Grundirrtümer des Neoliberalismus

Einer der Grundirrtümer des Neoliberalismus ist die Behauptung, die Globalisierung würde den Wohlstand aller Nationen erhöhen und dazu beitragen, die Teilung der Welt in Arm und Reich zu überwinde

1: Globalisierung - eine neue Epoche beginnt

Was die Weltwirtschaft anlange, meinte Kurt Tucholsky vor 80 Jahren, so sei sie verflochten. Auf diesem satirischen Niveau der Zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts verharren heute noch viele politische Akteure, sowohl linker wie neoliberaler Denkungsart. Manche linken Wirtschaftswissenschaftler und -politiker leugnen oder negieren die neue Qualität der weltwirtschaftlichen Verflechtung, weil sie so das Alibi der nationalen Politik, man müsse wegen globaler Sachzwänge die sozialen, ökologischen und konjunkturpolitischen Standards aufgeben, aus dem Weg räumen wollen. Neoliberale Propagandisten wie der frühere FDP-Minister Graf Lambsdorff preisen das "Manchestertum" und den von ihm durchgesetzten "freien Welthandel", der schon vor 150 Jahren den größten sozialen Aufschwung der Menschheit erbracht habe, als Rezept und Legitimation der heutigen Globalisierung. (Otto Graf Lambsdorff: Die Aktualität von "Manchester": Freiheit und Freihandel als soziale Politik. Rede vor dem liberalen Institut der Friedrich-Naumann-Stiftung, 26.5.2004. Die FDP-Stiftung, deren Vorsitzender Lambsdorff ist, hat sich die Propagierung der neoliberalen Globalisierung als Lösung der sozialen Weltprobleme zum Schwerpunkt gesetzt. Siehe www.fnst.org)
Lambsdorffs monströse Behauptung zur historischen Rolle von Kapitalismus und Freihandel - bekanntlich entstieg vor rund 150 Jahren dem wachsenden sozialen Elend der Arbeiterklasse in den Industrieländern das "Gespenst des Kommunismus" - einmal beiseite, manche Neu-Keynesianer und Neoliberale eint das Beharren darauf, dass für Wirtschaft und Gesellschaft, wenn die politischen Akteure nur wollten, die überkommenen Geschäftsgrundlagen gelten könnten, weil die Globalisierung keine grundsätzlich neue Situation geschaffen habe. Tatsächlich aber haben wir es mit einer prinzipiell neuen Art von globaler wirtschaftlicher Verflechtung zu tun, die es nahe legt, "Globalisierung als Prozess der Transformation einer Gesellschaftsformation zu fassen, als eine 'great transformation' des späten 20. Jahrhunderts" (Elmar Altvater / Birgit Mahnkopf: Grenzen der Globalisierung. Ökonomie, Ökologie und Politik in der Weltgesellschaft. Münster 2004, S.31) Der Vergleich mit der "great transformation" beim Übergang zum industriellen Kapitalismus vor 200 Jahren ist deshalb gerechtfertigt, weil sich Globalisierung nicht nur und nicht in erster Linie durch das Anschwellen der grenzüberschreitenden Waren- und Kapitalströme konstituiert, sondern durch die Herausbildung globaler wirtschaftlicher Parameter, die für alle "Volkswirtschaften" verbindlich sind. "Globalisierung ist ein gesellschaftliches Verhältnis, das in ökonomischen, technischen, kulturellen Prozessen am Ende des 20. Jahrhunderts strukturierend wirkt." (A.a.O., S. 38).
Ein Vergleich mit den Ausgangsdaten 1945, dem Ende des Zweiten Weltkriegs, gibt ersten Aufschluss über die neue Qualität. "Seit damals stiegen die Weltproduktion um 500% und der Welthandel um 1.200%, die Ausländischen Direktinvestitionen (ADI), also der Aufbau von Produktionsstätten im Ausland, aber um 3.600 %." (Conrad Schuhler: Unter Brüdern. Die USA, Europa und die Neuordnung der Welt. Köln 2003, S. 99). Die sich aus den ADI addierenden Kapitalbestände haben sich weltweit seit 1980 auf 7,1 Billionen Dollar mehr als verzehnfacht, betragen also fast ein Viertel des jährlichen Weltsozialprodukts. In den Entwicklungsländern machen die ADI-Bestände ein Drittel der Volkseinkommen aus. 1980 waren es noch 13%. (UNCTAD: Developed Countries dominate world FDI Stock. Press Release, 25.8.2003). Allein auf die Auslandstöchter der Transnationalen Unternehmen - rund 65.000 mit 850.000 Auslandsfilialen - entfallen 11% des Welt-Sozialproduktes (1990:6,5%) und ein Drittel der Weltexporte. (UNCTAD: World Investment Report 2002, S. XV). Mutter- und Tochtergesellschaften zusammen erstellen ein Viertel des Welt-Sozialprodukts, sind für zwei Drittel des Welthandels verantwortlich und realisieren vier Fünftel der weltweiten Forschung und Entwicklung. (Leo Mayer/Fred Schmid: Die Macht der Multis. isw-Forschungshefte 1, München 2002, S. 11). Mehr als ein Viertel der gesamten Wirtschaftsaktivität der Welt fließt als Einnahmen in die Kassen der 200 größten Transnationalen Konzerne. (Der Spiegel, 30/2001). Globalisierung und wachsende Macht der Größten gehören zusammen. Betrug der Anteil der 100 größten Transnationalen Konzerne 1990 schon 3,5 % am Welt-Sozialprodukt, so waren es 2000 sogar 4,3%. (UNCTAD, a.a.O., S. 91)
