..nach dem 11.09.2001

kurzum von Prof. Dieter S. Lutz aus spw 121

Die terroristischen Anschläge von New York und Washington trafen Amerika völlig unvorbereitet. Wenn aber selbst die Supermacht USA mit all ihren Mitteln und Möglichkeiten sich nicht schützen kann, wie hilflos ausgeliefert ist dann erst Europa? Was, wenn der kriegsähnliche Terror beginnt, sich auch gegen Deutschland zu richten? Was, wenn das sich mit Amerika solidarisierende Deutschland von Terroristen als Geisel genommen wird, sei es um Vergeltungsmaßnahmen Amerikas abzuwehren, sei es um selbst wieder Rache zu üben?
Fragen über Fragen. Sie beschäftigen momentan die Bevölkerungen Europas wie wenige andere. Angst geht um - auch in Deutschland. Verständlicherweise!
Besonders illustrativ hierfür sind die über 200 Kernkraftwerke, die gegenwärtig in Europa in Betrieb sind. Sie sind zwar insbesondere in Deutschland gegen Flugzeugabstürze gehärtet, gleichwohl sind sie hochbrisante Ziele - sei es für Terroristen, sei es für militärische Aggressoren. Ähnliches gilt allein in Deutschland für viele Tausende Chemie-Betriebe und Betriebe, die chemische Stoffe verarbeiten und lagern, Hunderte von Ölraffinerien und (überirdischen) Öltanklager (mit teilweise riesigen Fassungsvermögen), Dutzende von Gasraffinerien, Tanks und Verdichterstationen, viele Hunderte Umspannwerke, Güterbahnhöfe, Containerbahnhöfe sowie See- und Binnenhäfen etc.
Alle diese und weitere Einrichtungen sind potentielle Ziele nicht nur für militärische Aggressionen, sondern auch für mögliche terroristische Anschläge. Es bedarf nicht allzu vieler Phantasie, um sich die verheerenden Folgen solcher Anschläge vorzustellen.
Kurzum: Hochindustrialisierte Staaten wie die Bundesrepublik sind strukturell verwundbar.
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Die nachdrücklichen Schlussfolgerungen, die bereits zu Zeiten des Ost-West- Konfliktes aus dieser Erkenntnis gezogen wurden, fanden ihren militärstrategischen Niederschlag in einem theoretischen Konstrukt: Final betrachtet - so seinerzeit die offizielle Politik - dürfen Militär und Rüstung nicht länger der Kriegsführung, sondern nur noch der Kriegsverhütung durch Abschreckung dienen. Sicherheitspolitisch wurde dieses Konstrukt, die Abschreckungsdoktrin, eingebettet in die Akzeptanz der eigenen Verwundbarkeit und die Erkenntnis, dass Sicherheit nicht mehr gegeneinander, sondern nur noch miteinander zu haben ist. Entspannungspolitik, Abrüstungsverträge und die Konfliktbeilegung durch rechtliche Regelungen waren die Folgen einer zunehmend als "Gemeinsame Sicherheit" verstandenen Konzeption. Zu den Wegen und Methoden gehörten Dialog, Diplomatie und Verhandlungen und stets - wenn auch mitunter unzulänglich und nicht frei von Rückschlägen - Kooperation und Interessenausgleich.
Mit dem glücklichen Ausgang des Ost-West-Konfliktes 1989/90 verschwanden das Sowjetreich, der Warschauer Pakt und die beständige Gefahr des menschheitsvernichtenden Atomkrieges. Dass mit dem Ende des Kalten Krieges auch die eigene Verwundbarkeit verschwunden sei oder - je nach Perspektive - durch technische Mittel wie Raketenabwehrprogramme kompensierbar würde, war und ist dagegen ein dramatischer Irrglaube der "machttrunkenen Sieger".
Kurzum: Hochentwickelte Gesellschaften bleiben auch künftig anfällig.
