Zukunftsprojekte aus der Vergangenheit

Über die selbst verschuldete Unmündigkeit der Linken und ihre mögliche Rückkehr in die politische Arena

in (17.12.2002)

Kann man überhaupt sinnhaft und anregend, also mit Gewinn und Genuß, über die Perspektive der Linken in der Bundesrepublik Deutschland schreiben? Im Moment wahrscheinlich nicht. Die aktuelle Situation derjenigen, die über die Verwaltung des Status quo hinauskommen und sich den sozialen und ökologischen Zeitbomben der Gegenwart zuwenden wollen, ist eher unerfreulich. Das gilt gleichermaßen für die PDS, für die letzten Mohikaner in der SPD und ebenso für die linken Grünen. Sie alle spielen in der Politik dieser Republik wie auch im öffentlichen Diskurs gegenwärtig bestenfalls eine marginale Rolle. Und das hat auch seinen guten Grund, behaupten die wirtschaftsliberalen Modernisierer: Die Linke ist in ihrer Diagnose und in ihrer Therapie ein Phänomen von gestern, unfähig, das subtile Gefüge der heutigen Gesellschaften zu erkennen und noch weniger in der Lage, darauf mit angemessenen Rezepten zu antworten.

Auf diesen Vorwurf reagieren Sozialisten meist mit einer Mischung aus Beschwichtigung, Anklage und Forderung: Man wisse schon, daß die Gesellschaft von heute eine andere ist als vor hundert Jahren, aber sie sei immer noch zutiefst veränderungsbedürftig und müsse in nahezu jeder Hinsicht neu gestaltet werden. Nach welcher Vision aber zu gestalten wäre, darüber schweigt die Linke beharrlich. Weil sie kein Zukunftsbild hat, kann sie nur klagen und anklagen: Die Welt soll friedlicher, gerechter, sozialer und nachhaltiger werden. Der Staat soll regulierend eingreifen, um diesen Zielen näher zu kommen.

Daß solche Forderungen ihren Sinn haben, ist kaum zu bestreiten, weil die Schwachen den Schutz des Gesetzes und die helfende Hand des Staates brauchen. Was aber fast immer fehlt, ist der Entwurf für das Neue, die Position, die der Negation erst ihre Kraft verleiht und ihr - wenn man so sagen darf - einen Zug der Befreiung, der Emanzipation, vielleicht sogar der Lust verleiht. Wer den Verdacht, der Vergangenheit und dem Allheilmittel Staat verhaftet zu sein, glaubwürdig kontern und selbst wieder in die Offensive kommen will, muß ein eigenes Zukunftsprojekt präsentieren. Daran aber mangelt es allerorten. Dieses Eingeständnis wäre vielleicht der erste Schritt der Besserung.

Es gibt ein einfaches, man könnte fast sagen empirisches Experiment, um die Perspektiven der Linken zu testen. Als Redakteur des Freitag habe ich vor einiger Zeit versucht, Professor Rudolf Hickel in ein solches Experiment zu verwickeln: "Herr Hickel, lassen wir doch mal den üblichen, von außen argumentierenden Standpunkt der Kritik beiseite und begeben uns voll und ganz in die Verantwortung. Sie setzen sich auf den Stuhl von Wim Duisenberg und bestimmen zusammen mit anderen linken Ökonomen, die ebenfalls in den Rat der Europäischen Zentralbank berufen worden sind, die europäische Geldpolitik. Sie haben nun die Möglichkeit, die politische, institutionelle und instrumentelle Unabhängigkeit der Notenbank zu nutzen, um eigene Prioritäten durchzusetzen." So in etwa lautete meine Aufforderung an Hickel, als wir über den Inhalt eines längeren Zeitungstextes sprachen. Nun zählt Rudolf Hickel sicherlich zu den Ökonomen, die sich seit Jahren vergleichsweise konkret um wirtschaftspolitische Alternativen bemühen. Er hätte also prädestiniert sein sollen, dieses Experiment erfolgreich zu bestehen. Dennoch scheiterte es. Als gestandener Finanzökonom mit Blick für die wirtschaftspolitische Praxis hatte Hickel ohne Zweifel Wichtiges zu sagen, etwa, wie die Zinspolitik im Sinne von mehr Beschäftigung zu gestalten wäre. Aber mehr als einige Passagen über den veränderten Einsatz des einen oder anderen geldpolitischen Instruments kamen dann doch nicht dabei heraus, zumal der fertige Text immer wieder in die Haltung der äußeren Kritik zurückfiel.