So gewaltig sich die sprunghaften quantitativen Zuwächse auch ausnehmen, die eigentliche "Sprengkraft" liegt in der neuen Qualität der ADI. Die Transnationalisierung der Konzerne bedeutet nicht einfach, dass "Multis" ihr überschüssiges Kapital im Ausland anlegen, um dort Produkte für diesen Markt herzustellen oder dort Waren - beispielsweise Rohstoffe oder landwirtschaftliche Güter - für den Weltmarkt zu produzieren. Vielmehr machen es die modernen Informations- und Transporttechnologien - "the death of distance" - sowohl möglich als auch rentabel, dass die Transnationalen Konzerne (TNK) ihre Produktionsprozesse in einzelne Segmente zerlegen und weit von einander entfernte Produktionsstätten zu globalen Wertschöpfungsketten verknüpfen können. Mit Hilfe der neuen Technologien vermag das Management, die jeweils günstigsten nationalen Bedingungen an Qualifikationen der Arbeitnehmer, an Löhnen, Steuern, Krediten, Subventionen usw auszuschöpfen. Diese Entwicklung zur "globalen Fabrik" zeigt sich einmal im "Transnationalitätsindex" der 100 größten TNK der Welt. Über 50% von deren Umsatz und Beschäftigten entfallen auf das Ausland, und die Transnationalität nimmt jedes Jahr zu, von 1999 auf 2000 von 52,3% auf 55,7% (UNCTAD: World Investment Report 2002, S. 89). Dass die global verteilten Produktionsstätten der TNK Teile eines global integrierten Produktionsnetzes sind, erweist sich zum anderen darin, dass ein Drittel des gesamten Welthandels sogenannter "intra-firm trade" ist, also innerhalb der globalen Wertschöpfung der einzelnen TNK stattfindet. (UNCTAD: World Investment Report 2000, S. 17).
Damit das weltweit operierende Kapital den Globus ungehindert als Verwertungsraum nutzen kann, müssen nationale Beschränkungen fallen. Diesem Ziel dienen die Anstrengungen von Internationalem Währungsfonds, Weltbank und vor allem der Welthandelsorganisation (WTO), die ein weltweites Investitionsregime installieren will. Bei der letzten WTO-Konferenz Ende 2003 in Cancun/Mexico ist der entsprechende Versuch einer internationalen Regelung fürs erste vor allem am Widerstand der Schwellenländer gescheitert. Man darf aber nicht übersehen, dass der "freie Kapitalverkehr" weitgehend mit Hilfe "Bilateraler Investitionsverträge" (BITs) durchgesetzt wird. Ende 2002 gab es 2.181 solcher Verträge. 26 Industrieländer haben im Durchschnitt 45 BITs abgeschlossen. Auf jedes der betroffenen 150 Entwicklungsländer kommen durchschnittlich 12 BITs. 95% der BITs haben die Begünstigung ausländischer Direktinvestitionen zum Inhalt. (UNCTAD: 2002 a record year for liberalizing FDI laws and regulations. Presse Release, 21.8.2003) Wir haben es also mit einem engmaschigen internationalen Netz zu tun, das Völker, Kulturen und Natur für die Verwertungsbedürfnisse des transnationalen Kapitals zurecht bindet. Alle Volkswirtschaften und Gesellschaften unterliegen nun durch "benchmarking" (jeder unternehmerische Vorgang wird am international profitabelsten Beispiel gemessen und entsprechend getätigt, unterlassen oder korrigiert) und dem "Rating" der Profitfähigkeit der gesamten Gesellschaft durch spezialisierte Agenturen globalen Kriterien kapitalistischer Verwertung.
Die "globale Fabrik" unterwirft den gesamten Globus und alle Kulturen der Rationalität des global operierenden Kapitals. Dies ist das eine fundamental neue Strukturprinzip. Die Globalisierung der Finanzmärkte und deren Diktat über die Produktion ist das andere. Analog zur Entwicklung der ADI haben sich auch die Umsätze auf den Devisenmärkten weit schneller erhöht als Produktion und Handel. Von den 80er zu den 90er Jahren haben sie sich auf rund 1,2 Billionen Dollar pro Tag verfünffacht. Für die Zirkulation des Welthandels würden täglich 27 Milliarden $ ausreichen. Die internationalen Finanztransaktionen haben also nur noch zu 2% mit Handel, zu 98% aber mit Kredit und Spekulation zu tun. (Altvater/Mahnkopf, S. 185f.) Hauptquelle der weltweiten Finanzgeschäfte sind die Transnationalen Konzerne, die Ende der Neunziger Jahre über 13 Billionen Dollar an mobilisierbarem Vermögen verfügten, Pensionsfonds und Versicherungen, die zusammen über 13 Billionen aufbieten konnten und Privatpersonen, die damals 29 Billionen Dollar aufzuweisen hatten. (A.a.O., S. 189). Im Jahr 2001 verfügten 7,1 Millionen Dollar-Millionäre über ein Geldvermögen von 30 Billionen Dollar, was dem Welt-Sozialprodukt entspricht. (Vgl. Christoph Deutschmann: Ende und Wiederkehr des Keynesianismus - Rätsel der aktuellen Wirtschaftspolitik. In: Leviathan, Jg. 31, Nr. 3, S. 291 - 302). Die privaten Finanzvermögen wachsen weit schneller als das Bruttosozialprodukt, in Deutschland in den letzten 30 Jahren doppelt so schnell. Heute beträgt in Deutschland das Geldvermögen Privater fast das Doppelte des Bruttoinlandsprodukts. Diese gewaltigen Vermögen kreisen um den Globus auf der Suche nach der profitabelsten Anlage. Es geht längst nicht mehr um die Finanzierung "innovativer Unternehmer", deren scharenweises Auftreten nach Schumpeter die Konjunktur in die Höhe treibt, nicht mehr um die reale Akkumulation, sondern um die finanzielle Akkumulation, die Vermehrung der Geldvermögen. Deshalb verwandelt sich "die historische Form (..) in einen Casino-, in einen Arbitrage- oder Derivatenkapitalismus". (Altvater/Mahnkopf, S. 170).
