Handlanger der Globalisierung

Sklaverei, "schwarze" Karibik und Globalgeschichte

Die Bedeutung der Sklaverei für die Entwicklung des Kapitalismus ist umstritten. Hat die Zwangsarbeit in den Kolonien die Voraussetzung für die Industrialisierung Europas geschaffen ...

... oder war sie lediglich ein Umweg zur Lohnarbeit? Um die globalgeschichtliche Bedeutung der Sklaverei zu erforschen, ist es hilfreich, die Perspektive zu wechseln, um vom Besonderen - der Sicht der Sklaven - aufs Allgemeine - die historische Bedeutung - schließen zu können. In der Nacht des 14. August 1791 trafen sich im Bois-Caïman, dem "Krokodilwald" in der Nordebene des heutigen Haiti, mehrere Sklaven zu einer Voudou-Zeremonie; sie opferten ein schwarzes Schwein und schworen einen Bannfluch. Kurze Zeit vor der Zeremonie war der Termin für einen Sklavenaufstand vereinbart worden. Jahre später verweigerten die Sklaven einer Plantage auf Kuba die Arbeit. Als die Aufseher sie sonntags zum Arbeiten zwingen wollten, blieben sie, mit ihren Macheten bewaffnet, in der Sklavenbaracke. Die verängstigten Aufseher sahen sich genötigt, die Landpolizei beizuholen. Das verschaffte dem "Streik" die Aufmerksamkeit der Behörden. Nochmals zwanzig Jahre später ging ein ehemaliger Sklave namens Andrés Pérez "natural del pueblo de Yisá, de la nación Lucumí, en Africa" (gebürtig im Dorf Yisá, von der Lucumí-Nation, aus Afrika) zu einem Notar. Er ließ notariell beglaubigen, dass er der Vater des Jungen namens Julio Domingo sei und dass die Großeltern des Jungen, Fá Chipe und Hicocun Hova, aus Yisá seien, einem Ort im Norden des heutigen Nigeria. Alle drei Ereignisse lassen sich auf globalgeschichtliche Phänomene zurückführen, die unter dem Begriff "atlantische Sklaverei" zusammengefasst werden. Genauer gesagt geht es um atlantischen Sklavenhandel, eine Vielzahl von Sklavereien (Haus-, Staats-, Bergwerks-, Dienstleistungssklaverei), die Plantagensklaverei in der Karibik und den Kampf gegen die Sklaverei und ihre Folgen. Zwischen 1740 und 1860 war die Plantagensklaverei, vor allem im Rohrzucker und im Baumwollanbau, die wichtigste Boomwirtschaft der westlichen Welt. Über Sklaverei und deren Abschaffung sind Riesenmengen von Büchern geschrieben worden, allerdings fast alle über die Wirtschaftsform Sklaverei oder aus den Perspektiven der unterschiedlichen Kolonialreiche, die ihre "Perlen"-, Zucker- und Sklaveninseln mit Plantagenökonomien in der Karibik hatten (auf Jamaika, Saint-Domingue/Haiti, Kuba und im Süden der USA).

