Kanonen statt Butter?

Das Buch „Kanonen statt Butter“. Wirtschaft und Konsum im Dritten Reich des Historikers Tim Schanetzky erschien im März 2015 im Verlag C.H. Beck. Die Verlagsankündigung begann so: „‚Auch heute gilt die Parole: Kanonen statt Butter‘, schärfte Rudolf Hess im Oktober 1936 den Deutschen ein und prägte damit eine Fügung, die sich schon bald verselbständigte.“ In seinem „glänzend geschriebenen Buch“ biete Schanetzky „eine kompakte Einführung in die Wirtschaftsgeschichte des Dritten Reiches“. Dabei stehe „die Erfahrungsgeschichte der Deutschen im Vordergrund. Wie erlebten die ‚Volksgenossen‘ die Zwänge der Aufrüstung?“ Inwiefern profitierten sie von der Politik des Regimes, wie verhielten sich die Unternehmer?

Die Bundeszentrale für politische Bildung übernahm das Buch und bot es ab Januar 2017 an. Hier wurde es so angekündigt: „Das Rezept war ebenso einfach wie perfide: Nach Jahren der Krise und des Mangels versprach das NS-Regime Arbeit und Aufstieg, höhere Löhne, bessere Wohnungen, mehr Konsumgüter und soziale Annehmlichkeiten.“ Die Mehrheitsbevölkerung wurde „materiell und zugleich ideologisch umgarnt“, während „hinter der Maske des Fortschritts“ der Krieg geplant wurde: „Stete Appelle an Leistung und Opferbereitschaft der Menschen sollten kaschieren, wie umfassend die Ressourcen von der militärischen Aufrüstung in Anspruch genommen wurden und welchen Vorrang die ‚Kriegsfähigkeit‘ vor allen anderen Zielen hatte.“

Dass die heutige „Kriegsführungsfähigkeit“ als Kern der „Zeitenwende“ bereits Vorrang vor allen anderen politischen und gesellschaftlichen Zielen hat, das lassen die politischen Verhältnisse der Demokratie bisher nicht zu. Aber es wird darauf hin geschrieben. Die Berliner Zeitung (26.03.2024), inzwischen sehr gut beleumdet als ein Blatt, in dem Beiträge stehen, die andere zu bringen sich nicht getrauen, brachte unter ihrer Open Source-Rubrik einen Beitrag des Autors Hans F. Bellstedt. In dieser Abteilung werden Texte publiziert, die inhaltlich relevant sein sollen und „professionelle Qualitätsstandards“ erfüllen; sie müssen nicht immer der Position der Redaktion entsprechen. Das hat unter Umständen den Vorteil, dass ein Text gebracht wird, der sonst nur „in seiner Blase“ zur Kenntnis genommen würde. Hier ist es wohl so.

Bellstedt ist promovierter Historiker, wird vorgestellt als „Kommunikationsunternehmer an der Schnittstelle zwischen Politik und Wirtschaft“, war einst Mitarbeiter des Bundestagsabgeordneten Karl Lamers (CDU) und ist heute in der Berliner FDP tätig. Sein Artikel trägt den Titel „Für mehr innere Widerstandsfähigkeit“. Inhaltlich zerfällt er in drei Teile, zwei eher vernünftige und einen beunruhigenden. Vorn enthält er eine in vielem zutreffende Beschreibung der derzeitigen Lage in diesem unserem Lande. Die Freiheit im Inneren werde von zwei Seiten aus „in die Zange genommen“: Rechtspopulisten bringen „ein autoritäres Staatsverständnis in Stellung“. „Gleichzeitig erzielen linke Identitätspolitiker mit ihrer Fixierung auf Minderheitsinteressen und die Verengung von Meinungskorridoren beängstigende Geländegewinne. Moralische Selbstüberhöhung und Cancel Culture bedeuten nichts weniger als einen Anschlag auf unsere Wissenschafts- und Meinungsfreiheit.“

Dann betont der Autor, es bedürfe zunächst einer Neuausrichtung im Bereich der Wirtschaftspolitik. Er moniert, es fehle vielfach am Mut und an der Leidenschaft, selbst unternehmerisch kreativ zu werden und Risiken einzugehen. Während „eine neue Wagniskultur“ nötig sei, herrsche Versorgungsdenken vor. „Tatsächlich sind in den warmen Stuben der Ministerien, Behörden, kommunalen Ämter und Betriebe mehr als fünf Millionen Menschen oder elf Prozent aller Beschäftigten tätig.“ Beamtinnen und Beamte könnten „die Vitalität und Resilienz einer Volkswirtschaft“ jedoch nicht sichern. Über Bellstedt hinaus wäre anzumerken: Das jedoch wusste schon Deng Xiaoping, als er in China den Kapitalismus frei gab. Deutschland und die EU sind derzeit auf dem umgekehrten Weg. Wahrscheinlich ist deshalb die Angst vor der Marktmacht Chinas heute so groß.