Dass Kapital nicht mehr unter dem Gesichtspunkt der Mehrung von Gebrauchswerten, sondern primär der Vermehrung von Geld, von Tauschwert, eingesetzt wird, ist ein Kennzeichen des globalen Kapitalismus. Dies gilt nicht nur für institutionelle Anleger und Spekulanten, sondern auch für die Unternehmen. Geld in den Transnationalen Konzernen wird nach den Prinzipien des Shareholder Values, des Höchstertrags für den Kapitaleinsatz, verwendet. Ziel ist nicht mehr die Stärkung der Innovationskraft, die Entwicklung neuer Produkte u.ä, sondern die Erzielung eines im internationalen Vergleich maximalen "Geschäftswertbeitrages", d.h. der maximalen Verzinsung des eingesetzten Kapitals. Diese Verzinsung wird in den kurzen Frequenzen der Börsen- und Analystenrhythmik gemessen. Es geht nicht mehr darum, ob Technologie entwickelt und der Markt mit mehr und besseren Produkten bedient wird, und es genügt auch nicht, dass Arbeit einen höheren Wert schafft, als sie selbst kostet - einziges Kriterium ist, dass sie in kurzer Frist einen Profit auf internationalem Höchstniveau zeitigt. (Vgl. dazu Conrad Schuhler: Schöne Neue Siemens Welt. Von der "Siemens-Familie" zur "new corporate culture". München 2003, S. 14ff)
Wenn wir über den angeblichen Segen der Globalisierung urteilen wollen, müssen wir also wissen, dass es sich dabei nicht schlechthin um den "internationalen Freihandel" oder um einen Expansionsvorgang des Kapitalismus handelt, wie wir ihn seit Jahrhunderten kennen. Wir haben es vielmehr mit dem neuen strukturbestimmenden Element der heutigen Weltordnung zu tun: wo auch immer auf dem Globus, ob es sich um Wirtschaft, Kultur, Natur oder Menschen handelt - es fällt unter die Inwertsetzung durch das globale Kapital, oder es wird, wenn es für das globale Kapital wertlos oder nicht wertvoll genug ist, exkludiert, vom sozio-ökonomischen Prozess ausgeschlossen.

II: Komparative Kostenvorteile: Die Theorie vom allgemeinen Nutzen der internationalen Arbeitsteilung und warum sie mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat´

Internationaler Handel, so das Credo der neoliberalen Globalisierungsbefürworter, führe über die Vertiefung der Arbeitsteilung zu mehr Produktion und Wachstum und zur Zunahme von Beschäftigung und Wohlstand aller, wenn denn die politisch gesetzten Schranken wie Zölle, Subventionen u.ä. fallen. Dieses Credo theoretisch zu fundieren, macht sich Hans-Werner Sinn im Widerspruch zu seinem Gestus als Weltökonom kaum die Mühe. Lapidar heißt es: "Durch die Konkurrenz der Händler und die Reaktionen der Produzenten, die die Händler mit ihren Waren beliefern, entsteht vielmehr die Möglichkeit, dass sich die Anbieter, seien es einzelne Menschen, Firmen oder ganze Länder, auf die Produktion jener Güter konzentrieren, bei denen sie vergleichsweise günstige Bedingungen haben und Größenvorteile in der Produktion realisieren können. Die Vorteile kommen den am Handel beteiligten Volkswirtschaften ganz allgemein zugute und erhöhen den Lebensstandard aller." (Hans-Werner Sinn: Ist Deutschland noch zu retten? München 2003, S. 86).
Was der Chef des Ifo-Instituts hier beiläufig und etwas umständlich hinsetzt, soll eine populäre Version der Theorie der komparativen Kostenvorteile sein, die David Ricardo, ein englischer Börsenmakler und Ökonom entwickelt hat (David Ricardo: Principles of Political Economy and Taxation. London 1817. / Über die Grundsätze der Politischen Ökonomie und der Besteuerung. Berlin 1959) und die bis heute als theoretische Begründung der zunehmenden internationalen Arbeitsteilung fungiert. Andere neoliberale Propagandisten strengen sich auf dem Feld der Theorie mehr an als der Ifo-Mann. So widmen Balser/Bauchmüller, zwei Wirtschaftsredakteure der Süddeutschen Zeitung, die ausführliche Einleitung ihrer Schrift gegen die Globalisierungsgegner (Markus Balser/Michael Bauchmüller: Die 10 Irrtümer der Globalisierungsgegner - wie man Ideologie mit Fakten widerlegt. Frankfurt/Main 2003, S. 8ff) dem Ricardo-Theorem.