Freiheit wird Wert

Kaum eine der bisherigen Historiken hat die Sklaverei aus der Perspektive der Sklaven oder ehemaligen Sklaven untersucht, aus der Mikroperspektive des gelebten Lebens. Dabei besteht in der Wissenschaft kein Zweifel darüber, dass Sklavenhandel, Sklaverei und Zwangsarbeit weltgeschichtliche Phänomene gewesen sind. Schon die nackten Zahlen belegen dies: Etwa acht Millionen Menschen wurden zwischen 650 und 1905 aus Ostafrika in die arabischen, persischen und indischen Gebiete verschleppt, zehn Millionen weitere zwischen 850 und 1890 über die Sahara; rund zwölf Millionen kamen zwischen 1450 und 1870 lebend in Amerika an, viele mehr starben bei der Überfahrt. Zwischen 1740 und 1865 glaubten die meisten kreolischen Eliten Amerikas, dass Massensklaverei, Modernität und technologische Entwicklung das Normale sei, das "kleine Experiment" mit freier Arbeit in einer "Ecke des westlichen Europa" hingegen die Ausnahme. Der Begriff Mikrogeschichte verführt dazu, die Geschichte der Sklaven und ihrer Nachkommen als etwas "Kleines" zu sehen; ein den großen weltgeschichtlichen Prozessen entgegengesetztes. Ist es aber nicht: Jeder große Prozess wird durch Menschen, durch Akteure gemacht, so klein oder so groß auch ihr Aktionsradius gewesen sein mag. Hier gilt immer noch die Sentenz des jungen Marx: "Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Verhältnissen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden." Mikrogeschichte in globalhistorischer Perspektive meint in diesem Sinne nur: "Es gibt eine Geschichte außerhalb unseres Bewusstseins, der Texthermeneutiken und der Medien, sie wird von Menschen gemacht und erinnert - also heran an die Menschen, näher heran an die Akteure; auf zum jeux dÂ’échelles" (Jacques Revel). Mikrogeschichte richtet den Blick auf die unterschiedlichen Ebenen und Räume der Weltgeschichte sowie auf die Dimensionen von Geschichte überhaupt - von Mikro zu Makro, von den Menschen zu den großen Räumen oder Ideen und von Individuen oder Gruppen zu den Prozessen, Institutionen und Strukturen. Sklaverei kannte keine nationalen Grenzen; Sklavereigeschichte kennt keine Nationalhistorien! Die Versammlung der Voudoupriester im Bois-Caïman führte, verkürzt gesagt, zu einer der mächtigsten Revolutionen der neueren Weltgeschichte. Die Revolution von Saint-Domingue 1790-1804 war in ihren Auswirkungen auf die Sklaverei wichtiger als die "amerikanische Revolution" 1776-1783 oder die Unabhängigkeitskriege Spanisch-Amerikas 1810-1830 - sie wird aber meist anders herum in einschlägigen Geschichten behandelt oder gern ganz unterschlagen. Die Auswirkungen der Revolution erfassten den gesamten atlantischen Raum; auch wenn eine Reihe der Menschen, die 1791 den Aufstand geplant hatten, schon lange tot waren. Wir wissen zum Beispiel noch nicht sehr genau, wie sich das Freiheitsstreben so vieler Menschen in den Amerikas, und viele von ihnen waren eben Sklaven wie die von Saint-Domingue, auf die Verankerung der Freiheit, des "westlichsten" aller Werte, im atlantischen Raum ausgewirkt hat.

Die Macht der Angst

Von der Zäsur Revolution hat sich in den letzten Jahren der Blick der Forscher auf die Kultur der aus Afrika nach Amerika verschleppten Menschen gerichtet und auf die Gesellschaft, die sie nach den Kriegen, Morden und Verheerungen errichteten. Dabei ist zum Teil Erstaunliches zutage gekommen: die Menschen hatten oft schon in Afrika Kontakte mit dem Christentum (und brachten es in die sich herausbildenden synkretistischen Religionen wie Voudou, Palo Monte oder Santería ein), und oft waren die Afrikaner gerade auch von den Sklavenhaltern gesuchte Fachleute (Landwirtschaft, Bergbau, Militärs). Die Plantagensklaven hatten unter der Führung ihrer direkten Vorarbeiter (commandeurs, mayorales) ein weitreichendes Verschwörungsnetz geschaffen, das Plantagensklaven, Stadtsklaven, Maroons (cimarrones) und freigelassene ehemalige Sklaven einband (wie Toussaint LÂ’Ouverture, den späteren Führer des Krieges gegen die Großmächte - Großbritannien, Frankreich und Spanien, die versuchten, die Sklavenrevolution niederzuschlagen). Die Sklaven der Plantagen im Norden von Saint-Domingue kannten direkte Demokratie; sie hatten regelrechte Abgeordnete (zwei pro Plantage) zu den geheimen Konstituierungsversammlungen geschickt, die im August 1791 den Aufstand vorbereiteten und beschlossen. Die afrikanischen Elemente waren also sehr stark und zugleich - nach den Kriterien der Zeit - sehr "modern". Die Sklaven mussten dazu nicht unbedingt Rousseau lesen. Die Gesellschaft, die nach 1804 in Haiti entstand, war viel "westlicher", als die meisten Zeitgenossen annahmen, die sich oft über die "barbarischen Afrikaner" auf Haiti lustig machten (Privateigentum an Land, Kernfamilie, Staat, Institutionen, Staatsbürgerstatus für alle Männer, die sich "nègres" nannten, auch wenn es sich um übergelaufene polnische oder deutsche Soldaten Napoleons handelte). Die Sklaven, die den Streik auf einer Plantage der Boomwirtschaftszone Kuba durchführten, nutzten die Furcht, die die Aufseher vor ihnen hatten, um den Staat zum Eingreifen in Arbeitskonflikte der Sklaverei zu zwingen. Nach der Revolution von Saint-Domingue war es im gesamten atlantischen Raum erstens im Rahmen einer Eindämmungsstrategie der Sklavenhalter zu Ikonisierungen des "Terrors" der "Schwarzen" gegen alle "Weißen" gekommen (oft in Form von Bildern auf Flugdrucken oder Buchillustrationen, auf denen "Schwarze" "Weiße" henken oder anderweitig brutal ermorden). Zweitens kam es zu Wellen von teils sehr blutigen Sklavenaufständen, die versuchten, das Modell von 1791 zu imitieren, freilich zu keiner zweiten Revolution des Ausmaßes von Saint-Domingue führten, auch wenn es etwa in Kuba 1844 durchaus möglich gewesen wäre.

