Die Aufarbeitung von NS-Unrecht mit den Mitteln des Strafverfahrens
"Dadurch war aber der Gerichtshof überfordert, der nur zu einem einzigen Zweck zusammentritt, nämlich dem, Recht zu sprechen; alle anderen Ziele, auch wenn sie an sich legitim sind - wie etwa "eine geschlossene Dokumentation des Hitlerregimes vorzulegen, die der Prüfung durch die Geschichte standhält" (Robert G. Storey), die bereits in Nürnberg versucht wurde -, können hiervon nur ablenken; sie werden zudem unweigerlich das eigentliche Rechtsverfahren, das heißt die erhobene Anklage, die Urteilsfindung und die Festsetzung des Strafmaßes, in einem zweifelhaften Licht erscheinen lassen."1
Diese Feststellungen Hannah Arendts im Zusammenhang mit dem Strafprozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem (1961) scheinen auf einen Gegensatz zwischen der Aufarbeitung nationalsozialistischen Unrechts mit Mitteln des Strafrechts einerseits und denen der historischen Forschung andererseits hinauszulaufen. Anders müsste man die Sache sehen, wenn in diesen Verfahren wirklich Geschichte vor Gericht stünde.2
Dann müssten die RichterInnen immer auch HistorikerInnen sein, um ihrer Aufgabe gerecht zu werden. Die Prozesse, die unter nationalsozialistischer Herrschaft verübte Verbrechen zum Gegenstand haben und die mittlerweile seit über 60 Jahren stattfinden, bilden den Anknüpfungspunkt für die folgenden Anmerkungen zu der Frage, was Strafverfahren als Reaktion auf makrokriminelles Unrecht leisten können.3
Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. Neuausgabe 1986.
Frei, Norbert / van Laak, Dirk / Stolleis, Michael (Hrsg.): Geschichte vor Gericht. Historiker. Richter und die Suche nach Gerechtigkeit. 2000.
Jäger, Herbert: Makrokriminalität. Studien zur Kriminologie kollektiver Gewalt. 1989.
von Münch, Ingo: Geschichte vor Gericht. Der Fall Engel. 2004.
Rückerl, Adalbert: NS-Verbrechen vor Gericht. Versuch einer Vergangenheitsbewältigung. 2. Aufl. 1984
Rüter, Christiaan F. / de Mildt, Dick W.: Die westdeutschen Strafverfahren wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945-1997. Eine systematische Verfahrensbeschreibung mit Karten und Registern. 1998.
1 Arendt 1986, S. 301.
2 So der Titel zweier Publikationen, die sich mit der strafrechtlichen Aufarbeitung nationalsozialistischen Unrechts beschäftigen: von Münch 2004 und Frei/van Laak/Stolleis (Hrsg.) 2000.
3 Der Begriff Makrokriminalität geht auf Herbert Jäger zurück, s. Jäger 1989.
4 Vgl. Günther Jakobs, Vergangenheitsbewältigung durch Strafrecht? Zur Leistungsfähigkeit des Strafrechts nach einem politischen Umbruch, in: Josef Isensee (Hrsg.), Vergangenheitsbewältigung durch Recht. Drei Abhandlungen zu einem deutschen Problem. 1992, S. 37-64.
5 S. statt aller Jäger 1989.
6 Arendt 1986, S. 17.
7 So fordern beispielsweise die Verbrechen gegen die Menschlichkeit einen ausgedehnten oder systematischen Angriff gegen die Zivilbevölkerung.
8 Vgl. die Darstellung bei Rückerl 1984 sowie bei Rüter/de Mildt 1998. Ergänzend http://www1.jur.uva.nl/junsv/inhaltsverzeichnis.htm
9 Zahlen bei Rückerl 1984, S. 329. Davon erfolgten freilich mehr als die Hälfte zwischen 1945 und 1949 vor Gründung der Bundesrepublik.