Ricardo war in einem entscheidenden Punkt über Adam Smith hinausgegangen, der im Widerspruch zu den Merkantilisten, für die der Außenhandel der eigenen Nation Überschüsse in Form von Gold und Silber zu erzielen hatte, bereits die Vertiefung der internationalen Arbeitsteilung als Faktor der Steigerung des Wohlstands aller Nationen postulierte. ( Adam Smith: An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations. Chicago 1976 (1776)) Hätte das Modell der Merkantilisten der Realität entsprochen, so hätte der gesamte internationale Handel schnell zum Erliegen kommen müssen. Denn wenn jede Nation positive Handelsbilanzen aufweisen will, bleibt kein Land übrig, das diese Überschüsse bezahlen könnte. Handelsbilanzüberschüsse und -defizite müssen sich definitorisch immer ausgleichen. Nach der Theorie von Adam Smith nun nehmen die verschiedenen Länder am Welthandel mit den Gütern teil, die bei ihnen am kostengünstigsten hergestellt werden können. Jetzt bedeutet der Vorteil - die Zunahme des Exports - des einen nicht mehr den Nachteil - das Handelsbilanzdefizit - des anderen. Indem jedes Land sich auf die Produktion jener Waren konzentriert, bei denen es absolute Kostenvorteile hat, wird die Produktmenge und Produktivität von allen erhöht. Überall wird für größere Märkte produziert, was die Kosten senkt, überall wird die Arbeitskraft im internationalen Vergleich optimal eingesetzt, was die Produktmengen und die Produktivkräfte im internationalen Maßstab anhebt. Bei ausgeglichenen Bilanzen ist der Wohlstand aller Nationen gestiegen.
Doch auch dieses Smithsche Modell enthält einen großen weißen Fleck. Was geschieht, wenn ein Land in absoluten Kosten gemessen bei allen Waren Nachteile aufweist? Kann es dann nichts ausführen? Und umgekehrt: Wenn es denn nichts ausführen kann, erzielt es auch keine Einnahmen, um Importe zu bezahlen. Das Land, das bei allen Gütern das wettbewerbsfähigste ist, würde zwar alle anderen niederkonkurrieren können, müsste dann aber bald seine Exporte mangels internationaler Kaufkraft einstellen. Hier nun fand Ricardo die weiterführende Erklärung, dass nicht die absoluten, sondern die komparativen Kostenvorteile entscheidend seien für die Teilnahme am internationalen Handel. Denn selbst wenn ein Land in der Lage ist, sämtliche Güter und Dienste zu niedrigeren Kosten anzubieten als irgendein anderes, so ist es für dieses doch von Vorteil, sich auf die Produkte zu konzentrieren, bei denen es die größten Kostenvorteile hat, und andere Produkte, bei denen es einen absoluten, aber geringeren Kostenvorteil hat, arbeitsteilig anderen Ländern überlässt und von diesen einführt.
Ricardos berühmtes Beispiel bezieht sich auf Portugal und England, die beide Wein und Tuch produzieren, wobei Portugal bei beiden Produkten absolute Kostenvorteile hat. (Pikanterweise drehen Balser/Bauchmüller in ihrer Schrift gegen die Globalisierungskritiker das Länder-Verhältnis um: Bei ihnen ist es England, das bei beiden Produkten vorne liegt. Ihre Ricardo-Umdeutung geht noch weiter. Angeblich habe Ricardo "der Einfachheit halber" vorausgesetzt, dass die Waren sich in Arbeitszeit umrechnen lassen. Mit Einfachheit hat dies aber nichts zu tun, sondern nach Ricardo bestimmt sich der Wert der Waren tatsächlich nach dem Quantum der in sie eingegangenen Arbeit. Da die Arbeitswertlehre im neoliberalen Katechismus aber nicht vorkommen darf, müssen die Autoren solche geistigen Verrenkungen vollführen. A.a.O., S. 9) Da der Kostenvorsprung beim Wein aber größer ist als beim Tuch, ist es für Portugal vorteilhafter, auf die Tuchproduktion zu verzichten, und die freigesetzte Arbeit mit relativ größerer Effektivität bei der Weinproduktion einzusetzen. Den zusätzlichen Wein exportiert Portugal nach England, das seinerseits die Produktion von Wein eingestellt und die bisher dort gebundene Arbeit auf die Tuchproduktion umgeleitet hat. Portugal erhält im Austausch eine größere Menge an Tuch, als es früher produzieren konnte. Durch die binationale Arbeitsteilung wurde mit der selben Menge an Arbeit eine größere Menge von Wein und Tuch hergestellt, zugunsten der Versorgung in beiden Ländern.
Das Ricardosche Modell hat - ungeachtet auch immanenter Fragwürdigkeiten wie z.B. die Annahme international homogener Arbeit - seine unbestreitbare Logik. Das Problem besteht darin, dass die tatsächlichen Bedingungen der Globalisierung es jeder Aussagekraft berauben. Zwei Gründe vor allem sind es, die das Theorem der komparativen Kostenvorteile für die Erklärung der globalen Entwicklung untauglich machen. Der erste liegt darin, dass die Prozesse von Produktion und internationalem Austausch ganz wesentlich und zwangsläufig politisch bestimmt sind. Anders als zu Zeiten des Goldstandards werden Währungen und Zinsen - wesentliche Parameter des internationalen Austauschs - politisch reguliert. Auch die heftigste Forderung nach freiem Walten der Marktkräfte kann dieses Prinzip nicht aufheben. De facto organisieren die Industrieländer mit den größten komparativen Vorteilen bei den "modernen" Waren über Zölle, Subventionen, internationale Investitions- und Kreditregimes Austauschverhältnisse zu Ungunsten der Marktschwächeren. Es sind gerade die Propheten des "ungehinderten internationalen Güteraustauschs", die eine immer striktere Kontrolle der globalen Märkte durchsetzen. Der Internationale Währungsfonds beaufsichtigt - "monitors" - die makroökonomische Politik seiner 184 Mitgliedsstaaten. Ebenfalls 184 Mitgliedsstaaten zählt die Weltbank Die Welthandelsorganisation (WTO) umfasst 146 Mitgliedsländer und stellt Regeln für 97% des Welthandels und für die globale Investitionstätigkeit und den globalen Wettbewerb auf und wacht über deren Einhaltung. Alle diese Organisationen werden von den USA und den übrigen großen Industrieländern dominiert. (Conrad Schuhler: Unter Brüdern. S. 112 ff) Die "Terms of Trade", die Preisrelationen der gehandelten Waren, verschlechtern sich seit vielen Jahrzehnten ständig zu Ungunsten der Entwicklungsländer. Nach den Erhebungen von UNDP verloren die Entwicklungsländern in den Neunziger Jahren über solche politisch verfügten Nachteile jährlich 500 Milliarden Dollar, zehnmal so viel, wie sie an "Entwicklungshilfe" bekamen.