Das Recht der Gewalt

Auch die Herren hatten dazu gelernt. Der Staat erließ Sklavenschutzgesetze (wie auf Kuba 1842), oder hob die Sklaverei ganz auf, wie 1834 in der britischen Karibik und 1848 in der französischen Karibik. Die Angst aber vor blutigen Sklavenaufständen, die "grande peur", hatte sich mit ansteigendem Rassismus und Anti-Haiti-Propaganda in der westlichen Welt verbreitet und war zu regelrechten Furcht- und Exklusionsikonen geronnen. Die Sklaven der Plantage "Regla" wussten um diese Furcht. Sie nutzten sie aus, um ihre Aufseher zu zwingen, das 1842 erlassene Sklavenreglement einzuhalten, das z.B. Sonntagsarbeit verbot. Die Polizei hatte normalerweise keinen Zutritt zum Privateigentum der Plantagen. Nur "außergewöhnliche Ereignisse" rechtfertigten den Zutritt der Exekutivorgane. Als es durch Landpolizei und Aufseher zur Ermordung eines Sklaven und zur Flucht der anderen Sklaven kam, musste der Staat eine Untersuchung anstrengen, in deren Folge der Besitzer zu einer hohen Geldstrafe verurteilt wurde - weil er mit seiner Härte Sklavenrebellionen provozierte. Wir haben es also in den Plantagengesellschaften schon vor Abschaffung der Sklaverei mit dem Versuch des Staates zu tun, der Gewalt der Sklavenhalter und der dadurch provozierten Gegengewalt der Sklaven durch Verrechtlichung entgegenzuwirken. Das Notariatsprotokoll des ehemaligen Sklaven Antonio Pérez lässt sein ausgeprägtes Verständnis für die Wirksamkeit positiver und geschriebener Rechte westlicher Gesellschaften erkennen ( im subsaharischen Afrika gab es auch positive Rechte, aber meist ungeschriebene). Damit ist eine weitere welthistorische Dimension der Sklaverei angesprochen, die sich bis zum Römischen Recht und natürlich auf afrikanische Rechtssysteme zurückführen lässt. Antonio Pérez ließ notariell seine Vaterschaft beglaubigen. Das an sich war schon ungewöhnlich in einer Gesellschaft, in der versklavte Frauen oft als Freiwild für Männer galten. Der Sklavenstatus wurde in der amerikanisch-atlantischen Sklaverei des Westens über die Mütter weitergegeben. Die Sklaverei wurde in gewissem Sinne durch Mutterrecht regiert; was dieselben Richter für die normale Erbfolge keineswegs akzeptiert hätten - da regierte weitgehend "Vaterrecht". In den meisten der Sklavereigesellschaften war es explizit verboten, eine Vaterschaftsklage anzustrengen. So schützten sich die Herren oder Verwalter vor den Erbansprüchen der Kinder, die sie mit Sklavinnen gezeugt hatten. Obwohl nur die wenigsten Sklaven oder ehemaligen Sklaven lesen und schreiben konnten, wussten sie doch um die Macht der schriftlichen Fixierung von Rechten und Ansprüchen. Oft delegierten sie letztere an Vertraute oder Freunde. Damit hatten sie potenziell Zugang nicht nur zum Recht selbst, sondern auch zur Gutenberg-Galaxis westlicher Kultur. Mit der atlantischen Sklaverei entstand der Rassismus. Rassismus ist die mächtigste Ideologieformation der westlichen Kultur, um "Außenseiter" und "Andere" als solche erkennbar zu machen und sie aus dem ‘normalenÂ’ sozialen und politischen Leben auszugrenzen. Auch die Ideologie des Rassismus kennt Stufen weltgeschichtlicher Entwicklung. Von 1450 bis um 1750 wurde der christliche, vor allem katholische Universalismus als Legitimierung der Sklaverei nach dem Motto "wir retten die armen Heiden" genutzt. Um 1770-1800 entstand zusammen mit den wichtigsten philosophischen Theorien des Westens (Kant u.a.) ein neuer "wissenschaftlicher" und anthropologischer Rassismus, der in seinen praktischen Anwendungen darauf hinauslief, afrikanische Menschen ökonomisch zwar auszubeuten, sie aber bewusst als "Andere" zu stigmatisieren.