Rädchen im Getriebe
Eine erste Antwort ergibt sich aus einer Funktionsbestimmung von Strafverfahren. Diese werden eingesetzt, um eine Streitigkeit abschließend zu klären. Sobald der vorgesehene Instanzenzug beschritten ist, wird eine endgültige Entscheidung gefällt, die grundsätzlich innerhalb des Rechtssystems nicht mehr in Frage gestellt werden kann: Sie erwächst in Rechtskraft. Im Rahmen des Strafverfahrens wird der Konflikt auf die Schuld der Angeklagten reduziert, wie sie sich nach der Beurteilung anhand strafrechtlicher Normen darstellt. Diese Zuweisung von Verantwortungsbereichen und die Individualisierung von Schuld ist das wesentliche Charakteristikum des Strafverfahrens. Unter den Reaktionsmöglichkeiten auf makrokriminelles Unrecht wird die strafrechtliche Fokussierung auf das Individuum wahlweise als der größte Vorzug oder als die größte Limitation begriffen. Als Kritik wird zunächst vorgebracht, dass die Begehung eines "industriellen Massenmords" wie des Holocausts nur durch ein komplexes Zusammenwirken zahlreicher Personen, Verantwortungshierarchien mit teilweise unübersichtlichen Motivlagen der einzelnen Beteiligten möglich ist. Zweitens wird eingewandt, dass das Verhalten der TäterInnen innerhalb des Unrechtsregimes als normkonform erscheint und somit lediglich als "Produkt dieser pervertierten Ordnung", nicht aber als deren Grund genannt werden könne.4 Der individuelle Ansatz des Strafrechts müsste demnach zwangsläufig an der Realität kollektiver Gewaltphänomene scheitern. In dieser Darstellung geht die Bedeutung der Strafjustiz bei der Aufarbeitung nationalsozialistischen Unrechts gegen Null. Selbst wenn man davon ausgeht, dass dem Strafrecht dieser Fokus auf die individuelle Verantwortlichkeit wesenseigen ist, fällt diese Darstellung jedoch zu einseitig aus. Die kriminologische Forschung hat gezeigt, dass das Individuum nicht gleichsam mechanisch in das kollektive Geschehen verstrickt wird.5 In den Worten des Nürnberger Urteils bleibt festzuhalten, dass "Verbrechen gegen das Völkerrecht [...] von Menschen und nicht von abstrakten Wesen begangen" werden. Selbst wo die Taten nicht in einer Disposition der TäterInnen zur Aggressivität gründen, ist diese nicht als persönlichkeitsfremd einzustufen. Es ist vielmehr die Bereitschaft zur Einbindung in den Gruppenzusammenhang und zur Befolgung von Autorität, die für die Durchführung solcher Verbrechen konstitutiv ist. Gerade darin liegt u. U. die "Banalität des Bösen", die laut Hannah Arendt im Eichmann-Prozess zutage getreten ist. Dies hindert jedoch nicht die Zuweisung und Abgrenzung individueller Verantwortungsbereiche. Insoweit besteht ein Aufgabenbereich für die Strafjustiz bei der Aufarbeitung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen, da ein Strafverfahren ermöglicht, dass "alle Räder und Rädchen im Getriebe [der "Endlösung"] vor Gericht automatisch wieder in Täter, also in Menschen zurückverwandelt" werden.6Lauter Bäume und der Wald
Der Gefahr, beim Fokus auf die einzelne Tat deren gesellschaftlichen Kontext aus den Augen zu verlieren, lässt sich mittels zweier juristischer Strategien begegnen. Die erste Strategie besteht in einer Anklagepolitik, die von der systematischen Zusammenlegung von Verfahren gekennzeichnet ist. Diese Strategie wurde beispielsweise vom hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer verfolgt, der stets versuchte, möglichst größere Komplexe zur Anklage zu bringen. Exemplarisch und am erfolgreichsten geschah dies im Auschwitz-Prozess (1963-65). In dem Verfahren gegen Robert Mulka u. a., hat Bauer die Anklage gegen alle noch lebenden Angehörigen des Personals des Konzentrationslagers Auschwitz zusammengefasst, um den Holocaust durch den Fokus auf seinen paradigmatischen Vollstreckungsort in den Blick zu bekommen. Die zweite Strategie stellt die Anwendung völkerstrafrechtlicher Tatbestände dar. Die Kernverbrechen des Völkermords, der Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen enthalten alle