Auf den ersten Blick scheiterte das Experiment, weil keine Bereitschaft bestand, sich voll und ganz auf den Standpunkt des Machens der Verhältnisse einzulassen. Das hatte sicherlich auch damit zu tun, daß Hickel die Anmaßung scheute, sich auf den Stuhl von Duisenberg zu setzen. Dahinter stand aber vermutlich auch ein anderes Problem: Dieser Standpunkt, also die Verantwortung ohne Wenn und Aber, war so noch nie in seiner ganzen Konsequenz durchdacht worden, und deshalb gab es für diesen Standpunkt letztlich auch keine schlüssige Konzeption.

Kurz vor der Bundestagswahl habe ich dieses Experiment mit einer anderen Person wiederholt. Gabi Zimmer wurde in einem Interview mit der utopischen Frage konfrontiert: Angenommen, die PDS erringt am 22. September 53 Prozent. Was wären die ersten Maßnahmen einer PDS-geführten Bundesregierung? Gabi Zimmer: "Auf jeden Fall würde diese Regierung für die Bundesrepublik den noch geltenden Bündnisfall der NATO aufkündigen. Das Zweite wäre die Novellierung des Arbeitszeitgesetzes und die drastische Reduzierung der Überstunden. Das Dritte wäre, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß die Vermögenssteuer wieder eingeführt werden kann". Frage: Eine solche Regierung würde nicht Kurs auf sozialistische Verhältnisse nehmen? Gabi Zimmer: "Das wäre wohl kaum möglich." Frage: Aber wenn der Souverän so entscheidet? Gabi Zimmer: "Eine Insel der Glückseligen in Europa oder weltweit wird es nicht geben, wir wären ja nach wie vor in der NATO und hätten diverse andere Verpflichtungen. Man kann nicht ein System sozusagen über Nacht durch ein anderes System ersetzen. Es ist eben utopisch."

Bei Gabi Zimmer also das gleiche Bild: Statt Visionen zu konkretisieren, greift sie in den Handwerkskasten politischer Instrumente und wagt nicht einmal, über den Augenblick hinauszudenken.

Mit den beiden Beispielen geht es mir nicht darum, die strategischen Fähigkeiten der beiden Gesprächspartner zu bewerten. Es geht um etwas anderes: Die beiden Beispiele illustrieren den Mangel an kreativer Utopie, an realistischer Vision, die über die Handhabung des einen oder anderen politischen Hebels hinausgeht. Man könnte an dieser Stelle einwenden, es handele sich in beiden Fällen ja nicht um wirkliche Experimente, sondern nur um gedankliche. Kritisieren könnte man auch, daß weder der Prozeß des Erlangens von mehr Macht und Einfluß noch die unausweichlichen Reaktionen des Establishments in der Gedankenübung auftreten. Ebenso wäre zu beklagen, daß der Test von vornherein undemokratisch, geradezu als Planspiel für Manager angelegt ist, weil er gesellschaftliche Veränderung als Aufgabe einzelner Personen oder Institutionen definiert, die an Stelle der Menschen handeln.

