Quo vadis, Europa?

In jüngerer Zeit sehen Autoren immer öfter Analogien zwischen der Europäischen Union und der 1918 verblichenen Habsburgermonarchie. Der bulgarische Europäer Ivan Krastev hat kürzlich einen sehr luziden und kenntnisreichen Essay geschrieben, mit dem er vor der Desintegration, ja dem drohenden Zerfall der EU warnt. Die Mehrheit der EU-Europäer, vor kurzem noch optimistisch in Sachen EU-Integration, erlebt jetzt mit der Migration und der „Rückkehr der Geopolitik“ Unsicherheit. Es vollzieht sich ein ideologischer Gezeitenwechsel.

Im Anfangsteil seines Textes bezieht sich Krastev auf Oszkár Jászi. Der war vor dem ersten Weltkrieg Chefredakteur der Zeitschrift 20. Jahrhundert, die eine demokratische, westlich orientierte Öffnung Ungarns vertrat; mit der bürgerlich-demokratischen „Asternrevolution“ wurde er 1918 Minister in der Regierung von Mihály Károlyi, dann Professor für Soziologie an der Budapester Universität. Mit der Errichtung des reaktionären Horthy-Regimes floh er 1919 nach Wien, dann in die USA. Jászi hatte sich bereits vor und im ersten Weltkrieg mit dem Nationenproblem und der Verfassungskrise in der Donaumonarchie befasst. 1929 schrieb er rückschauend, und das zitiert Krastev: „Wäre das österreichisch-ungarische Staatsexperiment tatsächlich erfolgreich gewesen, hätte die Habsburgermonarchie auf ihrem Territorium das fundamentalste Problem des heutigen Europa gelöst.“ Nämlich „Nationen mit unterschiedlichen Idealen und Traditionen trotz ihrer Individualität so zu einen, dass jede ihr besonderes Leben bewahren kann, zugleich aber die nationale Souveränität ausreichend zu beschränken, um eine friedliche und erfolgreiche internationale Zusammenarbeit zu ermöglichen“. In der EU sieht Krastev den Versuch, eine derartige Lösung in einem „demokratischen Reich“, das die EU als freiwilliger Zusammenschluss demokratischer Staaten sei, zu erreichen
Ein Vorteil Krastevs im Unterschied zu vielen westeuropäischen Autoren, die sich mit EU-Themen befassen, ist, sein persönliches Erleben des Untergangs eines politischen Systems, das ihn konstatieren lässt: „Angesichts der politischen Turbulenzen in Europa haben wir das Gefühl, dass wir all das schon einmal erlebt haben“.
Für den deutschen Leser sind vier seiner Befunde von besonderer Bedeutung.
Der erste ist, dass das „europäische Projekt“, wie es sich nach 1989 entwickelt habe, intellektuell auf der Fukuyama-Idee vom „Ende der Geschichte“ beruhe. In diesem Sinne sei die EU „eine hochriskante Wette darauf, dass die Menschheit sich in Richtung einer demokratischeren und toleranteren Gesellschaft fortentwickeln“ werde. Tatsächlich zeigten jedoch die Entwicklungen in China, Indien und Russland sowie in der muslimischen Welt, die „Flüchtlingskrise“ und die Wahl Donald Trumps: „Die Postmoderne, der Postnationalismus und die Säkularisierung haben dafür gesorgt, dass Europa anders ist als der Rest der Welt, aber sie sind keine Vorboten dessen, was diese Welt unausweichlich erwartet.“ Mit anderen Worten: die übrige Welt denkt nicht daran, so zu werden wie Europa, und die EU wird nicht die Kraft haben, alle Welt nach ihrem Bilde zu modeln.
Der zweite Befund ist, dass mit der Globalisierung eine „Migrantenrevolution“ entstanden ist. Für immer mehr Menschen bedeutet Veränderung nicht mehr, die Regierung im „eigenen Land“ zu wechseln, sondern individuell oder mit der Familie das Land. Wie jede Revolution hat jedoch auch diese eine Gegenrevolution ausgelöst. Die bedrohten und verängstigten Mehrheiten in Europa „fürchten, dass Fremde ihre Länder übernehmen und ihre Lebensweise bedrohen könnten, und sie sind davon überzeugt, dass die gegenwärtige Krise auf eine Verschwörung kosmopolitisch gesinnter Eliten und in Stammesdenken befangener Migranten zurückgehe“.