Verhextes Land

Afrikanische Menschen, die als SklavInnen nach Amerika kamen, hatten zunächst nichts als das nackte Leben und ihre Erinnerungen. Antonio Pérez war mit fünfzehn Jahren aus Afrika verschleppt worden. In den Plantagengesellschaften wurden sie als "bossale" oder "bozales" verhöhnt - Aufseher, Herren und einfache Menschen fürchteten sie als "schwarze Barbaren" und halbe Tiere. Obwohl bis 1850 mehr afrikanische Menschen als europäische "Auswanderer" nach Amerika gekommen waren, hatten frisch verschleppte Sklaven keinerlei durch sie definierte oder gar kontrollierte Räume, weder Staat, noch Region, noch Land; die Plantagen waren durch Zaun, Gewalt und Herren-Eigentumsrechte definierte Territorien, die auch noch vom Staat geschützt wurden. Oft aber gab es in den Sklavenreligionen die kulturelle Gegengewalt der Voudou-, Santería oder Mayombe-Priester, die die Plantagen "verhexten" (für Weiße natürlich) und damit punktuelle Gegenterritorien schufen. Erst wenn Sklaven, Sklavinnen und ehemalige Sklaven als Akteure ernst genommen werden, sind ihre vielfältigen Kulturen, Religionen, Netzwerke und ihre eigenen Territorialdefinitionen sichtbar. Viele freigelassene Sklaven und vor allem Sklavinnen, kauften als erstes ein eigenes Stück Garten und eine kleine Hütte. Antonio Pérez hat das möglicherweise auch getan. Er schuf sich mit dem schriftlich fixierten Notariatsprotokoll aber auch ein "Land der Erinnerung", sozusagen das "Afrika" seiner Familie. Und er brachte seine Eltern und damit seine eigene "afrikanische" Genealogie in das Schriftstück ein. Ob damit eine Art kultureller Protest gegen die speziellen Formen des Rassismus nach Aufhebung der Sklaverei verbunden war, sei dahingestellt. Ob sich die Führer der Voudou-Zeremonie von Bois-Caïman, die streikenden Sklaven der Zuckerplantage "Regla" in Kuba und der Moreno Antonio Pérez bewusst waren, dass sie einer Gruppe oder "Klasse" angehörten, kann angenommen werden - das zumindest hatte die Exklusionsideologie des Rassismus bewirkt. Welche wichtige Rolle ihre Arbeit und die der etwa 10 bis 12 Millionen lebend in Amerika angelangten Menschen aus Afrika und ihrer Nachkommen für die Entwicklung des Westens wirklich bedeutet hat, wurde seit Entstehung der historischen Wissenschaften erst langsam deutlich, obwohl die zu Sklaven degradierten Menschen natürlich immer gegen die Sklaverei rebelliert haben. Im 17. Jahrhundert hatten vor allem schwarze Eliten selbst, Jesuiten, Kapuziner und Dominikaner gegen die schlechte Behandlung der Menschen (und gegen die "lebenslange" Dauer der Sklaverei) aus Afrika protestiert. Die europäischen Aufklärer übten intellektuelle und religiöse Kritik an der Verletzung natürlicher Rechte aller Menschen, aber sie nutzten die "Anderen" als Symbol, um die Ungleichheit in Europa anzuklagen. Es waren erst die entstehenden historischen Wissenschaften und die politische Ökonomie des 19. Jahrhunderts, die das Thema "Sklaverei und Kapitalismus" (und, cum grano salis, "Sklaven und Globalisierungen") auf das Tapet brachten. Zunächst sind es die großen historistischen Essays Alexander von Humboldts gewesen, die wirklich die Sklaverei anprangerten (vor allem der "Essay über die Insel Kuba"). Humboldt wies um 1825 auch als einer der Ersten darauf hin, dass nach der Revolution von Saint-Domingue "Haiti (...) (das) Reich der Äthiopier" werden würde; durch das demographische Gewicht der Sklaven und ihrer Nachkommen würde in der Karibik möglicherweise eine "Afrikanische(n) Konföderation der Freien Staaten der Antillen" entstehen. Englische Kolonialtheoretiker, Marx mit seiner Theorie der "ursprünglichen Akkumulation" und