Die Einwände sind selbstredend allesamt zutreffend. Nur darum ging es nicht, sondern ausschließlich darum, die konzeptionelle Kraft der Linken zu testen, zu sehen, inwieweit die Eingriffspunkte in der Gegenwart mit eine längerfristigen Perspektive verbunden werden. Vielleicht sollte man den Test nur auf Vorschläge beziehen, die sich explizit der Aufgabe stellen, eine Vision für die längere Frist zu entwickeln. Was leistet beispielsweise der Programmentwurf der PDS, den André Brie, Michael Brie und Dieter Klein im vergangenen Jahr vorgelegt haben? (1)

In diesem Papier wird durchgehend normativ argumentiert. Es wird gesagt, wie dieses und jenes sein soll. Beispiel Bildung: Entscheidend sei es, so wird geschrieben, Demokratisierung und Chancen für alle zu gewährleisten und privatwirtschaftliche Interessen an kurzfristig verwertbarer Bildung zurückzudrängen. Schön und gut - aber wie verhält man sich zu den Widersprüchen, die dem Bildungssektor genauso immanent sind wie anderen Bereichen, in denen es um öffentliche Güter geht? Demokratisierung versus Leistungsfähigkeit, Erneuerung versus Besitzstandswahrung, Durchlässigkeit versus Jobinteresse - zu all diesen Themen schweigt der Entwurf. Wer aber so umfassend Rechte und Zugangschancen formuliert, der muß auch Pflichten und Auswahlkriterien benennen, wenn er in programmatischen Debatten nicht nur wolkig, sondern handfest argumentieren will. Ebensowenig ist ein Konzept zur Finanzierung öffentlicher Aufgaben zu finden. Hätte die PDS die Chance, dieses Programm zu verwirklichen, dann würde sie sofort merken, daß es ohne gravierende Ergänzungen nicht finanzierbar ist. Denn der Fluchtpunkt dieses Programms ist ein steiler Anstieg der Steuerquote. Eine von realen Widersprüchen ausgehende Argumentation wird nur dort geboten, wo es um das Kapital als Fessel für das "eigentlich schon heute Mögliche" geht. Nur, was soll mit dieser Fessel passieren? Zerschneiden, wegwerfen, lockern, relativieren, etwas anderes an seine Stelle treten lassen? Man bleibt irgendwie ratlos zurück.

Zusammenfassend lautet mein Einwand: Dieser Programmentwurf nimmt sich selbst nicht ernst. Er malt Wünschenswertes an die Wand und legt danach den Pinsel in die Ecke. Das Wünschenswerte müßte in seiner anzustrebenden Qualität verdeutlicht, vor allem aber auch in seinen Dimensionen bestimmt werden. Einander widersprechende Ansprüche wären abzuwägen. Auch der Prozeß der Durchsetzung eines solchen Programms wäre doch zumindest ansatzweise zu antizipieren. Ist es überhaupt denkbar, daß sich die Gemeinschaft der Bürger so stark macht, daß sie die private Wirtschaft auf so umfassende Weise in die Pflicht nehmen kann, wenn sich an den Organisationsformen der Unternehmen und an den Machtquellen des Kapitals zunächst nichts Wesentliches ändert?

Nach der Bundestagswahl vom 22. September hat der Bündnisgrüne Wolfgang Ullmann - nicht hämisch, sondern aus Besorgnis - die PDS aufgefordert, doch nun endlich zu klären, was sie unter demokratischem Sozialismus verstehen will. (2) Wie wichtig eine solche Klärung ist, hat sich auf dem Parteitag von Gera gezeigt. Gefangen in einer absurden Gegenüberstellung stand am Ende die Reinheit des eigenen Anspruchs gegen das Mitmachen im parlamentarischen System, das auch Kompromisse einschließt. Statt in eigener Souveränität schlüssige, visionäre, aber auch praxistaugliche Konzepte zu entwickeln und sich dann selbstbewußt zu fragen, unter welchen Bedingungen Koalitionen einzugehen sind oder nicht, auf welche Kernpunkte der eigenen Programmatik nicht verzichtet werden kann, hat sich die PDS auf das Glatteis einer abstrakten Diskussion begeben, die letztlich nur in der Bedeutungslosigkeit enden kann. Scheinbar gibt es hier eine Auseinandersetzung zwischen Mahnern und Machern. Aber abgesehen von einigen Nostalgikern, deren Leitbild sich in der Formel "DDR plus Westgeld plus Freiheit" erschöpft, sollte doch allen anderen klar sein, daß auf dem Boden dieser Bundesrepublik Deutschland der Streit um die Zukunft geführt werden muß.