Tatbestandsmerkmale, welche die Verbindung einzelner Handlungen zu dem politischen und gesellschaftlichen Kontext herstellen, innerhalb dessen sie verübt werden.7 Dieser Weg war bei der strafrechtlichen Verfolgung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen in West-Deutschland nicht möglich, da die Haltung der Bundesrepublik gegenüber dem Völkerstrafrecht lange Zeit von Ablehnung geprägt war. Aber selbst in diesen bundesdeutschen Verfahren, die sich oftmals an § 211 Strafgesetzbuch (StGB) orientierten, warf die Subsumtion unter die allgemeinen Vorschriften des Strafgesetzbuches Fragen nach dem historischen Kontext auf. Die Klärung des Unrechtsbewusstseins und des Vorliegens eines Befehlsnotstands ließ sich ohne Kenntnis der gesellschaftlichen Realität des Dritten Reiches oftmals nicht erreichen. Im bereits erwähnten Auschwitz-Prozess wurden daher zahlreiche historische Sachverständigengutachten vorgetragen, beispielsweise mit dem Titel "Das Problem des Befehlsnotstands bei den von dem nationalsozialistischen Regime befohlenen Verbrechen aus historischer Sicht".Auf der Suche nach der Wahrheit
Somit erfolgt im Strafverfahren, innerhalb der bisher skizzierten Grenzen, auch eine Klärung des historischen Sachverhalts. Die Beschränkung der Gerichte auf die zulässigen Beweismittel sowie der Kontext des gerichtlichen Verfahrens geben der so produzierten Wahrheit ihre spezifische Gestalt. So besteht im Rahmen der Zeugenvernehmung prinzipiell eine Aussagepflicht, die nur durch spezielle Zeugnis- und Aussageverweigerungsrechte eingeschränkt ist. Unwahre Aussagen sind darüber hinaus gemäß §§ 153 ff. StGB strafbewehrt. Im Hinblick auf Dokumente räumt die Strafprozessordnung den Behörden ein Beschlagnahmerecht ein. Somit ist unter Umständen dieser Zugriff auf Personen und Dokumente gegenüber der Arbeit von HistorikerInnen vorteilhaft, gleichzeitig ist davon auszugehen, dass diese Zwangsrechte, insbesondere im Hinblick auf Zeugenaussagen, der Wahrheitsfindung nicht immer zuträglich sind. Vor diesem Hintergrund verbietet sich ein unreflektierter Zugriff auf die Tatsachenfeststellungen in Urteilen. Zu berücksichtigen sind selbstverständlich auch die durch materielle und prozessuale Normen gezogenen Grenzen. Die materiellen Tatbestände bestimmen, welcher Ausschnitt der Vergangenheit überhaupt verfolgt werden kann. Besondere Bedeutung kommt dem Verfahrenshindernis der Verjährung zu, welches beispielsweise dazu geführt hat, dass nach 1960 nur noch Mord geahndet werden konnte. Und da ein Strafverfahren in Abwesenheit der Angeklagten nach deutschem Recht nicht möglich ist, setzt ein Verfahren stets voraus, dass man der Beschuldigten habhaft werden kann.Das sich wandelnde Mosaik
Die Aufarbeitung makrokriminellen Unrechts zeichnet sich dadurch aus, dass aufgrund der hohen Zahl der Täter eine umfassende Verurteilung innerhalb eines einzelnen Gerichtsverfahrens ausgeschlossen ist. Der Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher hat die oberste Führungsriege des NS-Staates abgeurteilt, aber natürlich bei weitem keine umfassende Strafverfolgung leisten können. Die Verfahren erstrecken sich damit über einen längeren Zeitraum, der vom Nürnberger Prozess bis in die Gegenwart reicht.8 Da Tatsachenfeststellungen bekanntermaßen nicht in Rechtskraft erwachsen, ist die Rekonstruktion historischer Sachverhalte durch ein Strafgericht demnach für kommende Strafverfahren - zumindest rechtlich - ohne Bedeutung. Insoweit lässt sich die strafrechtliche Aufarbeitung des NS-Unrechts nicht nur anhand eines einzelnen Verfahrens ablesen, sondern es muss hier der kollektive Prozess in seiner zeitlichen Erstreckung berücksichtigt werden: Es entsteht ein Mosaik, bei dem im Laufe der Zeit immer wieder andere Partien besondere Aufmerksamkeit erfahren. Dabei muss sich die Gegenwart stets neu zur Vergangenheit positionieren, jedes Strafverfahren zur Aburteilung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen entwirft somit ein eigenes Bild von der Gesellschaft, in der diese Verbrechen stattgefunden haben.Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm
Dieses Bild wird aber zu einem großen Teil auch von dem gesellschaftlichen Hintergrund der Personen bestimmt, die über diese Verbrechen zu Gericht sitzen. So erscheint es rückblickend verwunderlich, dass der Nürnberger Prozess den Angriffskrieg und Kriegsverbrechen der Nationalsozialisten in den Vordergrund stellte, während der Holocaust, der heute als das paradigmatische Verbrechen des Dritten Reiches erscheint, eine vergleichsweise untergeordnete Rolle spielte und der Tatbestand des Völkermords nicht einmal eigens aufgeführt wurde. Aber seine Natur als Militärtribunal der Siegermächte hat letztlich dieses Verfahren entscheidend geprägt. Fragen der nationalen Identität spielten im israelischen Verfahren gegen Adolf Eichmann in Jerusalem ebenso eine wichtige Rolle wie in den französischen Verfahren gegen Klaus Barbie, Paul Touvier und Maurice Papon (in den 1980er und 1990er Jahren). Die Strafverfahren in der DDR waren von anti-faschistischem Engagement ebenso geprägt wie von mangelnder Rechtstaatlichkeit, insbesondere fehlenden verfahrensrechtlichen Gewährleistungen für die Angeklagten. Die sog. Waldheimer Prozesse von 1950 sind zum Synonym für diese Form der Strafverfolgung geworden. Vor diesem Hintergrund wäre es naiv anzunehmen, dass gerade die bundesdeutschen Verfahren frei von solchen externen Einflüssen gewesen sind. Die Strafverfahren bis Mitte der 1950er Jahre waren noch geprägt von der Verfolgung von Delikten, die auf deutschem Boden gegen nicht-jüdische deutsche Opfer begangen wurden. Die Verfolgung des Holocausts war zunächst sehr zögerlich. Insgesamt wurden vor allem Eliten, d. h. Führungsschichten in Staat, Militär und Wirtschaft, tendenziell geschont. Kritikwürdig ist auch die völlige Straflosigkeit von NS-Richtern. Und die überspannte Interpretation der subjektiven Tätertheorie, nach der selbst Personen, die eigenhändig getötet hatten, oftmals nur wegen Beihilfe zum Mord verurteilt wurden und deshalb mit unverständlich milden Strafen davongekommen sind, muss als skandalös bezeichnet werden. Diese Einwände sind zu berücksichtigen und verhindern eine uneingeschränkt positive Bewertung der rund 6500 Verurteilungen durch deutsche Gerichte auf bundesdeutschem Gebiet.9Ende?
Die TäterInnengeneration stirbt langsam aus. Damit geht die strafrechtliche Aufarbeitung des Nationalsozialismus zu Ende und wird selbst zum historischen Gegenstand. Welche Lehren lassen sich für zukünftige strafrechtliche Reaktionen auf makrokriminelle Erscheinungsformen ziehen? Die Anerkennung der Leiden der Opfer und die Brandmarkung der Handlungen als Verbrechen kann in besonderer Weise durch Strafverfahren erreicht werden. Die Rationalisierung, die eine Verrechtlichung des Konflikts mit sich bringt, ist eine wichtige Antwort auf das Ende einer Phase entfesselter Gewalt. Die Attribuierung individueller Verantwortlichkeit ist wichtig, da sie Handlungsalternativen aufweist. Angesichts der großen Zahl der Täter sind jedoch die spezifischen Selektionsprozesse bei der Strafverfolgung zu berücksichtigen. Die begrenzten Kapazitäten, insbesondere internationaler Strafgerichtshöfe, verschärfen dieses Problem zukünftig eher noch. Nur eine erhöhte Transparenz dieser Entscheidungsprozesse kann hier Abhilfe schaffen. Insgesamt sollte man sich davor hüten, die Erwartungen an die strafrechtliche Aufarbeitung von Makrokriminalität zu hoch anzusetzen. Gerichte können nicht im Alleingang die zugrunde liegenden Konflikte lösen. Dies kann höchstens in einem gesamtgesellschaftlichen Prozess geschehen. Nur durch eine aktive Zivilgesellschaft, mit einem offenen Ohr für die Ergebnisse der historischen und sozialwissenschaftlichen Forschung, lässt sich die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit erkenntnisfördernd gestalten. Salif Nimaga promoviert an der FU Berlin und arbeitet an der HU Berlin in den Bereichen Rechtssoziologie und Völkerstrafrecht.Literatur