Druck von der Straße

Hefteditorial iz3w 397 (Juli/August 2023)

Die Videos aus Belgrad sind beeindruckend. Menschen soweit das Auge reicht. Eine riesige Demonstration wälzt sich durch die serbische Hauptstadt und blockiert stundenlang die Gazela-Autobahnbrücke. Es sind die größten Proteste seit dem Sturz des Milošević-Regimes im Jahr 2000.

Ausgelöst wurden sie von der endemischen Gewalt im Land. Zuletzt hatte Anfang Mai ein Dreizehnjähriger in einer Belgrader Schule neun Mitschüler*innen und einen Wachmann erschossen. Einen Tag später tötete ein 21-Jähriger acht Menschen. Nach völlig unangemessenen Reaktionen der Regierung unter Langzeitpräsident Alexander Vucić gingen die Menschen auf die Straße. Sie werfen der Regierung vor, seit langem ein Klima des Hasses zu erzeugen. Sie kritisieren Vucićs Günstlingswirtschaft und Verstrickungen ins kriminelle Milieu, fordern einen Stopp der Verbreitung von Fake-News und Hate-Speech durch regierungsnahe Medien und das Ende der Gewalt.

Seit der ersten Demonstration am 19. Mai sind wöchentlich Zehntausende in Belgrad auf der Straße. Was noch vor wenigen Monaten undenkbar war, liegt nun plötzlich im Bereich des Möglichen: Das System Vucić wackelt. Ob es tatsächlich fällt, ist noch längst nicht ausgemacht, doch so viel Hoffnung gab es im Hinblick auf Serbien selten.

                Ganz andere Proteste folgten zehn Tage später im Kosovo: Am 29. Mai sollten neugewählte Bürgermeister ihre Ämter im Norden des Kosovo antreten. In mehreren Ortschaften versuchten wütende Demonstrierende, das zu verhindern. Der Norden des mehrheitlich albanisch geprägten Kosovo wird überwiegend von kosovarischen Serb*innen bewohnt. Diese hatten jedoch die letzte Kommunalwahl boykottiert, sodass albanische Bürgermeister gewählt wurden – mit je nach Ortschaft gerade einmal drei bis vier Prozent der Stimmen. In der Gemeinde Zvečan kam es schließlich zu Ausschreitungen, bei denen 80 Personen verletzt wurden – darunter 30 NATO-Soldat*innen.

Kriegsalarm auf dem Balkan wird in den deutschen Medien schnell ausgerufen. Insbesondere auf Twitter wurde vor knapp einem Jahr ein Krieg im Kosovo regelrecht herbeifantasiert. Das hatte nichts mit der tatsächlichen Lage vor Ort zu tun, aber viel mit der Unwissenheit über die Region – sowie mit einer gewissen Kriegspanik aufgrund des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine. Die jüngste Eskalation ist allerdings sehr ernst zu nehmen. Es sind die schwersten Ausschreitungen seit 2004. Das war noch vor der Unabhängigkeit der ehemals serbischen Provinz.

                Die Proteste in Serbien und im Kosovo haben mehr miteinander zu tun als man vielleicht zunächst annehmen mag. Serbien erkennt die Unabhängigkeit seiner ehemaligen Provinz bis heute nicht an, den Ausschreitungen im Kosovo vom Mai waren lange Streitigkeiten der beiden Staaten um Kfz-Nummernschilder (iz3w 387) und Autonomierechte für die serbischen Gemeinden im Kosovo vorausgegangen. Ende 2022 trat dann ein Großteil der kosovarisch-serbischen Beamt*innen im Norden des Kosovo zurück – was die Kommunalwahl von April erst nötig gemacht hatte. Alexander Vucić nutzt die in Serbien extrem nationalistisch aufgeladene Kosovo-Thematik gerne, um von Problemen im Land abzulenken. Deshalb ist es auch kein Zufall, dass die massiven Proteste gegen ihn und die Eskalation im Kosovo zeitlich so nah beisammen liegen. Und die Eskalationen gehen weiter: Mitte Juni gab Serbien die Verhaftung von drei kosovarischen Polizisten bekannt, die angeblich auch serbisches Territorium eingedrungen waren. Die kosovarische Regierung spricht von einer Entführung aus kosovarischem Gebiet.

Doch ob Vucićs Ablenkungsstrategie dieses Mal aufgeht, ist fraglich. Am 13. Juni protestierten erneut hunderte kosovarische Serb*innen in Nord-Mitrovica. Allerdings dieses Mal nicht gegen kosovarische Behörden, sondern gegen die Serbische Liste, also die wichtigste kosovarisch-serbische Partei und gegen Alexander Vucić. Sie bezeichneten den serbischen Präsidenten als Verräter und belegten ihn mit homofeindlichen Beleidigungen.

Nach außen verfolgte Vucić bisher eine Politik des Lavierens zwischen der EU, deren Beitrittskandidat Serbien seit 2012 ist, und Russland, das vielen im Land als traditioneller Verbündeter gilt. Je nach politischer Opportunität wandte er sich mal der einen, mal der anderen Seite zu. Damit fuhr er lange gut, doch mit dem Krieg gegen die Ukraine ist diese Schaukeldiplomatie kaum mehr haltbar. Besonders die EU übt Druck aus – nach jahrelanger Ignoranz interessiert sie sich wieder für den Balkan und verlangt von Serbien konkrete Schritte, besonders in Hinblick auf die Anerkennung des Kosovo. Ob sich Vucić dem beugen wird, ist fraglich. Klar ist jedoch, dass es für ihn schwieriger wird, außenpolitische Erfolge zu erzielen, um von innenpolitischen Schwierigkeiten abzulenken. Davon könnte die aktuelle Protestbewegung profitieren. Ein Erfolg ist ihr sehr zu wünschen, findet

die redaktion