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Die revolutionären Umbrüche nach 1989/90 boten die Jahrhundertchance, die Lehren und Einsichten aus der Vergangenheit konzeptionell mit den neuen Gefahren und Bedrohungen hochentwickelter Staaten und Gesellschaften, darunter auch der weltweite Terrorismus, zu verbinden. Der siegreiche "Westen" ließ diese Chance ungenutzt verstreichen. Auch das Versprechen aus den Zeiten des Ost-West-Konfliktes, die großen existenziellen Probleme der Menschheit (Hunger, Massenarmut, Umweltverschmutzung, Klimaveränderung etc.) zu lösen, wenn nur erst einmal der Kalte Krieg beendet wäre, wurde nicht eingehalten. Heute sind sie mit der Nährboden für die Entstehung von Fundamentalisten und Terroristen, Verzweifelten und Gerechtigkeitsfanatikern.
Doch nicht nur die existenziellen Probleme blieben weiterhin ungelöst. Nach einer ersten Euphorie, wie sie noch in der "Pariser Charta" von 1990 nachlesbar ist, wurde im vergangenen Jahrzehnt begonnen, Fehler auf Fehler zu setzen, ja das zivilisatorische Rad selbst wieder zurück zu drehen: Die "mächtigste Militärallianz aller Zeiten" fing an, nach und nach ihre zivile Konkurrenz, die OSZE, "wegzubeißen" und (mit etwas Verzögerung) auch die Vereinten Nationen zurückzudrängen. Kriegsverhütung als Doktrin wurde aufgegeben und die Verteidigungskräfte, einschließlich Bundeswehr, wurden bzw. werden zu Einsatzarmeen umgebaut. An Stelle von Interessenausgleich wird zunehmend Interessendurchsetzung, die Erweiterung des Interessenspektrums und die Ausdehnung des militärischen Interessen- und Einsatzgebietes propagiert. Die Stärke des Rechts wurde spätestens im Kosovo-Krieg durch das Recht des Stärkeren abgelöst.
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Haben die terroristischen Verbrechen von New York und Washington und mit ihnen das unsägliche Leid tausender Menschen eine neue Ära der Barbarei eingeläutet? Noch besteht die Chance, dass es sich "lediglich" um den Abschluss einer nicht gänzlich bewältigten, aber abgelaufenen Epoche handelt. Was ist zu tun?
Zum ersten sollten gegenwärtig alle Entscheidungen in Reaktion auf die terroristischen Verbrechen in Ruhe und Besonnenheit getroffen werden. Alle Maßnahmen müssen mit dem Völkerrecht vereinbar und verhältnismäßig sein. Rache und Vergeltung scheiden damit aus. Weder sollten die USA entsprechende militärische Schläge durchführen noch sollten sich andere Staaten, z.B. Deutschland, an ihnen beteiligen.
Rasch dagegen sollten Initiativen für strikte und obligatorische internationale Regeln, Mechanismen und Institutionen gegen den Terrorismus im Rahmen der Vereinten Nationen geschaffen werden. Sie müssen flankiert werden durch die Zugriffsmöglichkeit auf polizeiliche und militärische Streitkräfte. Terrorismus muss künftig präventiv und zwar weltweit, in jeder Form und ohne Ansehen von Personen oder Interessen, bekämpft werden. Dies gilt für Afghanistan genau so wie für Mazedonien oder den Kosovo.
Kurzum: Alle Menschen, Völker und Staaten, auch solche mit gegensätzlichen Ordnungen, Ideologien, Religionen, Interessen etc. sind bei der Sicherung des Lebens und Überlebens auf Partnerschaft angewiesen. Soll sich Sicherheitspolitik angesichts der Verwundbarkeit hochentwickelter Gesellschaften, ja der internationalen Gemeinschaft insgesamt, nicht lediglich in Katastrophenmanagement und Katastrophennachsorge erschöpfen, so muss elf Jahre nach dem Ost-West-Konflikt endlich damit begonnen werden, eine Weltordnung zu bauen, die auf der Stärke des Rechts und seiner Durchsetzung ruht - kurzum Weltinnenpolitik betreibt und sich den Namen "Gerechter Frieden" verdient.