Doch entkräftet nicht nur die globale politische Regulierung durch die Institutionen des globalen Kapitals den Erklärungswert des Theorems der komparativen Kosten. Im praktischen wie theoretischen Sinn viel gravierender ist, dass Investitionen heute weltweit nicht unter dem Gesichtspunkt komparativer Kosten, sondern unter dem der absoluten Kosten vorgenommen werden. In unserer kurzen Analyse der Globalisierung haben wir die herausragende Bedeutung der Entwicklung hin zur "globalen Fabrik" begründet. Ricardo ging noch von der internationalen Immobilität von Kapital und Arbeit aus. Strukturbestimmend für den globalen Kapitalismus sind jedoch nicht Investoren, die im nationalen Rahmen nach komparativen Vorteilen suchen, sondern Transnationale Konzerne, die über Kapitalexport ihre Wertschöpfungsketten weltweit aufgliedern und dort Einzelteile (oder auch ganze Produkte) herstellen, wo die Kosten global gesehen absolut am niedrigsten sind. Die Parole vom ungehinderten internationalen Güteraustausch hat nicht mehr zur Grundlage die Mehrung des Wohlstands der Nationen durch intensivere Arbeitsteilung zwischen diesen Nationen, sondern hat zum Ziel, ungehindert Kapital dorthin zu schieben, wo es die absolut billigsten Produktionsfaktoren antrifft, mithin die höchsten Profite erzielt. Die im abstrakten Modell Ricardos prognostizierten segensreichen Wirkungen der vertieften internationalen Arbeitsteilung können nicht stattfinden, weil das Kapital sich längst nicht mehr am nationalen Verwertungsraum orientiert, sondern sich diese Art von globaler Struktur geschaffen hat. Die Logik dieses globalen Kapitalismus drückt über das Ausspielen der "nationalen Wettbewerbsstaaten" gegeneinander die sozialen Standards weltweit nach unten - "der Wohlstand der Nationen" wird systematisch gesenkt, um die Profite der TNK maximal zu heben.
Mit noch größerer Wucht drückt der internationale Finanzmarkt in die selbe Richtung. Die riesigen Geldvermögen haben überwiegend gar nichts mehr zu tun mit Herstellung und Verteilung von Gebrauchswerten. Die jährlichen Gesamtinvestitionen belaufen sich weltweit auf nicht mehr als 6 Billionen Dollar. Die Geldvermögen indes liegen mittlerweile bei rund 60 Billionen Dollar, die rund um den Erdball auf der Suche nach der absolut höchsten Verzinsung sind, und diese auch noch möglichst kurzfristig erzielen wollen.(Vgl. Kapitel 1) Bei diesem Missverhältnis von Geldvermögen und Anlagemöglichkeiten geht es den Geldvermögensbesitzern nicht um die reale, sondern um die finanzielle Akkumulation. Der Casino-Kapitalismus, das Wetten auf die besten Aktien, und das räumliche und zeitliche Strecken des vorhandenen Kapitalstocks über Derivate aller Art schaffen den Aktionsraum für das überschüssige Geldkapital. Der "Wohlstand der Nationen" ist dabei für die internationalen Kapitalmärkten nur insofern ein Faktor, als er ihnen in Form von komparativ höheren Sozial- und Entlohnungssystemen im Wege steht. Die Geldvermögensbesitzer platzieren ihr Geld dorthin, wo die durch globales "benchmarking" und "rating" ermittelten Objekte die absolut höchste Verzinsung erwarten lassen. Das Denken in komparativen Kostenkategorien ist der Logik dieser Kapitalmärkte wesensfremd, ja entgegengesetzt - es geht ihnen um den absoluten Höchstprofit im globalen Verwertungsraum.

III: Globalisierung als Gefahr für den "Wohlstand der Nationen" - der empirische Befund

Dass die Globalisierung allen Beteiligten zugute kommt, gehört zwar immer noch zum Mantra der Neoliberalen, doch bekommt der Glaubenssatz heute einen neuen Akzent. Zu offensichtlich ist, dass die Globalisierung den Arbeitnehmern in Deutschland und anderen Industrieländern erhebliche Nachteile bringt. Von 1986 bis 1996 haben die 100 größten deutschen Unternehmen ihre Beschäftigung im Inland um 6% abgebaut, im Ausland aber um 60% aufgestockt. (Max-Plack-Institut für Gesellschaftsforschung: Arbeitsbeziehungen in Deutschland. Wandel durch Internationalisierung. Köln 2002, S. 16f). Bei den großen Global Players, die auch für den Arbeitsmarkt am stärksten ins Gewicht fallen, findet die Umschichtung der Beschäftigung zu Ungunsten der "Mutterländer" noch schneller und tiefgreifender statt. Bei den 100 größten TNK der Welt - wozu acht deutsche gehören, von den ersten 200 stellt Deutschland 20 - liegt der Auslandsanteil der Beschäftigung klar über 50%. Auf diesem hohen Niveau entwickelt sich die Beschäftigung weiter gegenläufig: Während die ausländische Beschäftigung von 1999 auf 2000 um 1,1 Millionen zunahm, ging sie in den "Mutterländern" um über 200.000 zurück. (UNCTAD: World Investment Report 2002, S. 89).
Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag schätzt, dass deutsche Unternehmen in der letzten Zeit pro Jahr 45.000 Arbeitsplätze ins Ausland verlagern. (Vgl. Sinn, a.a.O., S. 61) Die Entwicklung beschleunigt sich derzeit, auch wegen der Osterweiterung der EU, rasant. Siemens, das Unternehmen beschäftigt schon heute nur noch 43% seiner Belegschaft in Deutschland, trägt sich nach Informationen des Gesamtbetriebsrates mit dem Gedanken, weitere rund 70.000 Arbeitsplätze aus Deutschland in Niedriglohn-Länder zu transferieren. Siemens-Chef von Pierer hat verlauten lassen, dass man über höhere Beschäftigung in Deutschland reden könne, wenn die Belegschaft einverstanden wäre, gratis fünf Wochenstunden mehr zu arbeiten. Dies ist der Kern der Globalisierungsbotschaft des Kapitals an die Arbeitnehmer in den Industrieländern: Entweder Ihr akzeptiert das soziale Niveau der Niedriglohn-Länder, oder wir gehen mit unserem Kapital dorthin. Komparative Unterschiede in den Arbeitsbeziehungen und Sozialsystemen werden nicht mehr geduldet.
Da die Globalisierung so offenkundig das Leben der Massen der Arbeitnehmer in den Industrieländern verschlechtert, hat man die Botschaft "leicht verändert". Hans Tietmeyer, von 1993 bis 1999 Präsident der Deutschen Bundesbank und seitdem Vorsitzender der "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft", also eine höhere Charge der Propagandatruppen des Neoliberalismus, schlägt den neuen Ton an: "Zweifellos kostet die Verlagerung von Leistungen an kostengünstigere Standorte in den Industrieländern auch Arbeitsplätze. Doch der Saldo aus verlorenen und neuen Jobs ist weltweit positiv. Über die Verteilung dieser Arbeitsplätze entscheidet allerdings der Wettbewerb. Industrieländer müssen deshalb eine Frage beantworten: Können und dürfen wir den Entwicklungsländern Wachstumschancen verbauen, weil wir unsere Wirtschaftsstruktur nicht verändern wollen?" (Hans Tietmeyer: Global ist sozial. In: Cicero 6/2004, S. 116). Erwiesen habe sich , "dass die `Multis`mit ihren Investitionen vielfach einen wichtigen Beitrag zur Steigerung des Lebensstandards in den jeweiligen Gastländern leisten". (A.a.O., S. 117).
Arbeitnehmer in der "Ersten Welt", die ganz offenkundig zu den Verlierern der Globalisierung gehören, sollen ihre Zustimmung zur neuen Weltordnung nicht mehr aus materiellen Gründen geben - "mehrt unser aller Wohlstand" - sondern aus moralischen Erwägungen - "wir können doch nicht gegen Wachstum und Erhöhung des Lebensstandards in den Armen Ländern sein, nur weil wir gewisse materielle Nachteile haben". Selbst wenn natürlich zu bestreiten ist, ob der Wohlstand der Massen der Bevölkerungen in den verschiedenen Ländern ein Null-Summenspiel sein muss, so ist zunächst zu untersuchen, ob die zugrundeliegende Behauptung, die Globalisierung brächte der Armen Welt einen Aufschwung des Lebensstandards, wirklich zutrifft. Es wird sich erweisen, dass sie ebenso falsch ist wie die theoretischen Prämissen der Globalisierungsideologie.
Aufschlussreich ist wieder einmal die Untersuchung der einschlägigen Einlassungen von Hans-Werner Sinn, der beispielhaft falsche Daten mit irreführenden Statistiken verknüpft. (Obwohl er natürlich nicht der einzige neoliberale Theoretiker ist, der skrupellos mit Zahlen umgeht. In der zitierten Eloge auf die Globalisierung - "Global ist sozial" - versteigt sich Ex-Bundesbankchef Tietmeyer zu der Behauptung, Globalisierung könne auch die Macht an den Märkten relativieren: "Nach UN-Angaben fiel der Anteil der 50 größten Konzerne am Weltsozialprodukt zwischen 1990 und 2000 - obwohl die neunziger Jahre das Jahrzehnt der Globalisierung waren." A.a.O., S. 117. Ein schönes Beispiel dafür, wie man "mit der Wahrheit lügen kann". Die fragliche UN-Statistik - UNCTAD: World Investment Report 2002, S. 91 - gibt in der Tat wieder, dass die größten 50 Konzerne von 1990 auf 2000 von 2,9% auf 2,8% Anteil am Weltsozialprodukt zurück gegangen sind. Eine Zeile darüber ist zu lesen, dass der Anteil der 20 größten sogar von 1,8 auf 1,5% gesunken ist. Doch eine Zeile tiefer wird der Witz dieser Statistik deutlich: Der Anteil der 100 größten Konzerne ist im selben Zeitraum von 3,5 auf 4,3 % gestiegen. Im Jahrzehnt der Globalisierung haben sich in allen Branchen Global Players gebildet, deren Phalanx eine immer größere Abteilung der Weltproduktion ausmacht, während die bisherigen Allergrößten demgegenüber anteilmäßig geringfügig zurücktreten. Es ist nicht leicht zu verstehen, dass ein Experte wie Tietmeyer diesen Zusammenhang nicht begriffen haben soll.) So behauptet er in seinen Thesen zur Rettung Deutschlands unter Berufung auf Studien von Surjit Bhalla, "der