Im dritten Teil seines Textes fordert Bellstedt eine „Neuausrichtung unseres Bildungssystems“. Wir stehen „vor den Trümmern jahrzehntelanger bildungspolitischer Experimente“. Die Lehrpläne müssten „wieder stärker auf basale Grundfertigkeiten, namentlich Lesen, Schreiben und Rechnen ausgerichtet werden“. Dazu wäre anzumerken: Das konnten die Schüler in der DDR spätestens nach der vierten Klasse. Die Lehrergewerkschaft – so wieder Bellstedt – sehe jedoch „das Allheilmittel im gemeinsamen Lernen, unabhängig vom Leistungsniveau der einzelnen Schüler“. Das verhindere die Entfaltung von Spitzenleistungen, weil es besonders begabten Schülern Steine in den Weg legt. Vielleicht sollte man hier von der DDR lernen. Das Konzept des gemeinsamen Lernens bestimmte die DDR-Schule bis in die 1960er Jahre, dann wurden „Spezialschulen“ für die Hochbegabten geschaffen.

Damit kommen wir zu dem mittleren Teil, dem beunruhigenden Kern des Bellstedt-Artikels. Zunächst moniert er, dass 1,2 Billionen Euro im Jahr für soziale Leistungen aufgewendet würden, was in etwa einem Drittel des Bruttoinlandsprodukts entspreche. Dazu zählten die Ausgaben für Renten-, Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung, in die Arbeitgeber und Arbeitnehmer einzahlen. Außerdem die steuerfinanzierten Transferleistungen, von der Sozialhilfe bis zum neuen Bürgergeld, Wohngeld, Kinder-, Eltern- und Mutterschaftsgeld, Kinderzuschlag und Unterhaltsvorschuss. So würde Deutschland auf „Verteilungskonflikte“ zusteuern, die „uns“ zu zerreißen drohen. Deshalb müsse den Bürgern „in Krisenzeiten“ vermittelt werden, sie müssten „wieder lernen […], alleine zu laufen“. Nötig sei „eine Umkehr in der Sozialpolitik“. Es müssten Sparpläne entwickelt werden und die Bürgerinnen und Bürger „zu Konsumverzicht bereit sein“. Denen das zu vermitteln, sei Aufgabe der „politisch Verantwortlichen“. Fazit: „Je mehr wir dadurch aber die öffentlichen Haushalte entlasten, desto mehr Mittel stehen zur Verteidigung unserer Freiheit zur Verfügung.“ Gemeint sind Bundeswehr und bisher ungekannte Aufrüstung.

Womit wir bei der Kriegsfähigkeit sind. Geopolitisch betrachtet ist „Freiheit“ hier eine Camouflage für die eigentlichen Zwecke. Alfred Rosenberg, von Hitler eingesetzt als „Reichsminister für die besetzten Ostgebiete“, schrieb im September 1941 in seinen Richtlinien über die Besatzungspolitik in einem klar geopolitischen Sinn: „Der Feldzug gegen die Sowjetunion ist ein Unternehmen von größter politischer Tragweite. Er bezweckt, die Gefahr für immer zu bannen, die Deutschland von einem mächtigen, wirtschaftlich voll entwickelten und organisierten feindlichen Staat östlich seiner Grenzen droht. […] Gegen diese Gefahren muss Deutschland ein für allemal geschützt werden, und dies muss dadurch geschehen, dass nach Niederringung der Roten Armee die Sowjetunion in erster Linie nach völkischen Gesichtspunkten aufgegliedert wird und die im Osten an Deutschland angrenzenden nichtrussischen Gebiete in ein enges politisches Verhältnis zu Deutschland gebracht werden.“ Mittel zum Zweck war „Kanonen statt Butter“, es führte zu „Ruinen statt Gütern“. Nachdem es „ein für allemal“ 1945 gescheitert war, soll es jetzt im NATO-Verbund offensichtlich nachgeholt werden.