In diesem entscheidenden Punkt haben aber weder die moralisierenden Ankläger noch die Pragmatiker viel zu bieten. Im Grunde lassen sich beide von der Vergangenheit inspirieren, nämlich vom goldenen Zeitalter des "Rheinischen Kapitalismus", in dem es vieles Wünschenswerte schon einmal gab, wie etwa sozialen Ausgleich, Erweiterung der Bildungschancen und der demokratischen Rechte, starke öffentlich-rechtliche Medien, Aushandeln von Interessen statt Dominanz des Shareholder Value. Mit Blick auf diese gefährdeten Errungenschaften kommt immer wieder die Vorstellung auf, daß man verlassenes Terrain doch nur neu besetzen müsse. Für viele westdeutsche Altlinke sind die Zustände, die man damals negierte, unter der Hand zum positiven Gegenentwurf geworden und zur Interpretationsfolie für die Mängel der heutigen Zeit. Grundlage des parallelen Fortschritts von Freiheit und Gerechtigkeit war aber damals eine beispiellose wirtschaftliche Entwicklung, mit Wachstumsraten, die es noch nie gegeben hatte und wohl nie wieder geben wird. (3) Und diese schöne Welt hatte einen gewaltigen Preis, den zunächst scheinbar niemand zahlen mußte und der auch heute immer wieder unterdrückt wird. Erst allmählich kam die Zerstörung der Umwelt und das zeitweilig überdeckte Desaster im Süden dieser Erde ins Bewußtsein.

Diese goldenene Zeitalter ist aber nicht nur materiell vorbei, sondern auch ideell. Im veröffentlichten Diskurs über gesellschaftliche Diagnosen und politische Therapien geben vor allem diejenigen den Ton an, die den Wirtschaftsbürger in den Mittelpunkt stellen, etwa nach dem Motto: Der einzelne Konsument oder Produzent weiß immer am besten selbst, was nützlich, effizient und damit gut und richtig ist. Selbst wenn die Liberalen als eigenständige politische Formation schwach sind - der Sieg des liberalen Standpunkts ist gleichwohl überwältigend und zeigt sich vor allem bei seinen ehemaligen Gegnern, die, ob sozialdemokratisch oder grün, zunächst den einzelnen Wirtschaftsbürger als Maß der Dinge setzen, bevor sie ihren letzten Rest sozialer und ökologischer Politik dazu geben oder es eben lassen.

Verglichen mit der Selbstgewißheit dieser neoliberalen Einheitsfront hat die Linke zur Zeit wenig zu bieten. Im Angesicht der vom Kapitalismus hervorgebrachten Hardware, die immer besser und immer billiger wird, bleibt sie stumm. Kommentiert sie den normalen Gang der bürgerlich-liberalen Welt, kommt fast immer ein Stottern heraus: Die Stimme kann nicht bewältigen, was gedanklich nicht zusammen paßt. Nur Unmenschlichkeit, Skandale, Kriege, soziale und ökologische Folgen kann die Linke noch kommunizieren. Ansonsten aber herrscht entweder Ratlosigkeit oder bestenfalls moralische Entrüstung.

Die Linke wird erst dann wieder Perspektiven in der Gesellschaft haben, wenn sie selbst Perspektiven für diese Gesellschaft hat. Um diese Perspektiven zu gewinnen, sollte sich die Linke mit aller gedanklichen Konsequenz auf den Standpunkt begeben: Wir müssen diesen Laden übernehmen. Das scheint absurd und wäre, wenn überhaupt, nur in Koalitionen und mit Kompromissen möglich. Dennoch ist diese Haltung wichtig, weil erst mit ihr der nötige Ernst, die nötige Konsequenz und damit vielleicht auch die unabdingbare Streitlust in die Sache kommt. Nur so werden auch die Dimensionen der Aufgaben sichtbar, die zu lösen sind. Mit anderen Worten: Die Linke braucht eine Zukunftsdiskussion, die sich aus der Froschperspektive des nach oben schauenden Forderns, Verlangens und Wünschens befreit.