Anteil der Menschheit, deren Realeinkommen unter einer standardisierten Ein-Dollar-pro-Tag-Grenze liegt, (ist) vom Jahr 1980 bis zum Jahr 2000 von 44% auf 13% gefallen". (A.a.O., S. 87). Diese Behauptung ist objektiv unwahr. Im "Bericht über die menschliche Entwicklung 2003" dokumentiert UNDP, dass der Anteil dieser unter der absoluten Armutsgrenze lebenden Menschen im Jahr 2000 23,3 % ausmachte. Nimmt man China, das in den letzten zehn Jahren mit einem durchschnittlichen Wachstum von über 9% eine Sonderentwicklung durchlief, heraus, dann liegt der Anteil sogar bei 25 %. Es handelt sich um 1, 2 Milliarden Menschen. Lässt man wiederum China, das in der fraglichen Periode 150 Millionen Menschen über die absolute Armutsgrenze brachte, aus der Rechnung heraus, dann hat diese Form äußerster Armut in absoluten Zahlen in diesem Jahrzehnt forcierter Globalisierung weltweit sogar um 28 Millionen zugenommen. (UNDP, a.a.O., S. 51)
Handelt es sich in diesem Fall um eine glatte Falsch-Behauptung der Globalisierungs-propagandisten, so geht es im nächsten Beispiel um den unredlichen Umgang mit Statistiken. "(Die Globalisierung) ist ein erheblicher Beitrag zur Überwindung der Teilung der Welt in Arme und Reiche. Vor 20 Jahren bestand die Welt aus den 14% Reichen, die in den OECD-Ländern lebten, und den 86% Armen im Rest der Welt. Mit Indien, China, den südostasiatischen Tigerländern und den OECD-Staaten beträgt heute der Anteil der Menschen, die in Ländern leben, die die Armutsfalle überwunden haben, bereits 55%." (Sinn, a.a.O., S. 86f) Dieser statistische Vergleich ist deshalb irreführend, weil in ihm die gesamte Bevölkerung von Ländern, die in den Länderdurchschnitten über der Armutsgrenze liegen, den "Reichen" zugeschlagen, also die Ungleichverteilung von Einkommen innerhalb der Länder außer Acht gelassen wird. Misst man die Einkommensentwicklung unabhängig von Ländergrenzen direkt bezogen auf alle Weltbürger, dann "lässt sich ablesen, dass die globale Ungleichverteilung ... zwischen 1987 und 1998 gestiegen ist." (UNDP, a.a.O., S. 49). Festzustellen ist "ein zunehmendes Einkommensgefälle zwischen den Reichsten und Ärmsten... und ein Rückgang bei der mittleren Einkommensgruppe der Weltbevölkerung". (A.a.O.)
Dieses wachsende Einkommensgefälle ist kennzeichnend sowohl für das Verhältnis zwischen den reichsten und den ärmsten Ländern wie auch für die Lage in den Entwicklungsländern selbst. So ist "die Armut sogar in solchen Ländern angestiegen, in denen die Wirtschaft insgesamt gewachsen ist. In 33 von 66 Entwicklungsländern, für die Daten vorliegen, verschärfte sich über die letzten zwanzig Jahren das Ungleichgewicht bei den Einkommen." (A.a.O., S. 7) Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen spricht von "Inseln verfestigter Armut" in diesen Ländern. Da es sich aber in der Regel um relativ kleine Wachstumszonen im Verhältnis zur gesamten Volkswirtschaft handelt, ist es wohl zutreffender, von "produktiven Inseln" inmitten eines Meers größer werdender Elends auszugehen.
Ein aufschlussreiches Beispiel liefert Indien, das mit seinen 520.000 IT-Ingenieuren zum Offshoring-Ziel Nr. 1 der IT-Industrie geworden ist. Ihren Wahlkampf 2004 stellte die bis dahin regierende Bharatiya Janata Party (BJP) unter den Slogan: "India shining". Die Partei des "strahlenden Indiens" erlitt eine verheerende Niederlage. Sieger wurde die Kongress-Partei, die das wachsende soziale Elend des Landes in den Mittelpunkt ihres Wahlkampfs rückte. Während die halbe Million IT-Ingenieure ihr für die Landesverhältnisse gutes Auskommen fand, hat sich die Lage der 600 Millionen Bauern durch die erzwungene Öffnung des Landes für Kapital und Waren dramatisch verschlechtert. Eine durchschnittliche ländliche Familie hat heute 100 Kilogramm weniger im Jahr zu essen als noch Anfang der Neunzigerjahre. (Süddeutsche Zeitung, 4.6.2004). 44% der Bevölkerung, 450 Millionen Menschen, leben von maximal 1 $ pro Tag. (John P. Neelsen: Indien - zwischen Globalisierung und Fundamentalismus. In: Sozialismus 6/2004, S. 54) Auf dem "Index menschlicher Entwicklung", den das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen nach den Kriterien Lebenserwartung, Alphabetisierung und Schulbesuch zusammen stellt, liegt Indien, das Dorado der globalen IT-Industrie, auf Platz 127, unmittelbar hinter Marokko, Betsuana und Namibien. (UNDP, a.a.O., S. 285. Ähnliche Probleme weist auch China auf. Trotz der Fortschritte im Bereich der absoluten Armut, reißt die Kluft zwischen den relativ kleinen städtischen Wachstumszonen und dem riesigen agrarischen Hinterland immer weiter auf. China belegt auf dem "Index menschlicher Entwicklung" Platz 104.)