Eric Williams schließlich stießen eine Debatte um den Zusammenhang zwischen Arbeit der Sklaven und Entstehung des Industriekapitalismus in Großbritannien an, die bis heute anhält. Dabei zeichnen sich zwei gegensätzliche Grundpositionen ab: eine eher funktionalistisch-quantitative (Fogel, OÂ’Brien, Eltis u.a.) und eine strukturalistisch-qualitativ-kulturelle Position (Blackburn, Seymour, Inikori, Gilroy u.a.); wobei die Fronten so deutlich natürlich nicht verlaufen. Die erste Position rekurriert vor allem darauf, dass die direkten (und nachweisbaren) Investitionen des Sklavereisektors in die entstehenden britische Industrie gering waren (unter fünf Prozent) und dass andere Sklavenhandels- und Sklavereimächte (Portugal, Niederlande, Frankreich und auch Spanien und USA, die beide entweder nur einen äußerst eingeschränkten bzw. illegalen Sklavenhandel aufwiesen) keinen direkten Durchbruch zum Industriekapitalismus mit freier Arbeit schafften. Die andere Richtung verweist darauf, dass Sklavenhandel, Sklaverei und europäisch dominierte Wellen der Globalisierung eine gigantische Weltwirtschaftskultur geschaffen hätten, aus deren Dynamik eben in Großbritannien, das zudem noch die wichtigsten Gewinne dieser atlantischen Kultur in Finanzanstalten (Banken-, Kredit-, Steuer-, Staatsschuldensystem) sowie einem internationalen System institutionalisiert hatte, der Durchbruch zum klassischen Industriekapitalismus gelang. Sklaven als "Königsware" (Austausch, forcierte Migration), Akkumulationsposten (Kauf-Verkauf) und Arbeitskräfte (sowie Konsumenten) in den wirklich boomenden Stadt-/Dienstleistungswirtschaften der großen Häfen des Atlantik und in den Plantagensklavereien bildeten die soziale Grundlage verschiedener imperialer Systeme - angefangen vom "portugiesischen" Weltreich über das "Goldene Zeitalter der Niederlande" und "la plus riche partie de lÂ’Empire français" (Saint-Domingue) bis zum britischen Empire. Mittlerweile wird auch immer deutlicher, dass Sklaven die Kultur, das Rechtswesen und viele andere Bereiche stark beeinflusst haben. In den vierhundert Jahren atlantischer Sklaverei (1440-1888) ist eine afrikanische Diaspora auf dem Globus entstanden, deren "westliche" und "amerikanische" Dimensionen wir erst gerade ahnen, während wir hinsichtlich der Dimensionen afrikanischer Diaspora im islamischen (osmanischen), indischen oder südostasiatischen Bereich noch ganz am Anfang stehen (zumal der Sklavenhandel dort schon weit früher einsetzte), ebenso wie bei Forschungen über regionale Sklavereien. Mittlerweilen ist die Debatte um neue Formen der Weltgeschichtsschreibung und der Globalgeschichte verbunden mit Forschungen zur "Neuen Sklaverei" in unserer Stufe der Globalisierung. Kevin Bales kommt auf mindestens 27 Millionen Menschen, die heute unter Sklavereibedingungen (im Sinne von "mit Gewalt erzwungener Arbeit") leben, weniger vorsichtige Autoren sprechen von 250 Millionen Menschen. Auch wenn wir es in Mitteleuropa wegen der vorherrschenden Medienkultur kaum zur Kenntnis nehmen: der Zusammenhang zwischen Sklaverei, Globalisierungen und Weltgeschichte existiert auch in der Gegenwart. Wir leben in der Geschichte. Michael Zeuske ist Professor für Iberische und Lateinamerikanische Geschichte an der Universität Köln. Zuletzt erschienen von ihm: Schwarze Karibik. Sklaven, Sklavereikulturen und Emanzipation. Zürich, Rotpunktverlag, 2004, und: Kulturgeschichte der Sklaven und der atlantischen Sklaverei 1400-1940. Lit-Verlag, 2004. Literaturangaben sowie zahlreiche Verweise und Fußnoten, die hier den Kürzungen zum Opfer fielen, sind in der Internet-Version des Textes zu finden: www.iz3w.org