Von den vielen Nüssen, die in dieser Diskussion zu knacken sind, ist die Wirtschaft sicherlich die härteste. Bisher beschränkt sich die Linke darauf, den privaten Unternehmen mit Argwohn zu begegnen und ihnen äußerlich Ziele vor die Nase zu halten. Die Wirtschaft soll gerecht, nachhaltig und - meist als nachgeordnetes Kriterium genannt - effizient sein und in den Dienst einer freien, kulturvollen und solidarischen Gesellschaft gestellt werden. In der Tat ist das Zurückholen verselbständigter Wirtschaftskreisläufe, die Wiedereinbettung des Ökonomischen in die Gesellschaft eine der wichtigsten Angelegenheiten der Zukunft. Wie aber soll die Wirtschaft, die, mit Geld als ihrem Medium und Profit als ihrem Ziel, in materieller Hinsicht notwendigerweise blind ist, Prioritäten verwirklichen, die ihr von außen gesetzt werden?

Die klassischen Instrumente sind staatliche Sanktionen und Gratifikationen, also Ordnungspolitik, Steuerpolitik und Wirtschaftsförderung. Mit wenigen Ausnahmen, wie etwa der Wertschöpfungsabgabe, gibt es in diesen Handlungsfeldern aber kaum Ideen der Linken, die sich qualitativ von den herkömmlichen Sichtweisen abheben. Bislang sind bestenfalls graduelle Unterschiede zu erkennen. Die Linke verlangt einen kräftigeren Einsatz regulativer Instrumente und die Beseitigung rechtsfreier Räume im internationalen Geschäft. So gesehen, verlangt die Linke die volle Durchsetzung und partielle Ergänzung des jeweiligen Ordnungs- und Rechtsrahmens, ohne Ansehen von Person und Unternehmensgröße. Der Standpunkt der Linken ist also die durch und durch faire bürgerliche Gesellschaft.

Selbstverständlich muß und kann Politik immer nur an dem ansetzen, was sie vorfindet. Dennoch: Angesichts der Größe der Aufgaben wird die herkömmliche Problembeschreibung und das darauf bezogene, herkömmliche Instrumentarium wohl nicht reichen. Denn was hätten wir gewonnen, wenn die Grundsätze fairer Besteuerung durchgesetzt, die Schutzfunktionen des Staates realisiert und die Chancengleichheit weitgehend Wirklichkeit wäre? Wir hätten eine Bundesrepublik, die wieder etwas sozialer, etwas gemütlicher, etwas zivilisierter geworden wäre. Aber noch längst nicht hätten wir ein Gemeinwesen, das sich seiner Verantwortung gegenüber der Natur und gegenüber den Menschen in den anderen Teilen dieser Welt wirklich stellt. (4)

Die Perspektive müßte also geweitet werden. Warum sollte nicht die Frage nach einer Vision für die Kernbereiche der Wirtschaft zumindest einmal gestellt werden. Und das hieße auch, daß sich der demokratische Sozialismus in die Höhle des Löwen begeben muß. Konkret: Was soll mit den Konzernen passieren? Wie gehen wir mit den vagabundierenden internationalen Kapitalströmen um? Abgesehen von periodisch aufkommender Folklore, wie etwa VEB Daimler- Chrysler, gibt es auf solche Fragen nicht ansatzweise eine Antwort. Vielleicht wäre es sinnvoll darüber nachzudenken, ob nicht die Tendenzen, die unter den Begriff Humankapital subsumiert werden, emanzipatorisch gewendet werden könnten. In vielen Unternehmen, zumal in den technologisch fortgeschrittensten, ist das Kapital insofern "human" geworden, als es eigentlich nur noch aus dem kreativen Potential der Mitarbeiter besteht. Ohne motivierte, qualifizierte, selbst handelnde, selbst kontrollierende Beschäftigte geht nichts, und die Entwicklung der Produktivkräfte unterstützt diesen Trend zur Dezentralisierung, Partizipation und Eigenverantwortung, indem sie mit Informations- und Kommunikationstechnologien die notwendigen Mittel liefert. Bislang allerdings sind die neuen Formen des Arbeitens und die gekappten Hierarchien eingebunden in Technologiewettläufe und Konkurrenzkämpfe. Könnten Ingenieure und Forscher möglicherweise irgendwann auf die Idee kommen, nach dem Sinn des wahnwitzig beschleunigten Hamsterrennens zu fragen? Zarte Pflanzen einer Politisierung des Technischen gibt es ja bereits: bei der Atomenergie, bei Verkehrssystemen und in der Gentechnologie.