Doch ist es nicht nur die ungleichmäßige Verteilung, die zu wachsender Armut führt. In vielen Ländern findet im Widerspruch zum Anspruch der Globalisierer auch kein allgemeines volkswirtschaftliches Wachstum statt. Während das Wachstum des durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens in 125 Entwicklungs- und Schwellenländern weniger als 3 Prozent betrug, ging es in 54 dieser Länder überhaupt zurück. Von diesen 54 Ländern mit gesunkenem Einkommen gehören 20 zu Afrika südlich der Sahara, 17 zu Osteuropa und der Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS), sechs zu Lateinamerika und der Karibik, sechs zu Ostasien und dem Pazifikraum und fünf zu den arabischen Staaten. (UNDP, a.a.O., S. 4) Die Schwarzafrika-Staaten, die angeblich darunter leiden, dass sie die Globalisierung zu wenig erfasst hat, stellen also bloß ein rundes Drittel der Länder mit rückläufigem Wachstum. Im übrigen gehört die Exklusion von den globalen Märkten zum System der Globalisierung selbst. Wenn und solange die regionalen Märkte die internationalen Profitmarken nicht erreichen, werden sie vom globalen Kapital ausgeschlossen. (Von diesen Ländern zu verlangen, sie sollten doch, um ihre Lage zu verbessern, mehr am globalen Prozess teilnehmen, entspräche dem Rat an einen hierzulande in die Arbeitslosigkeit und Sozialhilfe Exkludierten, er möge doch gefälligst eine gut bezahlte Arbeit ergreifen.)
Wie falsch die Behauptung einer positiven Korrelation zwischen fortschreitender Globalisierung und sozialer Entwicklung ist, erweist sich nicht zuletzt in den jährlichen Übersichten des IBFG (Internationaler Bund Freier Gewerkschaften) über die Verletzung von Gewerkschaftsrechten. Im Berichtszeitraum 2002 wurden Verletzungen der Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) in 133 Ländern dokumentiert. (Jährliche Übersicht über die Verletzung von Gewerkschaftsrechten 2003. IBFG - Abteilung Menschen- und Gewerkschaftsrechte. Brüssel 2003). Fast alle diese Verletzungen stehen in engstem Zusammenhang mit der Globalisierung. Vor allem die Schaffung von Freien Exportzonen (spanisch:maquilas), wo Entwicklungs- und Schwellenländer soziale und Umweltstandards radikal senken, um für ausländisches Kapital attraktiver zu werden, bilden Stätten schlimmster Verstöße gegen die internationalen Arbeitsnormen. Für Mexiko stellt der IBFG fest: "In den etwa 4.000 Maquiladoras des Landes sind Rechtsverletzungen an der Tagesordnung. Die Regierung unternimmt angesichts des massiven Kapitalzustroms nur äußerst wenig, um die Gesetzgebung dort in Kraft zu setzen. Seit Inkrafttreten des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA) haben sich in Tijuana (Baja California) annähernd 3.000 Montagebetriebe angesiedelt. Einer von einer mexikanischen nichtstaatlichen Organisation hindurchgeführten Untersuchung zufolge erhalten mehr als 1,3 Millionen Beschäftigte weniger als 6 Dollar pro Tag für ihre Arbeit unter häufig erbärmlichen Bedingungen, und lediglich 40% von ihnen behalten ihren Arbeitsplatz länger als drei Monate. Unbezahlte Überstunden, sexuelle Belästigung, Diskriminierung, nicht vorhandener Arbeitsschutz sowie willkürliche Entlassungen sind lediglich einige Beispiele dafür, was die Beschäftigten in diesen Betrieben täglich erleben." (A.a.O., S. 122)
Mexiko ist kein krasser Sonderfall, sondern wiederspiegelt die Norm dieser Art von Auslandsinvestition. Für Nikaragua konstatiert der Bericht: "In vielen Fällen grenzen die Bedingungen in den Freien Exportzonen an zeitgenössische Formen der Sklaverei." (125) Den unter der Hoheit der US-Regierung stehenden Bund der Nördlichen Marianen haben die USA zu einem Zentrum der Textilindustrie ausgebaut. Dort herrscht "eine Art Vertragsknechtschaft", unter der sich Tausende ausländische Arbeitskräfte, vor allem Frauen aus Thailand, China, den Philippinen und Bangladesch verpflichten müssen, keine Lohnerhöhungen zu fordern, keinen anderen Arbeitsplatz zu suchen und keiner Gewerkschaft beizutreten. (A.a.O., S. 142).
Den Anspruch der Globalisierer, ihre Politik würde den Wohlstand der Weltgesellschaft heben, widerlegt das Untersuchungsergebnis der Vereinten Nationen über die Entwicklung in den Neunzigerjahren:
- Einkommensarmut: Die ohnehin hohen Armutsraten stiegen in 37 der 67 Länder, für die Daten vorliegen, weiter an.
- Hunger: In 19 Ländern leidet mehr als ein Viertel der Menschen unter Hunger, und die Situation wird nicht besser oder verschlechtert sich sogar.
- Überleben: In 14 Ländern stieg die Sterblichkeit der Kinder unter fünf Jahren in den Neunzigerjahren, und in sieben Ländern wird fast ein Viertel der Kinder den fünften Geburtstag nicht erleben.
- Wasser: Mehr als eine Milliarde Menschen in den Entwicklungsländern haben keinen Zugang zu sauberem Wasser, und die Situation wird nicht besser oder verschlechtert sich sogar.
- Sanitärversorgung: 2,4 Milliarden Menschen fehlt der Zugang zu einer ausreichenden Sanitärversorgung, und die Situation wird nicht besser oder verschlechtert sich sogar.
(UNDP, S. 4, 12)

aus: isw-report 60: Irrtümer des Neoliberalismus, November 2004