die Kritik von Heiner Flassbeck, früher Finanzstaatssekretär der rot-grünen Bundesregierung: Die Agenda 2010 stelle im Kern ein Programm dar, "das nur umverteilt, ohne etwas zu erwirtschaften. Wer etwas für Investitionen und neues Wachstum tun will, muss richtiges Geld in die Hand nehmen. Richtiges Geld wären, sagen wir, 20 Milliarden für öffentliche Investitionen oder für ein Vorziehen der gesamten Steuerreform. Solches Geld aber ist nicht da, sagt Herr Clement, obwohl er auch gerne etwas mehr ausgeben möchte. Hier liegt der Hund begraben."
Die rot-grüne Regierungskoalition verteilt um, sodass im Endeffekt große Teile der Bevölkerung Einbußen beim Lebensstandard haben. Das Katastrophale dieser Politik besteht außerdem darin, dass mit ihr keine Besserung absehbar ist. Die Regierung betreibt nicht nur Umverteilung mit der Gefahr der Verfestigung von Nullwachstum oder gar Schrumpfung der Wertschöpfung. Sie hat auch die öffentlichen Investitionen im internationalen Vergleich auf einen historischen Tiefststand abgesenkt. Früher oder später werden selbst die allgemeinen Bedingungen der gesellschaftlichen Reproduktion und der Kapitalverwertung (Infrastruktur, Bildung etc.) zum Hindernis für einen Ausbruch aus der Abwärtsspirale.
Warum betreiben Sozialdemokraten und Ökologen eine solch absurde Politik? Logischerweise gibt es auch hier unterschiedliche Antworten:
- Die Forschungsinstitute und das bürgerliche Lager werfen der rot-grünen Koalition zu viel soziale Rücksicht vor. Gefordert wird eine Konzeption aus einem Guss, was mit einer noch stärkeren Schlechterstellung von Teilen der Lohnabhängigen verbunden wäre.
- Ein Teil der politischen Linken sieht Sozialdemokraten und Grüne in der Pflicht, die sozialen Grausamkeiten im Interesse des Kapitals umzusetzen. "Rot-grün ist vor allem besser geeignet, die Veränderungen durchzusetzen, weil beide Parteien (...) noch immer Potenziale befrieden, die sich bei Stoiber die Freiheit zum Protestieren erlauben würden (...) Der Kapitalismus widmet sich in den Zentren seinen Opfern, um die Operationsbasis zu befrieden." (Trampert) Bei diesem Versuch, die kleinen Leute niederzudrücken, können auch größere Bestandteile des Kapitals selbst in Konkurs gehen, was als "Kollateralschaden" des an sich grausamen Kapitalismus gewertet werden müsse.
- Flassbeck und andere Keynesianer machen die Konfusion im wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Denken verantwortlich für die Unfähigkeit, eine größere Summe Geld in die Hand zu nehmen, um dem Kapitalismus wieder zu einer höheren Wachstumsdynamik zu verhelfen.
Die Aufforderung, mal wieder "richtiges Geld" in die Regierungshand zu nehmen und z.B. die öffentlichen Investitionen zu modernisieren, hat schon deswegen ein gewisses Maß an Plausibilität und mindestens verdeckter Sympathie, weil es schon im "goldenen Zeitalter des Fordismus" häufig so gemacht wurde. Also lassen wir den Maastricht-Stabilitätspakt rechts liegen und... Aber hier liegt der Hund begraben. Dies wird ja schon gemacht, tönen die Kritiker. Der Keynesianismus ist nicht tot, sondern quicklebendig. Denn in Deutschland werden im laufenden Jahr vermutlich 90 Mrd. Euro Neuverschuldung hingenommen; ob 90 Mrd. oder 110 Mrd. Euro oder etwas mehr, dürfe nicht die Rolle spielen, Hauptsache, raus aus der Abwärtsspirale.
Das Paradox des entfesselten Kapitalismus ist vollständig: Umverteilung ohne das Wirtschaftswachstum zu stimulieren, macht wenig Sinn. Aber eine kräftige Neuverschuldung macht gleichfalls nur als erster Schritt Sinn, wobei dann 20 Mrd. Euro mehr eher zu wenig sein dürften. Die gegenwärtigen Regierungen versuchen in der Tat die öffentlichen Haushalte auszugleichen und die sozialen Sicherungssysteme vor dem Kollaps zu bewahren. Zum einen setzen sie damit eine Deflationsspirale in Gang; der politisch programmierte Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage verstärkt den Abschwung; zum anderen gelingt die Konsolidierung nicht, die Neuverschuldung steigt trotzdem und die Beschädigung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage produziert weiteren Konsolidierungsbedarf bei anhaltender Abwärtsspirale.
Das Problem liegt im zweiten Schritt, der in der Regel offenkundig immer verweigert wird. Die Vermögensbesitzer kassieren für die gegenwärtig rund 1.300 Mrd. Euro Staatsschulden rund 50 Mrd. Euro Zinsen. Also wird bereits eine höhere Summe an Rückflüssen in Form von Zinszahlungen aufgewandt, als zur Durchbrechung der Abwärtsspirale - bspw. von Flassbeck - gefordert werden. Der zweite Schritt besteht in einer progressiven Besteuerung der Zinseinkommen. Wenn diese behutsame Politik des Machtverlustes der Vermögensbesitzer als zu zaghaft erscheint, müsste über Zwangsanleihen oder aber zinslose Notenbankkredite entschieden werden.
Die Agenda 2010 und die fortgeführte Neuverschuldung der öffentlichen Haushalte liegt im Interesse der Vermögensbesitzer. "Die Verschuldung des öffentlichen Sektors ist dabei denen hoch willkommen, die sonst nach Einsparungen rufen. Die Zinsen auf die Staatsschuld, die im sakrosankten Sekundärbudget verbucht werden, kommen den privaten Anlegern zu Gute. Kürzungen im Primärbudget, also im Staatshaushalt, sind unvermeidlich und werden von ihnen begrüßt. Das ist ein Perpetuum mobile der Umverteilung von unten nach oben, und zwar im globalen Maßstab. Man wird diesen verrückten Mechanismus anhalten müssen, um überhaupt an die tatsächlich notwendigen Reformen der sozialen Sicherungssysteme, an die Schaffung einer sozialen Demokratie im 21. Jahrhundert heran gehen zu können." (Elmar Altvater)
Ohne das Durchbrechen dieses verrückten Zusammenhanges von hohem Schuldenstand, erdrückenden Zinszahlungen, Steuerbefreiung und Privilegierung für Zinseinkommen - manchmal gesteigert durch kriminelle Steuerhinterziehung - und fortgesetzter Konsolidierung der öffentlichen Haushalte und Sozialkassen werden wir aus der ökonomischen Abwärtsspirale und der Zerstörung der Zivilisation nicht herauskommen. Alle, die den naheliegenden Einwand erheben: Es gäbe für einen solchen Politikwechsel kein politisches Subjekt, keinen Akteur, der die Aktionen der Aufklärung und des Protestes bündelt - sie haben recht. Es wäre gewiss falsch, auf eine überraschende Erneuerung in diesem politischen System zu hoffen. Wir müssen uns selbst bewegen, neue Formen der Aufklärung und des sozialen Protestes entwickeln.

aus Sozialsismus Heft Nr. 11 (November 2003), 30. Jahrgang, Heft Nr. 271