Von Karl Marx stammt das schöne Wort, daß die Arbeitszeit als miserables Maß der Ökonomie zusammenbricht, sobald Wissenschaft und Technik die wesentlichen Quellen des Reichtums bilden. Dieser Aphorismus wird jedoch nicht von allein geschichtsmächtig. Die Linke müßte dem qualifizierten Personal in den Kernbereichen der Wirtschaft Denkangebote unterbreiten, damit es zu einem intensiven Diskurs kommt, der nach dem sozialen und ökologischen Sinn technologischer Umwälzungen fragt. Wenn das nicht geschieht, werden sich die gut Gebildeten und gut Bezahlten nicht nur aus den Kommandolinien der Großorganisationen befreien, sondern auch aus ihrer gesellschaftlichen Verantwortung.

Aber nicht nur auf diesen Feldern strategischer Bündnispolitik verzichtet die Linke auf eigene Beiträge. Auch die klassischen Themengebiete der Volkswirtschaft bleiben weitgehend unbearbeitet, obwohl allen klar sein sollte, daß auch eine gerechtere, bessere, nachhaltige Ökonomie ihre Regelmechanismen für rationale Investitionsentscheidungen, für sinnvolle Preisbildungen und für die effiziente Allokation von Ressourcen braucht. Den künftigen Produzenten und Konsumenten wird man nicht allein Altruismus oder gemeinwohlorientierte Vernunft zuschreiben wollen. Die Errungenschaften des demokratischen Rechtsstaats durch einen umfassenden Katalog sozialer und ökonomischer Rechte zu ergänzen, wäre gleichfalls eine unangemessene Antwort. So würde wieder nur die Ökonomie politisch konstituiert. Außerdem würden die schlummernden Schätze der Emanzipation, der Selbstentwicklung, der Kooperation nicht gehoben, sondern im Interesse eines passivierenden Anspruchsdenkens verfehlt.

Nun mag sich die Linke sagen, daß wir uns doch mit all diesen Fragen der wirtschaftlichen Organisation und der volkswirtschaftlichen Kreisläufe eigentlich gar nicht mehr beschäftigen müssen, weil sie ohnehin keine Zukunft haben können und dürfen. Dann allerdings müßte man angeben können, worin denn die Keimformen eines anderen Wirtschaftsmodells bestehen und wie sie verallgemeinert werden können. Abgesehen von Tauschringen, Reparaturbörsen, Genossenschaften und anderen Initiativen, die auf lokaler Ebene sinnvoll sein können, gibt es zwei vielversprechende Denkrichtungen, die nicht auf den Tellerrand einer Müsli-Ökonomie beschränkt bleiben, sondern sich zentralen Fragen zuwenden.