Vor diesem Hintergrund hat sich eine interessante Wendung vollzogen. In den vergangenen Jahrzehnten haben Linke leidenschaftlich dafür gekämpft, dass indigene Gemeinschaften in Indien oder Lateinamerika das Recht haben, ihre Lebensweise gegen die Zumutungen der Globalisierung zu verteidigen. „Heute behaupten rechtsgerichtete Parteien, die wohlhabenden europäischen Länder hätten das Recht, ihre Lebensweise zu verteidigen und Widerstand gegen jene Flüchtlinge zu leisten, die in Europa so leben wollen wie in ihren eigenen Ländern.“ Wir haben es mit einer postmarxistischen Arbeiterklasse zu tun, „die heute weder an ihre Avantgarderolle noch an eine antikapitalistische Revolution glaubt“ und „keinen Grund hat, internationalistisch zu sein“.
Drittens schließlich sei die Wiederbelebung der Ost-West-Spaltung innerhalb der EU „kein Mangel an Solidarität, wie Brüssel es gerne darstellt, sondern ein Solidaritätskonflikt“. Das beginne damit, dass 1968 in Westeuropa „das Engagement für kosmopolitische Werte“ symbolisiere, in Osteuropa jedoch „für die Wiedergeburt nationaler Gefühle steht“. Den Hintergrund bilde der „Unterschied zwischen dem Vermächtnis des Nationalsozialismus und dem des Kommunismus […]. Der deutsche Hang zum Kosmopolitischen war auch eine Flucht vor dem fremdenfeindlichen Erbe der Nazis“, während der „Antikosmopolitismus Mitteleuropas zum Teil in der Abneigung gegen den vom Kommunismus aufgezwungenen Internationalismus wurzelt“. Die Flüchtlingskrise habe die nationalen Solidaritätsgefühle gestärkt und damit die Chancen für einen EU-Verfassungspatriotismus schwinden lassen. Die Forderung nach Demokratie in Europa habe sich „in die Forderung nach dem Schutz der eigenen politischen Gemeinschaft verwandelt und damit eher nach Ausschluss als nach Inklusion“.
Die „Meritokratie“, die heute die EU lenke und leite, vergleicht Krastev – so der vierte Befund – mit einer „Art Söldnerelite“, vergleichbar mit den Fußballstars, die heutzutage zwischen den reichen europäischen Fußballclubs für viel Geld hin- und hergereicht würden. Während die aristokratischen Eliten der Vergangenheit nicht nur Rechte hatten, sondern auch Pflichten, seien diese neuen Eliten zum Regieren erzogen worden, und zwar unabhängig von ihrem Heimatland. „Sie haben die Fähigkeit verloren, die Gefühle ihrer Gemeinschaft zu teilen. Die Menschen erleben diese Unabhängigkeit der Eliten als einen Verlust an Bürgermacht.“ In Brüssel würden „Maßnahmen ohne Politik“ ergriffen, während auf nationaler Ebene „Politik ohne Maßnahmen“ betrieben werde. Was herausgekommen sei, „ist nicht funktionsfähig: Demokratie ohne Wahlmöglichkeiten, Souveränität ohne Bedeutung und Globalisierung ohne Legitimität“.
Dies sei die Stunde der Populisten. Sie versprächen nicht die Verstaatlichung der Industrien, sondern die Nationalisierung der Eliten. Von daher drohe die Desintegration der EU, beginnend mit Orbán, Kaczynski und dem Brexit. Deshalb folgert Krastev, für die heutigen EU-Eliten sei nicht wichtig, weshalb das Habsburgerreich 1918 zusammenbrach, sondern warum es nicht schon früher, 1848 oder 1867 scheiterte. „Die EU sollte nicht versuchen, ihre zahlreichen Feinde zu besiegen, sondern sie zu erschöpfen und dabei gelegentlich auch Teile ihrer Politik […] zu übernehmen.“

Ivan Krastev: Europadämmerung. Ein Essay, Suhrkamp Verlag, Berlin 2017, 143 Seiten, 14.00 Euro.