Paul Gilroys Black Atlantic

Für den britischen Soziologen Paul Gilroy steht der Atlantik, der Ozean, für einen negativen Kontinent, der es ermöglicht, soziale, historische und kulturelle Verbindungslinien zwischen den Amerikas, Afrika und West-Europa aufzuspüren. "Black Atlantic" 1 beschreibt keine eindeutig abzugrenzende Region oder eine bestimmte Periode, sondern einen mehrdimensionalen Raum, der mehr durch Bewegung und Vernetzung als durch feste Orte bestimmt ist. Hintergrund ist die Middle Passage, die Verschleppung und Verschiffung von Sklaven aus Afrika in die "Neue Welt". Paul Gilroy, der den Begriff "Black Atlantic" prägte, hat nun mit dem Berliner Haus der Kulturen der Welt ein gleichnamiges Projekt entwickelt, das u.a. zum Ziel hat, gängige Ideen von Moderne zu hinterfragen und eine "Gegen-Geschichte" zur westlichen Geschichtsschreibung zu entwerfen2. Wie etwa steht es um die "Modernität" von Institutionen wie dem Sklavengefängnis und der Plantage? Es geht von der These aus, dass zentrale Konflikte der Moderne auf den Sklavenhandel und den Anfang der kolonialen Ausbreitung Europas zurückzuführen sind. Deutsche koloniale Geschichte spielt eine zentrale Rolle in der Entwicklung des Projekts, ebenso wie die Geschichte schwarzer Präsenz in Deutschland und in Berlin3. Strukturiert wird "Black Atlantic" durch drei thematisch konzipierte "Akademien", in denen jeweils eine Kunstform die führende Rolle übernimmt und zugleich gespiegelt wird in anderen Formen, seien es Filme, Diskussionen, Lesungen oder Konzerte. Auch wenn sie von großer Bedeutung sind, stellen etwa geschriebene Texte nicht den beherrschenden Motor der wandernden Kulturen des Black Atlantic dar: Das geschriebene Wort war den schwarzen Sklaven lange Zeit auf Todesstrafe verboten, weshalb musikalischer Ausdruck eine zentrale Stellung erlangte.

Anmerkungen:

1 Paul Gilroy: The Black Atlantik. Modernity and Double Conciousness. Verso, London und New York, 1993. Vgl. iz3w 228. 2 Black Atlantic. Travelling Cultures, Counter-Histories and Networked Identities. 16.9.-14.11.2004, Haus der Kulturen der Welt, John-Foster-Dulles-Allee 10, 10557 Berlin, Tel. 030-397870, www.hkw.de 3 Vgl. iz3w 275 und 276, Deutscher Kolonialismus I und II Dieser Text erscheint in der Zeitschrift zwischen Nord und Süd - iz3w, Doppelnummer 278-279, (August-September 2004)