Zum einen geht es um den Versuch, das Linux-Modell auf andere Bereiche wirtschaftlichen Handelns zu übertragen: Kann die Erstellung eines Betriebssystems in freier und gleicher Kooperation von Software-Entwicklern als Organisationsmodell für die Produktion anderer Güter und Dienstleistungen dienen? Das Projekt Oekonux, eine Mailingliste von Informatikern und interessierten Laien, diskutiert seit mehr als zwei Jahren diese Frage. Bei aller Mannigfaltigkeit der teils intelligenten, teils romantisch-naiven Diskussionsbeiträge schälen sich doch zwei Antworten heraus. Das Linux-Modell taugt zumindest für Teilbereiche geistiger Produktion, versagt aber, wenn es darum geht, die trivialen Dinge des Lebens hervorzubringen, die man nicht allein dem Faktor "Spaß und Interesse" anvertrauen kann. Dennoch ist die Diskussion, die sich um das Phänomen Linux rankt, wichtig und erhellend, weil sie entgegen allen bisherigen Traditionen nach der Vereinbarkeit von individueller Produktion und vergesellschaftetem Eigentum fragt. Denn bei der Entwicklung von Linux war die Produktion jeweils ein individueller Akt und das Ergebnis wurde anschließend zum Gemeineigentum der interessierten Community. Daß an einer wichtigen Frontlinie wissenschaftlich-technischen Fortschritts über die Möglichkeit, Sinnhaftigkeit und Überlegenheit eines Modells vergesellschafteten Eigentums diskutiert wird und daß in vielen anderen Bereichen, insbesondere in der Biotech- und Gentechnikdebatte, die Grenzen individualisierbaren und privatisierbaren Eigentums offenkundig oder doch zumindest strittig geworden sind, nährt die Hoffnung, daß die Kopfarbeiter sich irgendwann darauf besinnen, daß die Produkte des Geistes doch eigentlich öffentliche Güter sind. (5)

Neben den Diskussionen und Projekten, die nach den Chancen für eine Vergesellschaftung geistiger Produktion suchen, gibt es einen zweiten Hoffnungsträger, der am Energieproblem ansetzt. Wie wir alle wissen, muß das fossile Zeitalter so schnell wie möglich enden, wenn die Erde als lebenswerter Raum erhalten werden soll. Erneuerbare und weitgehend emissionsfreie Energien zu fördern, ist deshalb eine mehrheitsfähige Maxime geworden. Aber die Energiewende könnte, sollte und müßte auch zu einer ökonomischen Wende werden. Hermann Scheer, SPD-Bundestagsabgeordneter und unermüdlicher Vorkämpfer eines auf solare Energie gegründeten Wirtschaftsmodells, hält 100-Prozent-Szenarien für möglich und benennt die Konsequenzen, die eine Vollversorgung mit erneuerbaren Energien haben könnte. Weltweite, politisch nicht beherrschbare und ökologisch nicht verantwortbare Energieketten wären obsolet. Unter Einbeziehung der Landwirtschaft als Produzent von Biomasse könnten regionale Ressourcenmärkte entstehen. Für Unternehmen und Bürger ergäbe sich die Perspektive einer weitgehenden Energiesouveränität.

Wenn es der Linken gelänge, über die genannten Fragen ökonomischer Organisation, volkswirtschaftlicher Kreisläufe und emanzipatorischer Potentiale einen gehaltvollen Diskurs zu initiieren, dann könnte es vielleicht irgendwann auch einen Gegenentwurf geben, der dem herrschenden Neoliberalismus selbstbewußt entgegen gestellt wird. Es könnte ein Gegenentwurf sein, der Gerechtigkeit nicht nur durch staatliche Eingriffe, sondern auch durch neue Formen der Freiheit, der Selbstbestimmung, der Kooperation und der Regionalisierung herzustellen versucht. In diesem Kontext eines aufgeklärten Sozialismus könnte die Linke dann auch ihren alten Hammer aus der Tasche ziehen und überall dort Verstaatlichung verlangen, wo volkswirtschaftliche Effizienz privat nicht gewährleistet werden kann oder wo natürliche Monopole sich reproduzieren und klarer Regulierung bedürfen wie etwa bei den UMTS-Netzen.

Erhobenen Hauptes in die politische Auseinandersetzung zu gehen, wäre mit solchem Rüstzeug wieder möglich. Die Sozialisten würden nicht ständig den anderen politischen Kräften hinterher hecheln und sich fragen, wie das von ihnen verlassene Terrain besetzt werden kann, sondern selbst Maßstäbe setzen. Schon bald könnten originäre Antworten gefordert sein. Was ist zu tun, wenn sich die "japanische Krankheit" - jahrelange Stagnation trotz riesiger Konjunkturprogramme und trotz eines nahe bei Null liegenden nominalen Zinsniveaus - auf andere Länder ausdehnt? Was wird die Linke sagen, wenn eine gigantische Welle der Kapitalvernichtung durch die Weltwirtschaft rauscht, wenn Schuldenpyramiden zusammenbrechen? Wird sie rechthaberisch den Finger heben, aber ansonsten schweigen, weil sie theoretisch und praktisch im vergangenen Jahrhundert stecken geblieben ist?

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Hans Thie - Jg. 1957; Dr. oec., freischaffender Publizist.

(1) "Für uns ist sozialistische Politik eine Politik, die gleiche politische und soziale Möglichkeiten von Freiheit für jede und jeden schaffen will. Freiheit ist der Bezugspunkt dieser Politik. Gleichheit ist das Maß, das diese Politik an den Zugang zu den grundlegenden Freiheitsgütern anlegt. Ohne Gleichheit ist Freiheit nur die Kehrseite von Ausbeutung. Und ohne die Schaffung der realen Bedingungen freier Selbstverwirklichung für jede und jeden ist jede Gleichheit Unterdrückung. Freiheit und Gleichheit haben eine gemeinsame Wurzel - Solidarität." Programm der Partei des Demokratischen Sozialismus, Entwurf, vorgelegt von André Brie, Michael Brie und Dieter Klein am 27. April 2001.

(2) "Eine neuartige Formulierung von Sozialstaatlichkeit müßte Teilhaberrechte verfassungsmäßig gewährleisten, um einer weiteren zerstörerischen Parzellierung der Gesellschaft entgegenwirken zu können. Sollte in dieser Richtung nicht eine politisch präzise Definition von demokratischem Sozialismus als Verbindung von Freiheit und Gleichheit gegen die altkapitalistische (heute "neoliberal" genannte!) Aufhebung der Gleichheit zugunsten privatisierter Freiheit gefunden werden können, verbunden mit der Erfahrung, daß privatisierte Freiheit Willkür und genau jenes Chaos ist, für das die Entfremdung und der soziale Unfrieden der global cities stehen?" Wolfgang Ullmann in: Freitag, Nr. 40, 27. September 2002.

(3) "Märkte, auf denen Beschränkungen herrschen, sind in jeder Gesellschaft die Norm, freie Märkte dagegen das Ergebnis von Planung und politischem Druck. Laissez-faire kann nur Resultat eines zentral und systematisch umgesetzten Willens sein... Demokratie und freier Markt sind keine Verbündeten, sondern Gegenspieler." John Gray: Die falsche Verheißung, Berlin 1999, S. 29 f.

(4) "Unterschwellig löst das Wort Sonne Assoziationen an ästhetischem Genuß aus, an Urlaub, guter Laune, ganz emotional. Daß diese gleiche leichte, heitere Sonne die herkömmliche Energie überflüssig machen soll, die nur durch gigantischen Zerstörungsaufwand errungen werden kann, ist der entscheidende gedankliche Sprung in eine andere Welt - und der fällt schwer." Carl Amery und Hermann Scheer: Klimawechsel. Von der fossilen zur solaren Kultur, München 2001, S. 91.

(5) "Wenn ich recht habe in meiner Annahme, daß es verhältnismäßig leicht sein sollte, Kapitalgüter so reichlich zu machen, daß die Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals Null ist, mag dies der vernünftigste Weg sein, um allmählich die verschiedenen anstößigen Formen des Kapitalismus los zu werden. Denn ein wenig Überlegung wird zeigen, was für gewaltige gesellschaftliche Änderungen sich aus einem allmählichen Verschwinden eines Verdienstsatzes auf angehäuften Reichtum ergeben würden." John Maynard Keynes: Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, Berlin 1936 (7. Auflage 1994), S. 185.

in: UTOPIE kreativ, H. 146 (Dezember 2002), S. 1080-1087